Donnerstag, 1. Dezember 2022
Nasen Anhang 25—34

A-25 Hitler-Stalin-Pakt (Um 2012, → O'Casey)

Er schlug »wie eine Bombe« ein. In der Tat, sieben Tage nach Unterzeichnung des Nichtangriffsvertrages zwischen Deutschland und der Sowjetunion überfällt die Wehr-macht Polen; die Rote Armee folgt auf den Fuß, nur von der anderen Seite her. Polen wird aufgerieben und zerschlagen. Die polnischen Juden dürfen ihr Testament machen.

Für abtrünnige Kommunisten wie Koestler, Regler, Münzenberg stellte der Pakt keine wirkliche Überraschung dar. Sie kannten die in allen Lagern nie verschmähte Sitte, bedenkenlos die BündnispartnerInnen zu wechseln, sofern es einem nur zum Vorteil gereicht, aus eigener Praxis. Moralische Maßstäbe lassen Parteistrategen nicht gelten. Lenin ging voran. Den Sozialisten Valentinoff rügte er auf einer Konferenz 1904 in Genf mit dem Ausruf, einem Revolutionär sei alles erlaubt, wenn es nur der Sache der revolutionären Bewegung und den Parteiaufgaben diene. Koestler weist in Der Yogi und der Kommissar darauf hin, daß Parteistrategen auch den moralischen Mißkredit ignorieren, den ihnen ihr knallhartes Mittel-zum-Zweck-Denken einträgt. Sie regieren auch gegen die Bevölkerung oder ohne Bevölkerung, falls die Sache es erfordert.

Doch ansonsten ließ der Hitler-Stalin-Pakt 1939 zahlreiche kommunistische Welten zusammenbrechen. Victor →Serge spricht sogar von einer völligen Demoralisierung der westlichen Arbeiterklassen. Wie konnte das Bollwerk des Antifaschismus mit dem faschistischen Erzfeind gemeinsame Sache machen? Wie werden aus Schurken über Nacht Kameraden, die man über den Klee lobt? Durch rasante Umfärbung. Ex-Kommunist Wolfgang Leonhard schildert dieses Verfahren sowohl in seiner Dokumentation über den Pakt von 1989 wie in seinem ungleich bekannteren Buch Die Revolution entläßt ihre Kinder von 1955 aus eigenem Erleben; selbst die Geschichtsbücher wurden umgeschrieben, auf daß sich Schwarz als Weiß und der Faschist als Bruder erweise. Übrigens hatte das Paktieren schon vorher begonnen. Deutsch-sowjetische Wirtschaftsverträge vom August versorgten die Nazis mit Rohstoff- und Nahrungsmittel-lieferungen im Wert von 180 Millionen Reichsmark, die zur Kriegsvorbereitung nicht ungelegen kamen. Nebenbei opferte Stalin nicht nur das souveräne Land Polen. Zunächst lieferte er aufgrund des Vertrages rund 1.000 Antifaschisten, die im Schoße der Weltrevolution Schutz gesucht hatten, an die Gestapo aus.* Das wird in der Literatur gern vernachlässigt. Zu diesen Opfern zählte beispielsweise Margarete Buber-Neumann, die im KZ Ravensbrück landete und nur knapp dem Tod entrann, wie sie in ihrem Buch Als Gefangene bei Stalin und Hitler (1947) berichtet. Nachdem Polen unterworfen und aufgeteilt war, machte sich die Rote Armee gemäß den geheimen »Zusatzprotokollen« des Vertrages über das Baltikum, die rumänischen Regionen Bessarabien und Nordbukowina sowie das finnische Karelien her.

Wie ihn Goebbels im Tagebuch als »genialen Schachzug« feiert, rühmt auch DDR-Funktionär Albert Norden den Pakt. Die Sowjetregierung habe »tausendmal recht« getan, auf diese Weise das Komplott der Westmächte zu vereiteln, den Krieg in die SU zu tragen. Atempause von eindreiviertel Jahren. Die verheerenden SU-Besetzungen in Ostpolen und Baltikum dienen der »Lebensrettung eines Großteils« der dortigen Menschen. So wird aus einem gekreuzigten ein erlöstes Volk, wenn man nur durch die richtige Brille blickt und keinen Zynismus scheut. Davon abgesehen versichert Leonhard, der damals in der SU zum Kader herangebildet wurde, das beliebte Zeitgewinn-Argument habe für zwei Jahre, bis Hitler (1941) zum Angriff gegen Moskau blies, nicht die geringste Rolle in der bolschewistischen Agitprop gespielt. Ja mehr noch, es habe von Moskau und damit der Komintern aus überhaupt keine nennenswerte Rechtfertigung des Paktes gegeben. Dieses »Meisterstück autoritärer Geheim-diplomatie«, wie die schweizer Kommunisten Clara und Paul Thalmann es nannten, wurde den lieben Vasallen kommentarlos jäh ins Maul gestopft, friß oder stirb, und entsprechend stürzten sie massenweise in die größte Erklärungsnot, zuweilen auch Gewissensqual. Dies wird bei Leonhard ausführlich dokumentiert.

Auch Milo Dor litt am Pakt. In seinen autobiografischen Fragmenten** spricht der 2005 in Wien verstorbene Schriftsteller von dem »Gewissenskonflikt«, in den ihn, den jungen damaligen serbischen Kommunisten, der Pakt »gestürzt« habe. Da hatte das »Bollwerk des Sozialismus und des Fortschritts ..(..).. mit der finstersten Macht Europas ein Abkommen getroffen, das Hitler ermöglichte, alle seine Nachbarn nacheinander anzugreifen und sie brutal zu unterjochen.« Nach diesem Schock, so Dor weiter, sei er »wochenlang regelrecht krank« gewesen. Allmählich habe er sich dann von der Argumentation älterer Genossen einwickeln lassen, die von einem genialen Schachzug des großen Stalin sprachen, der die Aggression von seinem Land abgewendet und die imperialistischen Großmächte stattdessen aufeinander gehetzt habe. »Sie sollten sich nur untereinander zerfleischen, um sich dann, geschwächt, für den Weg zu dem einzig wahren Sozialismus zu öffnen.« Von Polen und etlichen anderen Opfern einmal abgesehen, wurde freilich bald darauf, im Frühjahr 1941, Jugoslawien von der deutschen Wehrmacht zerfleischt. Noch standen jugoslawische Diplomaten mit der SU in aussichtsreicher Verhandlung um einen Freundschafts- und Beistandsvertrag, als unvermittelt Bomben auf Belgrad hagelten und die deutschen Truppen das ganze Land überfluteten. »Die mächtige Sowjetunion kümmerte sich einen Dreck darum, was Hitler tat, mit dem sie einen Nichtangriffspakt abgeschlossen hatte. Sie sah tatenlos zu, wie ihr neuer präsumtiver Verbündeter überrannt wurde. Sie schien nur um ihr eigenes Schicksal besorgt zu sein und ließ Hitler schalten und walten, wie es ihm beliebte, bis er zuletzt seine mörderische Militärmaschinerie gegen sie selbst richtete.«

Leonhard, der zeitweilige Mitstreiter Ulbrichts, behauptet im übrigen, der von Molotow und Ribbentrop unter-zeichnete Pakt habe sich mit keinem Wort um den Welt-frieden gesorgt, der ja damals für alle Internationalisten längst auf dem Spiel stand. Der Pakt stellte einen kurzfristigen Ausgleich der Interessen der Sowjetunion und des faschistischen Deutschlands her, mehr nicht. Du bekommst halb Polen und soundso viele Tonnen an Eisenerz oder Getreide, wir bekommen dafür die andere polnische Hälfte und das Baltikum. Damit war der Weltkrieg so gut wie garantiert, hatte Polen doch mit verschiedenen Westmächten Beistandsverträge. Wobei es der Pakt dem deutschen Faschismus günstigerweise gestattete, sich ungehindert gen Westen zu werfen, da ihn ja Moskau von Sorgen im Osten entband. Einen Zweifrontenkrieg hätte sich Hitler nicht leisten können. Was kümmerte Moskau das Heil von Brüssel, Rotterdam, Paris? Allerdings bemerkt Victor Serge in seinen Erinnerungen, selbst vom russischen Standpunkt aus sei der Pakt ein »idiotischer Verrat« gewesen – war doch klar abzusehen, »daß das Nazireich, siegreich in Europa und im Westen, sich früher oder später unvermeidlich mit seiner ganzen Macht gegen das isolierte und vor allen Demokratien kompromittierte Rußland wenden würde.« Finnland ist übrigens das einzige überfallene Land, das sich militärisch zur Wehr setzt, und zwar nicht schlecht. Es bringt die Rote Armee in arge Bedrängnis. Sieht man einmal davon ab, daß die Sowjetunion auch hier das Völkerrecht brach, könnte man ihren verlustreichen Streich noch immer als denkbar schlechtes Training für den drohenden Abwehrkampf gegen die Hitlerarmee auffassen. Derweil fiel Hitler im Westen unbekümmert in den Beneluxstaaten und in Frankreich ein, hielt ihm doch Väterchen Stalin, wie schon gesagt, den Rücken frei. Wer verschaffte also wem eine Atempause?

