Mittwoch, 1. März 2023
73

… werde ich in diesem März. Ich bin »Widder«. In dem gähnenden Loch, das sich nach dem Abschluß meiner Nasen der Weltgeschichte vor mir auftat, beschäftige ich mich, sofern ich nicht die Dachrinne zu säubern oder zwecks Ölens ein Türschloß auszubauen habe, hauptsächlich mit Bücherlesen, Mieser-Zellen-Produktion, Brennholzmachen und Radfahren. Decken sich die beiden letzten Programmpunkte mit der bekannten Empfehlung, öfter in die Sonne zu gehen, wegen Vitamin-D-Mangel, umso besser. Scheint keine Sonne, hilft Fluchen.

Beim Radfahren begegnet mir zuweilen ein alter Mitbürger, der eher an einen nukleargetriebenen Papagei erinnert, sobald er an mir vorbeischießt. Es heißt, er sei bereits über 80. Das weiße Haar unter dem Schutzhelm versteckt, die Arme wie ein Catcher am zweimal schulterbreiten Lenker seines Kampfrades gekrümmt, kann er die Wiesen und Wälder durch seine zeitgemäß windschnittige, grelle Sportkluft nur beschämen. Mein eigenes Kopfhaar ist zur Stunde noch braun. Dergleichen dürfte sich freilich mehr dem Zufall als dem Trainingsfleiß verdanken. Es soll an den Genen liegen. Möglicherweise ist es aber mein Verdienst, wenn ich inzwischen nicht mehr ganz so ungeduldig und aufbrausend wie mit 27 bin. Jedenfalls möchte ich klarstellen, ein Klacks sind 73 Jahre nun auch wieder nicht. Sehen wir einmal von meinen speziellen Freunden, den Frühverstorbenen (unter 40) völlig ab, bleiben immer noch eine Menge Zeitgenossen, die es keineswegs auf 73 gebracht haben. Mein hiesiger Zahnarzt Lutz Scheer, ein humorvoller und toleranter Hüne, erlag 2010 mit 54 Jahren der Leukämie. Schriftsteller Thomas Bernhard wurde 58. Aber der ist vielleicht zu bekannt. Nehmen wir stattdessen Kurt Held, den ich kürzlich wegen seiner Roten Zora vorgestellt habe. An seiner Stelle wäre ich schon 11 Jahre lang tot, starb er doch (1959) bereits mit 62 Jahren.

Auf die Gefahr hin, Sie zu langweilen, führe ich, aus dem Stegreif, weitere Künstlerkollegen an. Der Berliner Maler Alexander Kanoldt erlag mit 57 (1939) angeblich einem Herzleiden. Jazzrock- und Cartoonstar Volker Kriegel schaffte 59. Die Wortakrobaten Wolfgang Neuss (65) und Robert Gernhardt (68) wurden auch nicht viel älter. Ein anderer hochkarätiger Musiker überbot Kriegel um schlappe sechs Jahre: Willem Breuker (gesprochen Bröker) aus Holland. Laut englischer Wikipedia (die sich auf die New York Times stützt) verendete der 65 Jahre alte ausgefuchste »Musikclown« am 23. Juli 2010 an Lungenkrebs. Er war auch als Komponist und Arrangeur saustark. Ich besitze etliche CDs von ihm beziehungsweise seiner Truppe. Notfalls tut es auch das Internet. Hier ein Mitschnitt von 2000. Damals waren dem schwer arbeitenden, untersetzten und vierschrötigen Mann in dem weißgetüpfelten blauen Hemd noch rund 10 Jahre beschieden, was er natürlich nicht wußte. In einem historischen Film über Till Eulenspiegel könnte er sicherlich auch als Bierkutscher mit Bimmel überzeugen, doch in dieser mitreißenden Fassung des Mandelay Songs spielt er seine Lieblingströte, das Sopransaxofon. Kaum zu glauben, daß solche Pranken wie brünftige Siebenschläfer über die Klappen flitzen. Der Mandelay Song stammt aus Elisabeth Hauptmanns Heilsarmee- und Gangster-Komödie Happy End von 1929, zu der damals Kurt Weill und Bertolt Brecht die Musik und die Liedtexte lieferten. Für Breuker waren die letzten Lebenswochen vermutlich weniger happy.

