Dienstag, 13. Juni 2023
In der Warteschleife

Wenn Sie sich fragen, was so unterschiedliche Zweibeiner-Innen wie Handwerker, Geliebte oder Freunde, Vorge-setzte aller Art, Schalterbeamte, VerlegerInnen, Ärzte, Rockstars, ja selbst gewissse schlecht erzogene Vierbeiner-Innen, nämlich Hunde, durchweg besonders glücklich macht, stoßen Sie auf die Vorliebe, auf sich warten zu lassen. Das zeigt den Umworbenen, man ist auf sie angewiesen. Das erhebt sie nicht selten zu beträchtlichem Machtgefühl. Manchen ist es geradezu eine Lust, andere auf die Folter zu spannen oder bis zur Weißglut zu reizen, indem sie sie in der berühmten Warteschleife hängen lassen, bis sie sich womöglich erdrosselt haben. Ein klarer Fall von Selbstmord. Das Opfer ist selber schuld. Es konnte nicht genügend Geduld aufbringen. Es hätte mich deshalb nicht verblüfft, wenn der ukrainische Snookerspieler Iulian Boiko bei einem Ende Mai ausgetragenen Qualifikations-match den Schiedsrichter um eine Prise Zyankali für sein unverzichtbares Mineralwasser gebeten hätte. Boikos Gegner war der Brite Oliver Sykes. Dieser junge, sogar schlanke Mann ist, wie Boiko, noch keine 18 Jahre alt, doch er wandelt oder schleicht wie ein Greis um den Snookertisch, verzieht nie eine Miene und läßt sich nach gelegentlichen Fehlstößen in Zeitlupe auf seinem Wartestuhl nieder. Ich sah ein Video der Begegnung. Sykes Schlafwandlertum wirkt ungemein aufreizend – und ich nehme stark an, genau das ist der Zweck der Übung. Der Gegner kocht, wird immer nervöser und macht prompt die Fehler, die sich Boiko auch leistete. An seiner Stelle hätte ich Sykes irgendwann meinen Billardstock um die Ohren gehauen. Allerdings sind die Queues der Spitzenspieler-Innen sündhaft teuer. Bei der letzten, nicht so leichten Schwarzen, die das Match entschied, blieb Boiko immerhin kaltblütig: er versenkte sie.

Dummerweise ertappe ich mich bei dem genannten Unvermögen, mehr Geduld aufzubringen, auch in vergleichsweise unwichtigen Angelegenheiten. Online-Antiquariat Bücherfraß läßt mich Tag für Tag schmoren. Das Feuer im Ofen prasselt nach 10 Minuten immer noch nicht, weil die Sonne auf den Kamin drückt. Also fluche ich wie ein Schornsteinfeger. Der Baumarkt-Mitarbeiter, den ich nach Spannschlössern fragte, scheint hinter der nächsten Regalecke auf ein Schaumstofflager gesunken zu sein, um ein Mittagsschläfchen zu halten. Dabei kann ich mich selber, als Rentner, eigentlich nicht mehr über Zeitmangel oder Arbeitshetze beklagen. Allerdings kam ich 1950 nicht gleich als Rentner auf die Welt. Es hieß zunächst einmal, die Kindheit zu durchlaufen, oder besser gesagt: durchzusitzen. Ein Kind kann alles – bildet es sich jedenfalls ein – nur warten kann es nicht. Es ist das ungeduldigste und selbstsüchtigste Wesen auf dem ganzen Planeten. Alles soll sofort geschehen, und zwar nach seinem Willen.

Merkwürdigerweise gestaltet sich mein eigenes Warten, im ganzen genommen, durchaus widersprüchlich, obwohl ich meist als Schwarzseher verunglimpft werde. Statt übler Befürchtungen kann mir das Warten genauso köstliche Blütenträume bereiten. Oft im selben Fall sogar im Wechselbad! Wird sich die Lektorin durch meinen Eindruck, sie reihe sich etwas leichtfertig in die weltumspannende Anti-Kohlenstoff-Querfront ein, beleidigt fühlen, oder wird sie sich ohne Zögern auf mein Blog-Register stürzen, Stichwort »Klima«, und mir später in aller Form für die Stillung ihrer Wißbegierde danken? Man kann es nicht wissen. Aber warten muß man. So schlurft oder schwebt der Mensch sein Leben lang zwischen Hoffen und Bangen dahin. Allerdings lebt er vielleicht gar nicht so lang. Jedenfalls findet der Aufruf zu mehr Geduld und Nachsicht im Falle der schon gestreiften RentnerInnen mit jedem Monat engere Grenzen. Dank Corona oder Straßenverkehr, womöglich auch nur bohrendem Klassenhaß zu Asche oder Erde geworden, nutzen ihnen gnädige Erhörungen, die »ewig« unterwegs gewesen sind, kein Komma mehr.