Aber es ist falsch, sich auch nur anflugweise aufs Abwägen taktischer Vorteile einzulassen. Man wird immer welche finden, die zur Rechtfertigung eines Kalküls dienen können. Im Kalkül gibt es immer kleinere und größere Zahlen – ganz wie die berüchtigten Übel. Einzelne Menschen oder deren Würde zählen erst ab 10.000. Das läßt sich berechnen. Dagegen wissen wir nicht, wie sich eine prinzipientreue und humane Haltung der russischen Kommunisten und all ihrer Vasallen auf die Weltlage ausgewirkt hätte. Ich könnte mir denken: ziemlich ermutigend für die Antifaschisten und heilsam für die zerrissene Welt. In diesem Fall hätte Stalin bereits darauf verzichtet, das republikanische Spanien (1936/37) für Waffenlieferungen, die das reinste Erpressungsmittel waren, um seinen Goldschatz zu erleichtern. Davon abgesehen, daß sie ohnehin nur an kommunistisch beherrschte Truppenteile weiter geleitet wurden, kamen die Waffen immer spärlicher; dann blieben sie aus.

Welchen beträchtlichen Anteil die moskauhörigen Kommunisten, darunter auch ein gewisser Walter Ulbricht, am Scheitern der spanischen Revolution hatten, geht aus einem 1997 veröffentlichten ausgezeichneten Aufsatz*** des Berliner Historikers und Journalisten Manfred Behrend hervor, gestorben 2006. Dieses Scheitern hatte auch in weltpolitischer Hinsicht üble Auswirkungen. Nicht der Überfall auf Polen, das Opfern des republikanischen Spaniens stellte den Auftakt zum Zweiten Weltkrieg dar. An diesem kaltblütigen Opfer hatten selbstverständlich, neben Faschismus und Bolschewismus, auch die lieben westlichen Demokratien mit ihrer heuchlerischen »Nichteinmischungspolitik« ihren Teil.

* So der Darmstädter Soziologe Helmut Dahmer in seinem Artikel »Der Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen«, Avanti Oktober 2009, hier bei: https://www.scharf-links.de/49.0.html?&tx_ttnews[cat]=27&tx_ttnews[tt_news]=7350&cHash=6519194f2e
** Auf dem falschen Dampfer, Wien 1988, S. 159 & 162
*** https://www.glasnost.de/autoren/behrend/spanien.html




A-26 Handfestes (2022, → Oestreich)

In der aufschlußreichen Broschüre Puppen und andere Spielwaren aus Waltershausen von 1986 hat mich ein Foto aus der hiesigen größten Puppenfabrik besonders belustigt. In dieser aus rotem Backstein gemauerten Fabrik hausen seit 2003 Kommunarden. Damals jedoch liefen dort noch die berühmten biggi-Puppen vom angeblich volkseigenen Band. Eine gutgepolsterte, wuschelköpfige Dame im geblümten Kittel zieht ein Schmollmündchen, während sie aus ihren Kulleraugen den gleichfalls dunkelhaarigen Puppenkopf begutachtet, den sie in Händen hält. Ein Bewunderer textet: »Die Meisterin vom Montageband – sieht sie nicht wie ihre Puppen aus?«

Ja, das könnte bald unser aller Schicksal sein: zu Puppen zu mutieren. Aber ich will nicht gleich zu allgemein werden. Hoffentlich lebt die Meisterin nicht mehr, denn ich muß ihr zudem Wurstfinger bescheinigen. Dafür kann sie allerdings nichts. Zur Strafe hat der Zufall auch mich mit den falschen Händen ausgestattet. Das wäre also, nach der Stimme, schon wieder ein körperlicher Makel an mir. Jedenfalls passen meine Polstererpranken nicht gut zu dem ganzen Rest. Für KlavierspielerInnenhände würde ich meine Spanische Gitarre verkaufen. Aber sie sind selten. Bölls Hans Schnier – ein gitarrespielender Clown – bescheinigt Männerhänden allgemein die Beschaffenheit angeleimter Holzklötze. Zu allem Unglück sind Hände auch noch verteufelt schwer zu malen, wie sich bei jedem Rundgang in einer Gemäldegalerie überprüfen läßt. Das Wiener Kunsthistorische Museum hat zum Beispiel ein Porträt zu bieten, das der Niederländer Anthonis Mor 1549 anfertigte. Weit entfernt, Holzklötzen zu ähneln, hängen die Hände des dargestellten Herrn Antoine Perrenot de Granvelle an seinem schwarzen Rock herab wie plattgeklopfte Euter von Zwergziegen. Von solchen Witzfiguren mußten sich Mor und Kollegen aushalten lassen! Besonders bedauernswert sein spanischer Kollege Bartolomé Esteban Murillo, der sein hübsches Gemälde Buben beim Würfelspiel verdarb, indem er die Buben mit Krallen statt Händen ausstattete. Das um 1670 geschaffene Werk hängt in der Münchener Alten Pinakothek. Angesichts dieser Mißgeburten an den Ausläufern unserer Arme verfuhr Welskopf-Henrichs Rose des Indianer-reservats Queenie King nur folgerichtig, wenn sie ihren zudringlichen angesoffenen Nachbarn Harold Booth mit dem Messer an ihre Hüttenwand nagelte: durch die Hand gestochen. Er hätte sie andernfalls vergewaltigt.

Um auch ein »positives« Beispiel, also eine gelungene Darstellung von Händen anzuführen, will ich ein Werk des schwedischen Malers und Kunstschriftstellers Sven Richard Bergh erwähnen, das mir in meinem Brockhaus (Band 3 von 1987, S. 120) aufgefallen ist. Das Gemälde von 1886 zeigt Die Frau des Künstlers – wohl Helena Maria Klemming (1863–89). Die Ärmste, so hübsch sie auch war, wäre also ebenfalls eine Kandidatin für mein inzwischen zurückgezogenes Lexikon der Frühverstorbenen gewesen. Auf dem Bild liegen ihre Hände, mit den Innenflächen nach oben, leicht gekreuzt auf ihrem Schoß, wohl im Rahmen einer Näharbeit. Ob ihr Bildner sie immer so gut behandelte, wie ihm ihre langfingrigen Hände gelangen, steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Wichtiger als dieses eine Gemälde ist allerdings der Vorzug von Händen überhaupt. Denn daran wird neuerdings kräftig gerüttelt. Mit der Ausrufung der jüngsten sogenannten Pandemie war das bekannte – und vor allem in der ehemaligen DDR beliebte – Händeschütteln plötzlich tabu. Das muß man sich einmal klarmachen! Durch Jahrtausende hinweg waren Hände ein auszeichnendes Instrument oder Symbol menschlichen Vermögens und Sichverbindens. Der »Handschlag« besiegelte sogar Verträge. Das »Handauflegen« heilte; zuweilen be- oder verzauberte es auch. In der Puppenfabrikkommune war es selbstverständlich, sich bei feierlichen Anlässen, im Kreise, bei den Händen zu halten. Durch die Hände verströmt und vermischt sich das Leben. Jetzt sollen wir aber tot sein.