Nicht, daß ich nicht schon gewisse Erfahrungen mit dem Blick ins Nichts gesammelt hätte. Während ich mich um 2015 mit Unfallopfern befaßte, fiel mir zu meinem Entsetzen eine Autofahrt von Bochum nach Neunkirchen / Saar ein, die ich anscheinend lange erfolgreich »verdrängt« hatte. Ich wollte um 1973 Möbel mit einem Mietwagen in den maoistischen »Landesverband« an der Saar befördern, den wir damals aufbauen sollten. Ich war völlig übernächtigt losgefahren, und spätestens im Sauerland drohten mir ein ums andere Mal die Augen zuzufallen. Ich schreckte wiederholt auf, ohne bereits in der Leitplanke oder auf einem anderen »Verkehrsteil-nehmer« zu hängen. Glauben Sie aber nicht, der 23jährige Stoffel am Möbelwagenlenkrad hätte mal irgendwo geparkt, um sich Wasser ins Gesicht zu schütten oder gar zwei Stündchen zu schlafen. Die Weltrevolution war dringender. Später, beim Erinnern, war ich immerhin heilfroh, daß ich damals meine Gattin und Genossin C. nicht im Wagen hatte. Sie kam mit dem Zug nach.

Um 1992 wohnte ich zeitweise in Kassel-Wilhelmshöhe am Rammelsberg, übrigens in dem schönen Eckgebäude, in dem derzeit eigentlich noch Nele Schurznagel residieren müßte. Unweit des Anthroposophischen Zentrums in der Wilhelmshöher Allee gab es damals ein Reformhaus. Ich suchte es öfter auf, vor allem wegen Schwarzbrot und Salbeitee. Einmal war das betreffende Gebäude zwecks Dacherneuerung eingerüstet. Als ich den Laden verließ und durch das Gerüst tauchte, prallte einen halben Meter vor mir ein schweres Ding auf die Zuwegplatten. Ich zuckte zusammen, runzelte die Stirn, ging in die Hocke und besah mir das Ding. Es war eine Art Muschel aus Eisen, ungefähr faustgroß, aus der ein Stück eingekreideten Bindfadens hing. Aha, dachte ich, wohl eine Schlagschnur, wie sie die Dachdecker zum Anzeichnen benutzen. Ich war ja lediglich Raumausstatter, kaum mehr als ein Innendekorateur. Ich erhob mich wieder und blickte am Gerüst empor. Da stand auch schon ein Kollege in Höhe des vierten Stockwerks und sah mir etwas betreten ins Gesicht. »Kommt noch was nach?« rief ich. Er stammelte, das Ding sei ihm wohl aus der Hosentasche gerutscht. Ich grüßte mit einer Hand und entfernte mich. Der Schrecken holte mich erst in der Langen Straße ein. Wenige Sekunden früher aus dem Laden getreten, hätte ich möglicherweise einen kleinen Bombentrichter in der Schädeldecke gehabt.

2003 fiel ich in der hiesigen, an der Straßenbahn-Wendeschleife gelegenen Puppenfabrik, die wir gerade ausbauten, von einer fahrlässig wackelnden gegrätschten Stehleiter und brach mir lediglich die linke Hand (mit Gruß an meine Gitarre). Ich ging wenige Zentimeter neben einem Stapel Rigipsplatten nieder, an dessen Kante ich mir durchaus das Genick hätte brechen können. Dann hätte es sich erübrigt, der Kasseler Handwerkskammer reuevoll meinen Gesellenbrief zurückzuerstatten. Von solchen Kraßheiten einmal abgesehen, scheint die Unfallgefahr mit dem Altern ungefähr in dem Maße zu wachsen, wie die eigene Körpergröße schrumpft. Von meinen angeblichen 1,77 um 30 bin ich inzwischen schon meilenweit entfernt. Gleichgewichtsstörungen melden sich zunehmend. Ein Sturz mit dem Fahrrad bei Regenglätte ging neulich glimpflich mit Blauen Flecken ab. Solche Vorfälle hätte es noch vor 10 Jahren nie bei mir gegeben. Kürzlich wollte ich an meinem Sägebock die rote Bügelsäge so elegant und zeitsparend von einer Hand in die andere werfen, wie ich es schon öfter geübt hatte. Prompt schlug sie mit dem Sägeblatt auf mein operiertes und wiederhergestelltes linkes Handgelenk auf. Das war nicht heftig, aber aus meinem Handballen quoll sofort Blut. Die geringfügige Wunde benötigte gut zwei Wochen, um sich leidlich zu schließen. Man sieht daran, im Alter sinkt nicht nur die Muskel-, sondern auch die Heilkraft. Wie sich versteht, hätte das Sägeblatt auch leicht meine Schlagader treffen können. Dadurch hätten sich viele Grübeleien über die günstigste Selbstmord-Methode als Zeitverschwendung herausgestellt. Aber die meisten MemoirenschreiberInnen lassen sich nicht darin beirren, solche »dummen« Gefahren und Zufälle kurzerhand auszusparen. Dann fällt es ihnen nämlich erstaunlich leicht, am Schluß ihres Werkes zu verkünden, alles in allem sei das Leben doch wunderbar.