Vor rund 300 Jahren war der preußische Gelehrte Christian Wolff zumindest zeitweise durchaus populär. Laut Egon Friedell* wußte der Mann sogar, von welcher Hauptabsicht Gott dereinst zur Erschaffung der Welt bewogen worden war. Und zwar wünschte Gott, endlich erkannt und verehrt zu werden, und dazu benötigte er eben Giraffen, Affen und vor allem uns Menschen. Natürlich fanden sich später Psychologen, die Wolff & Konsorten eine astreine »Projektion« unterstellten. Aber ich selber weiß es jetzt besser. Gott muß damals, bevor es uns gab, entsetzlich unter Langweile gelitten haben. Schließlich hielt er das Warten auf irgendetwas Sinnreiches oder wenigstens Kurzweiliges nicht mehr aus, krempelte seine Ärmel auf und legte mit dem los, was wir lange Zeit Schöpfung nannten. Dann kamen Einstein & Konsorten und nannten es Urknall. So oder so, die Sache dauert bis heute an, und Gott der Allmächtige hat seine helle Freude an unserem Treiben, vor allem an dem von Annalena Baerbock.

Ich habe wiederholt die Geduld erwähnt, dabei schon ihre Zweischneidigkeit angedeutet. Bei Geduld denkt man fast unweigerlich auch an Duldsamkeit. In Mecklenburg kannte ich einmal eine Freakfrau, die einer »spirituell« gestimmten Trommelgruppe angehörte. Sie trommelte für ihr Leben gern, und an bestimmten Festtagen selbstverständlich mit dem ganzen Verein. Ansonsten trainierte sie viel, für die Festtage. Zwar hämmerte ich mir ein, jeder müsse nach seiner Fasson selig werden dürfen, doch die Bedingungen für meine Schulung in Toleranz waren in diesem Fall recht hart, weil die Frau einen Bauwagen bewohnte, der zu der Landkommune gehörte, in der auch ich zu jener Zeit lebte. So mauserten sich jene Festtage für mich zu Foltertagen. Ich versuchte mich damals schon nebenbei als Schriftsteller – und nun verfassen Sie einmal ein Feuilleton über die zart von den Buchen tropfenden Dühs des Waldlaubsängers, wenn es 70 Meter weiter unablässig wumm-wumm macht.

Wer sich wirklich konsequent auf die Bodenlosigkeit der Tugendlehre einlassen wollte, wäre rasch so verrückt wie manche Leute, die Tag und Nacht trommeln. Zum Beispiel verdammt Reformist X. Leute, die ihr Vergnügen darin finden, schlafende Stadt- oder LandstreicherInnen anzuzünden. Gängelt und erniedrigt aber ein biederer Vater seine Tochter durch Jahre hinweg, bis sie, vielleicht mit 28, an Krebs gestorben oder in den Fluß gegangen ist, findet X. nichts dabei. Genauer gesagt, es fällt ihm gar nicht auf, weil für ihn nur die »rohe« Gewalt zählt. Sogenannte Sanktionen übergeht er. Für Ketten von Nadelstichen hat er keine Augen.

In vielen Kommunen wurde damals die sogenannte Gewaltfreie Kommunikation (GfK) nach Marshall Rosenberg hochgehalten. Sie beinhaltet unter anderem, bei Gesprächen über »Störungen« dürfen kein Vorwürfe ausgeteilt werden. Man soll lediglich von sich selber sprechen, nämlich davon, wie man unter einem Verhalten (oder einer Unterlassung) leidet. Auf diese Art werde man Verständnis und vielleicht Rücksicht finden. Vielleicht! Denn die Frage, warum die Freakfrau wie eine Besessene trommeln muß, darf ja nicht erörtert werden. Hat sie also keine Lust, die Trommel an den Nagel zu hängen, trommelt sie noch im Sarg. Keiner darf von ihr verlangen sich zu ändern. Ihr Wille ist ihr Himmelreich. Bringen Sie aber um Gottes Willen nicht ihre Kindheit ins Spiel.

Die widerrechtliche Erkundigung eines anderen Kommunarden, warum ich eigentlich immer wie ein Besessener in die Schreibmaschine hackte, konnte natürlich nicht ausbleiben. Er stieß sich keineswegs an dem Lärm. Vielmehr sei es doch vielleicht fürs Gemeinwohl nützlicher, überschüssige Energie in den Küchendienst oder in den Heizkeller zu stecken, meinte er bissig. Ich polterte zurück, das Gemeinwohl wolle ich gar nicht bemühen; ich schriebe hauptsächlich um der eigenen Klärung willen. Aber wenn schon, möge er mir einmal verraten, wo geschrieben stünde, Küchenherde und Heizbrenner seien für die Glückseligkeit der Menschheit unabdingbarer als Schreibmaschinen. Marlen Haushofer, eine Försterstochter, habe sich bereits als kleines Mädchen gewundert, daß die Gedankenwelt ihrer Mama fast ausschließlich ums Kochen und die Verschönerung des Heimes kreiste. Sie selber empfand Essen als langweilig und zeitraubend. Sie verschlang lieber Bücher, zauberte interessante Leute herbei oder verzauberte die sie umgebenden Nervensägen und führte mit Stöcken heldenhafte Kämpfe gegen Brennesselhaine. In der Tat kenne ja keiner die angebliche Bestimmung des Menschen, verkündete ich dem Kommunarden. Jawohl, das sei mein Ernst. Für mich sei eben das Schreiben besonders wichtig.

Zum Glück hörte uns die Trommlerin nicht zu.

* Kulturgeschichte der Neuzeit, um 1930, hier einbändige Sonder-ausgabe München 1974, S. 596
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