Der letzte Satz ist vielleicht zu verwaschen. Gewiß wünschen uns die großen DrahtzieherInnen leblos wie Puppen oder Marionetten, aber das dient gerade der Abschaffung des Todes. Als Puppen, Computermäuse oder Schaltkreise sind wir unsterblich. Damit spiele ich auf den Zusammenhang mit weiteren Abschaffungen an, denen wir seit einigen Jahrzehnten beizuwohnen haben. Meines Erachtens ist er offensichtlich. Abgeschafft werden: die Nähe, das Herzliche, das Körperliche, der Raum, die Gestalt und dergleichen mehr. Alles, was sich nicht zeitlich, nämlich digital, erfassen und steuern läßt, wird abgeschafft. Diese Warnung, »Zeit frißt Raum!«, predige ich seit Jahren. Mit der Gestalt wird übrigens auch die Melodie abgeschafft, wie ich gewissen Musikern beiläufig bestätigen möchte. Nämlich: von ihnen.

Ich führe zum Abschluß noch ein anderes bedauerliches Opfer der Abschaffung des Raumes an. Es ließ sich einstmals fast so gut wie ein gediegenes Buch zur Hand nehmen. Sie erraten es? In meiner Jugend brauchte man nur eine gut gemachte, nicht zu großformatige und noch nicht mit scheunentorgroßen Bildern überladene gedruckte Zeitung aufzuschlagen – schon war der Raum, ja das Universum eröffnet. Da konnte man seine Blicke schweifen lassen und sich genießerisch für das eine oder das andere entscheiden. Versuchen Sie das einmal am Bildschirm! Sie scrollen und klicken und hüpfen wie ein Affe im Zoo. Sie steigern das Tempo, weil Sie ja sowieso keine Zeit haben. Aber gerade die uhrenhafte, absolut gleichförmige, lineare »Zeit« war es, die den gedruckten Zeitungsraum zerstörte. Der dreieinige Gott des Computers heißt Abfolge–Reihung–Durchgang. Den Glauben, auch in einer Internetzeitung könnten Sie noch verweilen oder in Vergangenes tauchen, werden Ihnen spätestens die Laufzeilen und Schilder über das gerade »Neuste« rauben, die den Bildschirm und Ihre Stirn unablässig mit Zecken spicken. Durch seine hartnäckige ständige »Aktualisierung« wird Ihnen der Webmaster der Internetzeitung das Denkvermögen aus dem Hirn saugen und Ihnen dafür das Gefühl einimpfen, alles sei gleichermaßen wichtig wie belanglos. Das ist die ideale Grundlage für das Mitwirken der Schafsköpfe zu Hause an der Politischen Willensbildung und den Staatsgeschäften. Es beläuft sich aufs Glotzen.



A-27 Eine schöne Ehe (20o5, → Oestreich)

Vor rund 100 Jahren kam der dritte Band von Meyers Großem Konversationslexikon heraus. Danach hat es im Jahr 1903 bereits mehrere Formen der Brotschneide-maschine oder auch des Brothobels gegeben. Rund 60 Jahre später strahlte meine selige Großmutter Helene wie eine Königin, weil sie aus den Händen ihres Gatten Heinrichs zum soundsovielten Hochzeitstag eine elektrisch betriebene Brotschneidemaschine empfing. Damit hatte sich das lästige Kurbeln erübrigt. Jetzt brauchte sie bloß noch die Scheibenstärke einzustellen – und schon sah ich die Brotscheiben für eine große Familie (mein Vater hatte dem Städtchen Gudensberg das erste Rundfunk- und Fernsehgeschäft gebracht!) geradezu auf den Küchentisch flutschen. Für Kasernen können aufgrund dieser Errungenschaft in Windeseile ganze geburtenschwache Jahrgänge aufgepäppelt werden, falls uns die Afghanen überfallen.

In meinen Bott-Erzählungen kommt öfter die bei Gudensberg gelegene anarchistische Landkommune Emsmühle vor. Dort würde man sich vergeblich nach irgendeiner Form der Brotschneidemaschine umsehen. Das Gerät wird verschmäht. Zum einen lebten Kommunarden nicht in Windeseile; zum anderen sei es ein realsozialistischer Irrglaube zu meinen, die Menschen seien gleich. Nicht nur ihre Kräfte und Begabungen, auch ihre Bedürfnisse sind verschieden. A. will daumendicke, B. hauchdünne Brotscheiben. C. bevorzugt ein Gefälle nach links, D. möchte Stufen, egal wohin. Doch mehr noch: In der Weise, wie er sich mit Hilfe eines Brotmessers eine Scheibe vom Brotlaib abschneide, verkörpere und offenbare sich die Eigenart eines Menschen. Unter Brotschneidemaschinen werde diese geopfert, wie bei Guillotinen.

Als gelernter Handwerker kann ich mich dieser Argumentation nur schwer verschließen. Ein Tapezierhammer wird so »subjektiv« wie eine Spitzhacke geführt. Halten wir uns auch Kommunarden oder Kommunardinnen vor Augen, die mit Spaten, Sense, Heugabel umgehen. Immer mischt sich die Eigenart des Handhabers in die uralte Aufgabe. Es kommt hier bestenfalls zu Ähnlichkeiten – nie zu Reproduktionen. Eben das ist jedoch bei Brotschneidemaschinen, Mähdreschern und Fabriken der Fall, die solche Geräte herstellen. Sie stoßen immer das Gleiche aus. Die maschinelle Produktion arbeitet exakt. Warum? Ersichtlich nur deshalb, weil ihr Normen zugrundeliegen. Sie normiert ihre Produkte und normiert damit die ganze Welt. Sie macht uns normal. Fällt einer aus der Norm, beispielsweise durch Selbststudium oder Fernseh-abstinenz, taugt er nichts. Das ist noch das mindeste! Vielleicht ist er sogar anormal oder abnorm.

Bekanntlich gingen die moderne Technik und die kapitalistische Warenproduktion vor rund 250 Jahren eine Ehe ein, die immer inniger wurde. Ich habe mich schon öfter nach dem Grund dieser großen Zuneigung gefragt. Hier drängt er sich endlich auf. Denn wie die Maschinerie auf Norm beruht, so auch die kapitalistische Waren-produktion. Ihr liegt der alles regelnde, freilich auch alles entsinnlichende Tauschwert zugrunde. Ohne den Tauschwert – der sich im Lauf der Jahrhunderte vom Warenkörper löst und dadurch zum Geld wird – wäre das moderne Marktgeschehen unmöglich. Das Geld – auf genormter Zeit beruhend – schert gerade so alle Dinge über einen Kamm, wie der Automat Schokoladenoster-hasen oder Tageszeitungen ausstößt. Im wesentlichen ist unsere, von Adam Smith gepriesene »Schöne Gesell-schaftsmaschine« nichts anderes als eine Stanze. Sie konnte nur einem gnadenlos quantitativen Denken entspringen.

Demnach handelt es sich bei der Ehe zwischen moderner Technik und kapitalistischer Warenproduktion um einen Männerbund. Darin herrschen Gewalt und Gleich-macherei. Deshalb dürfen jetzt auch Frauen Porsche fahren, »Arbeitsagenturen« leiten, Kriege führen. Darin herrschen Gleichgültigkeit, Perfektion – Leere. Denn nach Klaus D. Frank ist das Perfekte immer auch das Tote. Das Lebendige hat und erstrebt nie Perfektion. Es überrascht uns gern – und sei es durch Fehler. Es fällt aus der Norm.



A-28 Polstern (Um 2000, → Oestreich)

Gehen Sie alle Ihnen geläufigen Handwerksberufe durch, werden Sie darunter keinen finden, der dem menschlichen Körper so nahe kommt wie der Polsterer (oder die Polsterin). Seine Hände formen etwas – sie drücken und tasten, zupfen und schieben, kneten und ziehen; seine Hände liebkosen, schrecken aber auch vor Handkanten-schlägen nicht zurück. Er ist Schneider, Masseur, Chirurg in einem.

Legt er mitunter für eine echte »Heftung« Roßhaar auf einem Sesselrücken auf und verzupft dieses krause Haar zu prallen karoförmigen Kissen, fallen ihm in der Tat gewisse Doktorspiele ein, die sich auf Heuböden und Speichern zutrugen. Fingerspitzengefühl, Augenmaß und ein Gespür für Formen und Proportionen sollte er besitzen. Bärenkräfte wären auch nicht schlecht. Der Polsterer ist beinahe Bildhauer. Nur arbeitet er nicht am menschlichen Körper, sondern gleichsam an dessen Abdruck. Er sorgt massiv für angemessene Entsprechungen. Im Gegensatz zu unseren Kleidern und Anzügen, die im Grunde hohl sind oder Hohlheit verbrämen, handelt es sich bei unseren Polstermöbeln ebenfalls um Körper. Haben wir auf oder in diesen Möbeln Platz genommen, werden wir wohltuenden Widerstand spüren. Der Polsterer schuf ein auf uns zugeschnittenes Eigenleben.