Nebenbei bemerkt, wird mein Alltag von mehreren Zauberregeln oder -mitteln bestimmt, an die ich mich ziemlich eisern halte. • Die Sonne erwähnte ich bereits. • Viel Gymnastik in kleinen Raten. • Öfter Ingwerknolle ins Essen schnitzeln. Passen Sie aber auf, das Zeug ist scharf – zum Beispiel bei Augenkontakt. • Dito Zitrone, etwa in den Tee getröpfelt. • Ich kippe mir täglich einen halben Eierbecher voll eines bestimmten bitteren Kräuterlikörs hinter die Binde, den ich aus wettbewerbsrechtlichen Gründen natürlich nicht nennen darf. Alkoholanteil 32 Prozent. • Viele Verletzungen oder Verstimmungen werden von Olbas-Tropfen gelindert oder hinweggefegt. Das ist ein Minzöl. Als Spitzen-Arznei bei Magenbeschwerden muß allerdings ein Teelöffel feiner Heilerde von Luvos gelten. Gegen dies alles waren in jüngster Zeit sogar die schrecklichen Corona-Viren machtlos. Wie sich versteht, kann ich das nicht beweisen. Es sollte aber klar sein: ohne Glauben führt kein Weg ins Himmelreich.

Bislang hält sich meine Gebrechlich- und Trotteligkeit noch in erträglichen Grenzen. Am ärgerlichsten ist eigent-lich die auffallend zunehmende Gedächtnisschwäche. Sie scheint vornehmlich das Gegenwärtige zu betreffen. Da fragt man sich etwa vergeblich, ob man das Klofenster oder die Ofenklappe vor 20 Sekunden eigentlich geschlossen hat oder nicht. Somit bleibt einem nichts anderes übrig, als diese Verrichtungen ständig zu kontrollieren. Aber die Ermahnung zur Kontrolle vergißt man dann auch wieder … Für Schriftsteller steht damit natürlich ein Horrorgespenst im Raum. Denn was wäre ein Schriftsteller ohne Gedächtnis? Ein überaltertes Stück Pappelstamm wäre er, das man getrost mit der Kettensäge in Brennholz verwandeln kann.

Da erhebt sich freilich die Frage, ob sich einer oder eine »73 oder mehr« überhaupt wünschen sollte. Dabei habe ich den wichtigsten Gegengrund noch gar nicht angeführt. Es ist jene »Freudlosigkeit des Alters«, die auch mein geschätzter Brieffreund Maximilian Zander zuweilen beklagte. Er starb 2016 mit 87. Mir drückt sie schon heute ziemlich stark aufs Gemüt. Die Neugier scheint im Alter rasanter als die sogenannte Zeugungskraft nachzulassen. Das Essen hat mich bereits mit 50 nicht mehr brennend interessiert. In den jüngsten bleiernen Zeiten kann man sich noch nicht einmal mit auf der Straße verschenktem Lächeln oder Augenzwinkern behelfen, weil sich ja alle Welt hinter Gesundheitsmasken, Smartphones oder sowieso dem anderen versteckt. Wenn da noch einer zwinkert, sieht man ihn schon seine Flinte auf einen Impfmuffel anlegen. Zu den schönsten Freuden hat es früher immer gezählt, anderen eine Freude zu machen, ob per Tat oder Ding. Hornist Ed Rosenfield überrascht seine übel zerstochene spätere Adoptivtochter Julia, damals neun, nach einem Zahnarztbesuch in Casper, Wyoming, mit einem Moskitonetz. Da knutscht sie ihm prompt die gesunde Backe. So in Lashermink. Wer seit Jahren einsie-delt, hat es in dieser Hinsicht natürlich ungleich schwerer als der normale Familien- oder Kommunemensch.

Kürzlich schrieb mir ein jüngerer Brieffreund in ganz anderem Zusammenhang, es wäre vielleicht am besten, man gewöhnte sich Erwartungen oder Hoffnungen zielstrebig völlig ab, weil man sich dann auch nie mehr enttäuscht sähe. Ich glaube aber, für mich wäre das kein gutes Rezept. Ohne Hoffnung hätte ich nämlich gar keine Freude mehr. Denn in der Regel hofft man ja wohl auf Erfreuliches, und sei es nur die Ersparung von Rückenschmerzen, Katzenjammer oder beindicken vom Sturm abgerissenen Ästen, die über einem aufs Ziegeldach krachen. Durch die Hoffnung – etwa auf eine zufällige interessante Begegnung, ein paar anerkennende Gesten oder Worte, eine gelungene und sogar hier und dort in der Presse gelobte Auswahlplatte mit Musikstücken von mir – habe ich eine Freude, die mich nicht das Geringste kostet. Nur die Enttäuschung muß ich zahlen. Da hat der Brieffreund recht.
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