Dabei wird seine Nähe zum Bildhauer bereits von dem Umstand angezeigt, daß beide das Objekt ihrer Begierde aufzubocken pflegen. So können sie es – statt auf Leitern herumzuturnen oder auf Knieen über Fußböden zu rutschen – mit bedächtigen Schritten umkreisen. Nur gelegentlich zieht sich der Polsterer einen Tritt herbei, um sein frischgarniertes oder weißbezogenes Sofa »durchzusitzen«. Ohne Chef im Nacken wäre das arg gefährlich. Denn mit dem Bildhauer muß der Polsterer zu den Küstern im Tempel der Ruhe gezählt werden. Ob Schuster, Landwirt, Ingenieur – sie alle wünschen uns auf Trab. Wir sollen möglichst viele Schuhsohlen und Kalorien verbrauchen. Der Polsterer dagegen lädt uns zu Beschaulichkeit, Muße, Schlaf ein.



A-29 Gute Dopamine zum bösen Spiel (2013, gekürzt 2022, → Oppolzer)

2008 machten Professor Samuel Wang und Chefredak-teurin Sandra Aamodt mit Welcome to your Brain viel Wind, es wurde gleich zum »Kultbuch« erhoben. Immer-hin ist die Arbeit der beiden NeurowissenschaftlerInnen aus den USA erheblich besser geschrieben als Detlef Linkes Das Gehirn von 1999. Sie hat sogar einen trockenen Witz, der von Koestler stammen könnte.

Allerdings sind beide Werke dem Positiven Denken verpflichtet. Aamodt/Wang empfehlen es ausdrücklich als Mittel zur Steigerung unseres Glücksgefühls. Der Zustand und das Wohlergehen der Gesellschaft interessiert sie nicht. Jeder ist seines Glückes Schmied, und sei es auf Kosten des Nachbarn oder einer indischen Turnschuh-näherin. Rühmen Aamodt/Wang die Dopamin-Neuronen, die maßgeblich am Erlernen von Verhaltensmustern beteiligt seien, die positive Ergebnisse nach sich ziehen, laden sie neben dem Egoismus zum Opportunismus ein. Zeige ich Dritten gegenüber das erwartete Wohlverhalten, springt mein Dopamin-Spiegel gleich um drei Grad, denn Wohlverhalten wird augenblicklich belohnt. Deshalb soll man auch die Zuteilungen annehmen, die uns »von oben« gewährt werden – von Gott, Vater Staat oder einem Chefredakteur. »Glück ist zu wollen, was man bekommt«, zitieren Aamodt/Wang einen Spruch aus unbekannter Quelle. X. bekommt Hartz IV, Wolf Biermann das Große Bundesverdienstkreuz am Bande, Israel den Gazastreifen. Das bedeutet nicht, die Hände in den Schoß zu legen. Beispielsweise empfiehlt das Duo ein Training unseres präfrontalen Kortex', weil es unter anderem unsere Willenskraft stärken könne. »Gehen Sie deshalb mit Fleiß an heikle Aufgaben, wie die, nett zu sein zu Leuten, die Sie nicht leiden können.« Lächeln Sie jeden an, der Sie schlechtzumachen, über den Tisch zu ziehen, auszubeuten gedenkt. »Womöglich hilft Ihnen das später, eine Diät durchzuhalten« – oder Abgeordnetendiäten einzustrei-chen. Heucheln Sie, ob bei Feinden oder Freunden.

Wer wollte herausbekommen, warum der eine Schriftsteller mehr zur Toleranz und Behutsamkeit, der andere dagegen zu Konsequenz und Polemik neigt? Gene sind nicht alles. Auch Aamodt/Wang versichern, unsere Disposition durch sie könne von allen möglichen Umweltfaktoren beeinflußt werden, darunter »natürlich« nicht zuletzt die Kinderstube. Aber wie sich diese »gebunkerten« Faktoren mit gegenwärtigen Einflüssen aus Amts- oder Redaktionsstuben mischen, nach welchen »Gesetzmäßigkeiten« also, weiß kein Schwein. Ähnlich undurchschaubar ist unsere Gehirntätigkeit selbst. »Kein Wissenschaftler hat bislang eine vollständige Computersimulation von der biochemischen und elektrischen Leistung jedes einzelnen Neurons zuwege gebracht – geschweige denn von der von 100 Milliarden Neuronen in einem echten Gehirn. Genau vorherzusagen, was ein ganzes Gehirn unternehmen wird, ist im Grunde unmöglich.« Damit sei in der Praxis eine funktionelle Definition von Freiheit und dem vieldiskutierten Freien Willen gegeben, folgern Aamodt/Wang. Aber sie greifen zu kurz wie fast alle WissenschaftlerInnen. Vielleicht sollte man besser von unserer Bedingtheit, nicht unserer Unfreiheit sprechen. Denn der Einwand, an einer Kette laufen zu dürfen sei immer noch besser, als im Block zu stecken, ist schwer zu entkräften. Es gibt Grade der Freiheit. Dagegen kann man nicht mehr oder weniger oder nur ein bißchen tot sein. Hier geht es um Grundtatsachen, um die grundsätzliche Beschaffenheit des Menschen. Deshalb sage ich, entweder ist der Mensch bedingt oder nicht. Und selbstverständlich ist er es. Er hat sich weder seine Milchstraße noch seine Mutter ausgesucht. Niemand gab ihm einen Schaltplan seines Gehirnes mit auf die Reise. Räumt aber einer ein, sein Gehirn sei ihm diktiert worden, schließt das natürlich auch die Spielräume ein, die ihm dieses Gehirn, weiß der Teufel warum, gnädigerweise gewährt. Das ist nur logisch.

Vermutlich würden sich Aamodt/Wang hüten schmunzelnd einzuwenden, dann sei ja wohl auch die Logik ein Diktat, gössen sie dadurch doch ersichtlich Wasser auf die Mühlen meiner Argumentation. Nein, sie ziehen es vor, sich in jenen Spielräumen und bei der Ausführung ihrer Taschenspielertricks frei zu fühlen, damit sie sich nicht gedemütigt und gelähmt fühlen müssen. Sie werfen die Erkenntnistheorie dem Pragmatismus zum Fraß vor. Sie möchten schließlich leben, möchten handeln. Also erheben sie ihren Wunsch nach Freiheit zur Tatsache der Freiheit. Das Verfahren ist auch in weniger grundlegenden Fragen weltweit beliebt. Hundertmal in der Woche »markieren« wir den starken Mann oder die starke Frau – bis wir einmal zusammen-brechen. Nicht anders gibt der Internet-Tyrann Wikipedia den Anschein von Objektivität in seinen Artikeln als Objektivität selber aus.

Sind die unablässigen Verhandlungen unserer 100 Milliarden Nervenzellen oder Neuronen (mit Hilfe von mindestens 100 Billionen Verbindungen oder Synapsen) schon unübersichtlich genug, gesellt sich noch das Phänomen hinzu, daß sie uns mal bewußt sind, mal nicht. Die Gründe und die Gesetzmäßigkeiten dieser Trennung sind den Forschern nahezu schleierhaft. Und davon, was Bewußtsein eigentlich sei, hat niemand eine Vorstellung. Mit Aamodt/Wang festzustellen, die Nerven- und Glia-zellen des Gehirns erzeugten chemische Veränderungen, die elektrische Impulse und eine Kommunikation von Zelle zu Zelle auslösen und damit sämtliche Gedanken und Handlungen steuern, sagt ja über die Beschaffenheit von »Bewußtsein« gar nichts aus. Wie erhebt sich aus einer chemischen Substanz und einem elektrischen Funkkontakt die Vorstellung eines Käsebrotes mit Oliven; die Vorstellung, ein solches werde im Augenblick von vielen Millionen Bewohnern dieses Planeten schmerzlich vermißt; die Vorstellung, die wir Gerechtigkeit und Frieden nennen, aber nie erzielen; die Vorstellung, ich selbst (H. R.) und nicht etwa mein Freund oder Feind Z. zu sein?

Immerhin läßt sich die persönlichkeitsbildende Funktion unseres Gehirns nach den bisherigen Forschungen offenbar nicht mehr ernsthaft bezweifeln. Das heißt, Rousseau oder die RomantikerInnen, auch »Lebensphilosophen« wie Ludwig Klages und noch der Büchnerpreisträger von 1953 Ernst Kreuder, lagen mit ihrem schwärmerischen Nachtseiten- und Äonen-Gefasel meilenweit daneben. Die ForscherInnen führen dafür säckeweise Belege an. Sie verdanken sie vor allem Untersuchungen von geschädigten Gehirnen; hinzu kommen immer mehr bildgebende Verfahren (»Hirn-scanner«), mit denen sie uns unter die Schädeldecke blicken können. Sollte ein Mensch zu seinem Peiniger herzlich sein, liegt es nicht an dem Muskel in seinem Brustkorb; der Muskel bekommt seine Befehle. Oder auch nicht. Nach wie vor undurchsichtig bleibt, von welchen »Erwägungen« sich unsere »oberste Instanz« leiten läßt, wenn sie so oder so entscheidet. Gibt sie einer Erscheinung den Vorzug, die mit verheißungsvoller Neuigkeit glänzt, oder bleibt sie lieber beim Gewohnten? Beides kann unser Glücksgefühl steigern, wie Aamodt/Wang betonen. Das Gehirn ordnet Erscheinungen gern in vertraute Muster ein; freilich öden uns diese zuweilen derart an, daß wir uns in ein Abenteuer stürzen – lassen. Aber von wem? Wer oder was stürzt uns hier? Um diesen heißen Brei drücken sich Aamodt/Wang in zahlreichen Windungen. Damit lassen sie das hübsche Zitat von Emo Phillips, mit dem sie die Einführung zu ihrem Buch eröffnen, von Seite zu Seite verblassen. »Ich dachte immer, das Gehirn sei mein wichtigstes Organ. Aber dann überlegte ich: Moment mal, wer sagt mir das eigentlich?«

Das erste Kapitel beginnt mit dem starken Satz: »Ihr Gehirn lügt Sie unablässig an.« Diese Trennung zwischen uns selber und unserem Gehirn behalten Aamodt/Wang im folgenden bei, ohne jemals auch nur anzudeuten, worin der Unterschied zwischen beiden Phänomenen bestehen könnte. Die naheliegende Frage, wieso ich über meinem Gehirn stehen sollte, klammern sie aus. Und womit stünde ich denn, bitteschön? Hier winken wahlweise Seele, Über-Ich, Gott und was dergleichen schon alles bemüht worden ist, doch Aamodt/Wang hüten sich vor einer Festlegung. Detlef Linke entschied sich in dem angeführten Buch für die Seele – hütete sich aber wiederum, sie (im Gegensatz zu Leib und Bewußtsein) zu definieren. Während uns das Bewußtsein immerhin Fährten durch Emotionen, Hirnströme, abgefeuerte Neuronen legt, speist uns die Seele lediglich mit dem unabweisbaren Gefühl ab, daß immer etwas fehle. Die Seele hängt als Besorgnis erregendes, aber mitunter auch erhebendes Fragezeichen über unserem Haupt. Sie gaukelt uns Souveränität vor. Kann mich mein Gehirn anlügen oder kann ich über mein Gehirn nachdenken, kann das Gehirn nicht das letzte Wort sein – so der fadenscheinige Glaube.

Zwar könnte einer auch den Verdacht haben, mit eben diesen Kabinettstückchen narre uns das Gehirn in einem fort. Aber dadurch hätte er jenen nie definierten Unterschied zwischen uns und unserem Gehirn schon wieder gemacht. Wir sind außerstande, unsere merkwürdige Befangenheit in unseren Widersprüchen zu erklären, geschweige denn zu durchbrechen. Nur das ist das Problem. Aamodt/Wang haben es »natürlich« auch, nur gestehen sie es nie.



A-30 Juckreiz im Mandelkern (2022, → Oppolzer)

Während es sich beim sogenannten Urknall, der schon beinahe überall als Tatsache gehandelt wird, um eine dinosauriergroße Kohlmeise handeln dürfte, scheint es für die sogenannte Gehirnexplosion (beim Menschen) inzwischen genug Anhaltspunkte zu geben, um sie für ein unbestreitbares, wenn auch todtrauriges historisches Ereignis halten zu können. Es fand vor ungefähr zwei bis ein Millionen Jahren statt – wie sich versteht, nicht über nacht. Damals schnürte der Frühmensch bereits auf zwei Beinen durch die Savannen. Die Gründe der Neuerung bleiben schleierhaft. Vorteile bot sie kaum. Im Gegenteil bekam man ja durch das beständige Hirnwachstum zunehmend Ärger mit der eigenen Birne: sie wurde immer schwerer. Das brachte wohl schon den Urahnen der Menschheit die uns bekannten steifen Hälse, Bandscheibenschäden, Rückenschmerzen ein. Außerdem fraßen die Hirnzellen Unmengen an Energie, die dann beim Muskelaufbau fehlten. Zu einem prächtigen Leoparden fehlte dem Frühmenschen also trotz seines viel fetteren Gehirns das Zeug. Der Zug war abgefahren. Jetzt hatte er seinen Scharfsinn vor allem in den trickreichen Nahrungserwerb zu stecken. Dabei spielte die Entdeckung oder Bändigung des Feuers keine geringe Rolle. Das Feuer schien, neben Licht und Wärme, Waffengewalt zu verleihen. Um einen ganzen Wald anzustecken, bedurfte es keiner Bärenkräfte. So konnte schließlich auch jeder Schwächling einen Granatwerfer oder eine Atombombe erfinden.

Als noch wirkungsvolleres Instrument sollte sich die Sprache erweisen. Ihre entscheidende Vervollkommnung setzt man meist für die Zeit vor rund 70.000 Jahren bis 30.000 Jahren an – die sogenannte kognitive Revolution. Mit ihr kamen die Dimensionen des Vergangenen und des Zukünftigen, allgemeiner des Unsichtbaren ins Spiel. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari* bemerkt dazu bissig: »Nur der Mensch kann über etwas sprechen, das gar nicht existiert, und noch vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge glauben.« Das sorgte jede Wette für eine Flut von Eindrücken oder Einfällen, die in den Horden der Jäger- und SammlerInnen oft für vorzeitige graue Haare, wenn nicht Wahnsinn sorgten. Andererseits begann man damals mit dem Stricken jener Legenden, Mythen und Ideologien, die gegenwärtig auch die westliche Russenphobie tragen. Durch den gemeinsamen Glauben konnte die »natürliche« Obergrenze von 150 Personen pro Gruppe weit überwunden werden. Hier winken Herrschaft, Zentralisierung, Imperialismus. Rasche Wechsel der Ansichten und der entsprechenden Propaganda ermöglichten rasche Verhaltensänderungen unabhängig von Genmutationen oder neuen Umweltbedingungen. Ich nehme an, hier wurzelt auch der Neuigkeitswahn, der an den befremdlichsten Dingen Gefallen findet. Für den Auslöser der kognitiven Revolution halten die meisten ForscherInnen »zufällige Genmutationen«. Das hat den Erklärungswert von Schneefall im August. Jedenfalls handelt es sich um nichts anderes als Fehler im Strickmuster, wenn ich so mutmaßen darf. Den Neandertaler verschonten sie offenbar, wurde er doch just in der genannten Zeitspanne vom Homo sapiens ausgerottet. Er war dem neuen Scharfsinn nicht gewachsen.

Eine Erschwernis, die sich sowohl durch den Aufrechten Gang wie durch die dann ständig wachsende Birne ergab, betraf die Geburt. Sie mußte verständlicherweise immer früher erfolgen, sonst wäre der Nachwuchs in der Mutter stecken geblieben. Jetzt wuchsen Kopf und Gehirn des Kleinkinds außerhalb der Mutter noch emsig weiter. Das ging allgemein mit einer Ausdehnung der Kindheit und der entsprechenden Abhängigkeit einher, die unter Leoparden oder Feldhasen unbekannt war. Dadurch gewannen die engsten sozialen Beziehungen erheblich an Bedeutung. Das Kleinkind mußte gefördert, geformt – um nicht zu sagen: geknetet werden. Manche Anthropologen und Psychologen beklagen den verbreiteten Irrglauben, das auszeichnende Merkmal eines Gehirns sei dessen Größe. Zwar seien bei der Geburt schon sämtliche Nervenzellen angelegt, doch nun komme es auf deren Verknüpfung an. Dafür wiederum sei jene Förderung unerläßlich, die man vielleicht altmodisch auch Zuneigung nennen könnte. Wenn Sie jetzt einmal darauf achten, wie gefesselt heutzutage junge Mütter oder Väter beim Kinderwagen-schieben auf ihr Smartphone statt auf ihr Baby starren, können Sie die prozentuale Verteilung der je persönlichen Zuneigung im digitalen Zeitalter recht gut ermessen. Freilich stellte die Formbarkeit des Kleinkindes schon vor dem Siegeszug des Computers eine Medaille mit zwei Seiten dar. Arthur Koestler** faßte das Problem in den Satz: »Die Gehirnwäsche beginnt in der Wiege.«

Selbstverständlich wüßte so mancher nur zu gern, ob auch anderswo im Universum »kognitive Revolutionen« tobten und was man, wenn ja, dagegen unternommen hätte. Viele AstrophysikerInnen halten bereits die Wahrscheinlichkeit für intelligente Zivilisationen allein in unserer Galaxie, der Milchstraße, für hoch. Eine andere Frage ist, ob wir uns mit diesen auswärtigen Leuten, vielleicht auch Knackwürsten oder Dunstschleiern, überhaupt verständigen könnten. Das ist natürlich nicht nur nur ein grammatisches Problem. Der Freiburger »Exosoziologe« Michael Schetsche, geboren 1956, erinnert*** an die »gewaltigen Zeiträume«, sprich: Entfernungen, die man zu diesem Zwecke matt setzen müßte. Das gelänge wahrscheinlich nur mit Hilfe einer ferngesteuerten KI, also einem besonders schlauen Automaten. Ob aber Schetsche es noch erlebt? Vielleicht hat die andere Seite mehr Glück. Schetsche hält Außerirdische mit einer Lebenserwartung von 10.000 Jahren für durchaus denkbar. Er räumt sogar ein, wir könnten leider immer nur »in menschlichen Kategorien« denken (etwa Zeit, wie er). Erfreulich finde ich seine Auskunft: »Meine Spekulation ist: Wenn sie so fortgeschritten sind, dass sie unsere Kommunikate durch Fernbeobachtung verstehen, werden sie wahrscheinlich nicht kommen. Dann schicken sie kein Raumschiff los, sondern denken: Das ist ja eine komplett verrückte Zivilisation, die gerade dabei ist, den Planeten zu zerstören. Dann werden sie als friedliche Zivilisation gar keinen Kontakt suchen.«

Damit klopft zum wiederholten Male das Problem unserer beschränkten Denk-Kategorien an die Tür. Im schon gestreiften Irrläufer-Buch beklagt Koestler, wir seien leider gleichermaßen außerstande, uns andere räumliche Dimensionen als die des Würfels oder uns beispielsweise eine rückwärts fließende Zeit vorzustellen. Recht hat er. Aber in Die Armut der Psychologie (Bern 1980, bes. S. 278–83) huldigt er dafür altbekannten (buddhistischen, christlichen, mystischen) zeitlosen Konzepten, weil er seine Unsterblichkeit wenigstens »kollektiv« zu retten gedenkt. Der Geist macht es möglich. Vor der Geburt und nach dem Tod treiben wir im »psychischen Äther« oder auch im »kollektiven Unbewußten«. Dort gibt es anscheinend keine Zeit. Damit fällt aber auch der Raum. Jeder zeitliche Vorgang ist ja wohl stets mit irgendeiner Bewegung oder Ortsveränderung verbunden – hebele ich die Zeit aus, benötige ich keinen Raum mehr. Ich kann im »psychischen Äther« vor mich hindümpeln, ob zwei Minuten oder 20 Milliarden Jahre lang. Umgekehrt dürfte es genauso schwer fallen, sich einen Raum ohne Zeit vorzustellen, sozusagen etwas absolut Statisches, die Starrheit an sich. Versuchen Sie es einmal. Zwar können Sie behaupten, in so einem Objekt, und sei es »unendlich« ausgedehnt, stünden sogar die Elementarteilchen still, falls es welche hätte – aber Sie können sich kein Bild von ihm machen. Das gleiche gilt selbstverständlich für jenes Nichts, das Koestler aus poetischen Gründen »psychischen Äther« nennt. Vieles ist durchaus vorstellbar – nichts jedoch nicht.

Da ist es einfacher daran zu glauben, der nächste Nachbarstern unserer Sonne, Proxima Centauri, den wahrscheinlich zwei Planeten umkreisen, sei 4,2 Lichtjahre von uns entfernt. Das wären immerhin schon schlappe knapp 40 Billionen Kilometer. Ob diese Angabe zutrifft beziehungsweise irgendeinen praktischen Nährwert hat, wage ich zu bezweifeln. Der Durchmesser unserer Milchstraße wird übrigens auf 100.000 Lichtjahre geschätzt. An die Entfernungen im restlichen Kosmos oder was immer da noch existieren sollte, darf man gar nicht denken, sonst wird man verrückter als von dem Rummel um die angebliche Corona-Pandemie. Was da draußen für Gesetze herrschen, falls es dort dergleichen gibt, wissen wahrscheinlich Gott oder Satan selber nicht so genau. Jedenfalls halte ich es (wie Kirchhoff) für aberwitzig, von unseren beschränkten Milchstraßenverhältnissen auf die Zustände im ganzen Rest zu schließen.

Jemand könnte einwerfen, in seiner Erzählung Der seltsame Fall des Benjamin Button habe doch F. Scott Fitzgerald jene rückwärts fließende Zeit schon im Jahr 1922 vorgeführt. Nein, das hat er eben nicht. Er hat das Phänomen lediglich für diesen einen Fall behauptet. Ich will nicht leugnen, daß die vielgelobte Erzählung sicherlich »elegant« geschrieben ist, doch für den ausgefallenen »Plot« – der Held kommt als Greis zur Welt und wird immer jünger – kommt sie mir gar zu belanglos und unergiebig vor. Die mit Benjamin niedergekommene wohlhabende Südstaatendame scheint schon bei der »Geburt« keine Rolle zu spielen, und Benjamins Verschwinden als Säugling bleibt genauso im Nebel. Der Held selber hat anscheinend nie ein Bewußtsein von seinem »seltsamen Fall«. Jedenfalls ist die Geschichte viel zu unwahrscheinlich, um jene Belanglosigkeit zu verkraften. Und die ihr angedichteten Aufschlüsse über Zeit und Vergänglichkeit kann ich nirgends entdecken. Dafür muß Fitzgerald ein ziemlich geschichtsblinder, angepaßter Schönling gewesen sein. Gegen Ende seines schmalen Buches treten die Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg ein – warum, ist völlig uninteressant.

Ich wies schon früher einmal auf den Krieg zahlreicher männlicher Samenzellen um die Eroberung von nur einer weiblichen Eizelle hin, der seit Urgedenken bei jeder »Begattung« tobt. Wahrscheinlich sei er sozusagen der Vater aller Kriege. Eine private Webseite unterstreicht einen anderen Gesichtspunkt der menschlichen Sexualität. Die ausgedehnte Kindheit und die entsprechende Fürsorge habe ein neues Sexualverhalten erzwungen. »Um über die lange Zeit der Abhängigkeit hin den Vater (anders als bei den Schimpansen) in die Sorge um das Kind einzubinden, sind Menschenfrauen ständig liebesbereit, nicht mehr nur zur Paarungszeit – die Väter werden mit Sex bei der Stange gehalten.« Mag der Autor nun damit richtig liegen oder nicht, im sogenannten Geschlechtstrieb haben wir vermutlich eine Geißel, die wir ebenfalls unserer aufgeschwemmten Birne verdanken. Er soll hauptsächlich von der Amygdala abhängen, auch von deren Größe. Auf deutsch heißt sie Mandelkern. Auf beiden Schädelseiten in Schläfennähe untergebracht, soll die paarige Mandelkern-Region allgemein für Gefühlsausbrüche zuständig sein. Werde sie beschädigt oder verkleinert, nehme auch die Begierde ab, lese ich im Spiegel. Andere Gehirnregionen könnten freilich ähnlich zügelnd wirken. Es ist mal wieder alles unübersichtlich miteinander verknüpft. Da hilft es also wenig, sich die Amygdala kurzentschlossen operativ entfernen zu lassen, zumal damit auch anderes entfiele, etwa Angst, Wut und allerlei Freuden der harmlosen Art. Nur die Angst zu verlieren, wäre ja eigentlich gar nicht so schlecht. Oder nur den romantischen Un- oder Wahnsinn, der sich bei unsereins so gern mit der reinen, »tierischen« Begierde – verknüpft.

Ich lenke abschließend auf dieses Thema, weil ich mit Entsetzen festgestellt habe, offenbar fiele ich aus der Fausregel heraus, im Alter lasse das geschlechtliche Verlangen beständig nach. Bei mir scheint es eher anzuschwellen. Vielleicht ist das eine Art Torschlußpanik. Da es eingefleischten Eigenbrötlern aber naturgemäß an sogenannten Geschlechtspartnern mangelt, zeigen sich alle Tore als verrammelt. Das Ergebnis liegt auf der Hand: Zerknirschung, wenn nicht gar Gram. Mit Geschlechts-partnern wird es allerdings in der Regel auch nicht ersprießlicher. Zählen Sie einmal zusammen, wieviele Nöte sie Jahr für Jahr Ihrem Sexualtrieb zu verdanken haben. Sollten Sie über 80 werden, haben Sie keineswegs Koestlers »psychischen Äther«, eher den anderen Rand der Wüste Sahara erreicht.

* Eine kurze Geschichte der Menschheit, 2011, hier 3. deutsche Auflage 2014, bes. S. 17–40
** Der Mensch – Irrläufer der Evolution, Bern 1978, bes. S. 18 ff +
317 ff
*** https://www.derstandard.de/story/2000124221987/exosoziologe-wir-werden-aliens-lange-zeit-nicht-verstehen 20. Februar 2021




A-31 Ehre (2013, → Pergaud)

In meinem Aufsatz über Liselotte →Welskopf-Henrich erwähne ich den »befremdlichen Ehrenkodex der Prärieindianer« – dem die DDR-Autorin huldigt, weil er anscheinend »voll auf der Linie« des Adolf-Hennecke-Sozialismus gelegen habe. Auch ihr sowjetrussischer Kollege Ilja Ehrenburg hat es, bei diesem Namen vielleicht kein Wunder, mit der Ehre. Im Zusammenhang mit dem Spanienkrieg (1936–39) führt er in seinen Erinnerungen die Bemerkung des republikanischen Kommandanten Grigorowitsch an, für uns sei »Ehre« ein altmodischer Begriff – hier jedoch, in Spanien, brauche man bloß die erste beste Bauernhütte zu betreten: »Der Mann ist Analphabet, aber was Ehre ist – das weiß er genau. Genauso gut wie ein alter Ritter …«

Ja, was wäre sie denn, die Ehre? Bei Ehrenburg verraten es uns weder Grigorowitsch noch der Autor selbst. Das ist schade, denn in Wahrheit steht die Ehre bis zur Stunde in aller Welt so hoch im Kurs, daß zum Zwecke ihrer Erlangung, Wahrung oder Rettung die ungeheuerlichsten Opfer in Kauf genommen werden, von Ohrfeigen über grausame »Ehrenmorde« bis zur Verteidigung der Ehre der USA durch ganze Geschwader aus Bombern und Drohnen. Vielleicht verstand sich die Ehre für den UdSSR-Autor von selbst. Der Satz »Ich bin Spanier« fällt in dem betreffenden Buchkapitel auf jeder zweiten Seite. Offenbar vermählt sich Männerehre gern mit Nationalstolz. Auf der Prärie ist man eben »Dakota« gewesen, im Bezirk Erfurt Die DDR, das sind wir. So die Parole auf einem verstaubten 1.Mai-Plakat mit Rote-Fahne-schwingenden Werktätigen, das ich neulich im thüringischen Waltershausen auf einem Speicher entdeckte. Die Parole erinnerte mich peinlich an die Nazi-Losung Wir sind Deutschland, die Werbefachleute im »rotgrünen« wiedervereinigten Deutschland um 2000 gern wieder aufgegriffen haben. Alle stolzen Indianer oder Volksgenossen lieben ihr Territorium und verteidigen die darauf herrschende Freiheit bis zum letzten Blutstropfen. Allerdings waren die Franco-Faschisten nicht weniger »Spanier« als ihre anarchistischen Feinde – und liebten die Freiheit nicht. Nur die Ehre scheint sich durch sämtliche ideologische oder nationale Lager zu ziehen. Wahrscheinlich kann sie dabei auf eine Verwechslung von National- und Besitzerstolz mit Menschenwürde bauen. Während Würde jedem Menschen von Natur aus zukommt, kann sich der verbreitete Stolz auf unsere Besitztümer, je nach Geburt, Lage und Gelegenheit, an durchaus sehr verschiedene, zufällige Dinge und Phänomene heften, wie man vielleicht zugeben wird. Er ist vom jeweiligen Subjekt und dessen Launen abhängig.

Der 1994 gestorbene Schriftsteller Bernt Engelmann dürfte der verdienteste Autor einer deutschsprachigen Geschichtsschreibung von unten sein, den wir zu bieten haben, aber selbst er sitzt in seinen Büchern dem Nebel des Patriotismus auf, den gewisse Sozialisten und Kommunisten hartnäckig als Rauchfahnen des Freiheitskampfes ausgeben. Auch die DDR pflegte ja sogenannte »nationale Befreiungsbewegungen« blanko zu unterstützen, sofern sie nur fleißig die Grußadressen an Stalin oder Breschnew unterschrieben. Engelmann verbucht besonders alles, was in den Jahrzehnten um 1848 die »deutschen Einigungsbemühungen« befördern half, automatisch auf der »fortschrittlichen« Seite. Insofern war auch der erzreaktionäre Kanzler Fürst von Bismarck fortschrittlich, der die ankapitalisierten deutschen Zwergstaaten in die Marktgemeinschaft, das Dritte Reich und schließlich in die sogenannte Globalisierung führte. Der psychologische Umstand, daß bereits ein gefeierter Popanz wie »gemeinsamer Sprachbesitz« für Narzismus und Imperialismus anfällig macht, entging Engelmann genauso wie der Gesichtspunkt des Machtmißbrauchs, der durch Zentralisierung, Vergrößerung, Verschleierung immer besten Nährboden findet.

Kommen wir auf die Ehre zurück, die die Würde praktischerweise gleich mitmeint. Werde ich verachtet, benachteiligt, zum Abschuß freigegeben, weil ich Spanier bin, kann ich wohl zurecht das Gefühl haben, meine Würde stehe auf dem Spiel. Doch das gälte auch für anderes. Wenn es etwa hieße: weil er ein Außenseiter, weil er ein armer Schlucker, weil er ein Dünnhäuter ist. Hier fehlt es schlicht an Achtung vor dem Anderen. Er muß genauso wichtig oder unwichtig sein wie ich. Wir haben beide Würde. Soll ich ihn aber deshalb bewundern? Kann er beanspruchen, verehrt und bedient zu werden, weil er zufällig Spanier, 1,92 groß oder Entdecker von mehreren tropischen Schmetterlingsarten ist? Hätte er wenigstens den Knopf im Gehirn entdeckt, an dem man den Verehrungstrieb ausstellt! Jedenfalls rate ich davon ab, das Gefühl von der eigenen Würde an Ver- oder Entehrung zu koppeln. Vielleicht sollte das Wort Ehre der Selbstachtung vorbehalten sein. Sie könnte womöglich einmal auf dem Spiel stehen – wenn ich gegen mein Gewissen oder meine Überzeugungen verstieße. Aber auch sie sind immer noch meine. Es ist ein Teufelskreis.



A-32 Schlechte Gutscheine (2008, → Simmel)

Die meisten Alternativentwürfe zum kapitalistischen Wirtschaften scheuen Radikalität und Konsequenz wie die italienischen »Kommunisten« Hammer & Sichel. So entpuppen sich diese »Alternativen« bei näherem Hinsehen als Varianten kapitalistischen Wirtschaftens. Allin Cottrell, laut Junge Welt (5. Juli 2008) Professor für »Makroökonomie und Ökonometrie« in Wake Forest/USA, will die allgemeinen Prioritäten – in welche Bereiche investieren wir wieviel? – durch Volksabstim-mungen festgelegt wissen. Das klingt zunächst nicht übel. Die näheren Wünsche ergäben sich aus den Entschei-dungen des Verbrauchers – die allerdings nicht mehr Kaufentscheidungen heißen dürfen. So schiebt der Verbraucher, Frauen eingeschlossen, im Laden »Arbeitsgutscheine« auf den Tisch. Als Arbeiter erhält er für jede Arbeitsstunde einen Schein – aber vielleicht hat er seine Scheine auch gefunden, geerbt oder geraubt. »In jeder Periode wird der Plan angeglichen, um mehr von den Gütern, die relativ zur Nachfrage knapp sind, und weniger von jenen zu produzieren, die nicht so beliebt sind. So haben wir eine Art 'Markt', aber ohne Geld und nicht vom Profit getrieben, sondern von der Bereitschaft der Menschen, Stunden ihrer eigenen Zeit für den Erwerb verschiedener Güter herzugeben.«

Auf diese Art hätten wir in der Tat den Markt beibehalten – und das Geld selbstverständlich auch. Was anderes sollte das Zahlungsmittel »Arbeitsgutschein« darstellen? Mit der Arbeitszeit beruht es sogar auf demselben Maßstab wie unser herkömmliches Geld. Es dient dem reibungslosen Tausch wie Euro oder Dollar ihm dienen. Wer den Kapitalismus überwinden will, muß jedoch den Tausch zugunsten des Teilens und Verteilens ächten. In den Fußstapfen unserer wildbeuterischen Vorfahren beweisen Dutzende von anarchistischen Kommunen seit Jahrzehnten, das Teilen – das nie »ökonometrisch« ist – läßt sich selbst unter ungünstigen Startbedingungen pflegen. Behauptet Cottrell, seine Gutscheinwirtschaft sei nicht mehr vom Profitstreben getrieben, sitzt er reinem Wunschdenken – und eben dem quantitativen Denken auf. Tausch/Vergleich/Konkurrenz kreisen um das Mehr oder Weniger. Sie impfen uns das unablässige Bewerten ein, ob wir wollen oder nicht. Um eine gängige Metapher zu bemühen, fahren quantitatives Denken, Profitstreben und Fortschrittswahn auf derselben Schiene.

Die Alternative erfordert Umkehr. Sie verlangt den Absprung in ein Denken, das vielleicht rythmisch genannt werden könnte. Stellt Cottrell fest, das grundlegende Kriterium für die Auswahl zwischen alternativen Produktionsmethoden sei die Minimierung der erforderlichen Arbeitszeit, verkündet er Kapitalismus pur. In unseren Kommunen kommt es nicht auf die Dauer sondern auf den Charakter einer Arbeit an. Ist sie sinnvoll? Macht sie Freude? Cottrell scheint echt leninistisch von einer computergesteuerten Megamaschine zu träumen, die alle erwünschten Güter ohne unser Zutun auswirft. Daß sie extrem anfällig wäre und zum Machtmißbrauch geradezu einlüde, interessiert ihn nicht. Und daß sich die freigesetzten BürgerInnen dann zu Tode langweilten, findet er anscheinend prima. Was sollen sie tun? Nach Florida fliegen? Am Strand Hautkrebs züchten? Den Milliarden Scharlatanenstücken, die heutzutage als Kunstwerke ausgegeben werden, noch eine Milliarde hinzufügen?

Nein, was weg muß, sind alle Trennungen. Ich nenne nur Arbeit/Freizeit, Arbeit/Urlaub, Erwerbsleben/Ruhestand, Produktionsarbeit/Sozialarbeit, Hand- und Kopfarbeit. Die Abgetrenntheit von jener Megamaschine, Staat eingeschlossen, gehört natürlich auch in diese Reihe. Cottrell setzt für seine »neue« Planwirtschaft offenbar das übliche Staats- oder Kommunaleigentum voraus. Schon den darin Tätigen billigt er aber nur »eine gewisse demokratische Kontrolle« über ihre Arbeitsbedingungen zu. Zur Krönung hält er »große Änderungen in unserer Art der materiellen Produktion« für unumgänglich, wenn wir auf diesem Planeten das gegebene Jahrhundert überleben wollten – ohne über diese Änderungen auch nur ein Tönchen verlauten zu lassen. Entweder hat er keinen blassen Schimmer von ihnen, oder aber, er hütet sich vor ihnen, weil die Forderung grundlegenden Umdenkens gar zu radikal wäre und die Leute vor den Kopf stieße. Wäre sie auch zu irreal?

Jedenfalls halte ich es für illusorisch, den Kapitalismus in unseren aufgeblähten und zentralisierten Organisations-formen überwinden zu wollen. Legionen von roten oder grünen Politikern – auch in der DDR – haben längst bewiesen, wie automatisch sie sich von uns entfernen, während sie uns angeblich dienen. Übrigens haben sie sich auch von dem in den 80er Jahren beliebten Slogan small is beautiful rasend entfernt. In Hochgeschwindigkeitszügen oder 140-PS-Geländewagen. Ich gebe also zu, daß ich mir eine Überwindung des Kapitalismus im Rahmen des derzeitigen Deutschlands nicht vorstellen kann – vom Moloch Europa ganz zu schweigen. Da ich jedoch auf der anderen Seite kein Pygmäe und auch kein Mönch bin, werde ich Mittel und Wege finden müssen, wie ich hin und wieder aus meiner überschaubaren Räterepublik Hörselgau nach Kassel oder Brüssel komme. Das Pferd war über Tausende von Jahren hinweg ein hinreichendes Transport- und Arbeitsmittel. Unfälle a lá Eschede mit über 100 Toten kannte es nicht. Bedienen wir uns aber trotzdem der Schienen, weil sie nun schon einmal liegen: wer verwaltet, wartet – und beherrscht das Schienennetz, wenn es in ganz Europa nur Zwergrepubliken gibt?

Vielleicht sollte ich doch lieber zu Hause bleiben. Eigentlich läßt es sich in Hörselgau schon ziemlich gut leben. Einfuhren benötigen wir kaum. Wir machen alles selber – nur umfaßt dieses Alles nicht sonderlich viel. Zum Beispiel hegt in unserer Räterepublik kein Mensch den Wunsch, in seiner Hand oder auf dem Balkon des Nachbarn eine Videokamera zu wissen. Für die Computer in unseren 23 Internetcafes haben wir sogar eine eigene kleine Fabrik. Zu verspeisen pflegen wir nicht das, was uns über Satellitenfernsehen das Wasser im Munde zusammen laufen lassen soll, sondern nur das, was unsere Wälder, Gärten und Ställe je nach Saison gerade so hergeben. Wir brauchen keine Kiwis, die in Wahrheit nur aufgeblasene Stachelbeeren sind. Unsere Räte werden in direkter Wahl bestimmt. SchädigerInnen des Gemeinschaftslebens kommen vor ein Schiedsgericht, dessen Mitglieder zumindest teilweise ausgelost werden – eine Anregung, die ich Cottrell verdanke.

Machen wir uns nichts vor: Eine Nichttauschgesellschaft setzte neben beträchtlicher Vertrauens- und anderer Bildung Überschaubarkeit voraus. Jene »Überlebensfrage« nach Änderung unserer Produktionsweisen schlösse also auch diese ein: Wie könnte uns die unumgängliche Verkleinerung der gesellschaftlichen Organisationsformen auf diesem Planeten gelingen? Sollte das Wunder geschehen, Frau Merkel, Herr Obama und Konzernriesen wie Bunge, Siemens, Monsanto, Exxon Mobil ermuntern uns dazu? Sollten sie bereit sein, das Rad der Geschichte auf handhabbare Ausmaße zurückzudrehen – obgleich sie gerade daran verdienen, daß es uns Arschlöcher der Welt überrollt?

Schlimmer noch, ich halte es sogar für nicht ausge-schlossen, eine Nichttauschgesellschaft wäre nirgends machbar, weil das Tauschwertprinzip (2 Eier = 70 Cent) verdächtig an das Identitätsprinzip (A = A) erinnert. Das hieße, wir wären auf Vergleiche angewiesen, um die Dinge und uns selber überhaupt erkennen zu können. Schon erwächst daraus die Konkurrenz.



A-33 Tauschland (2007, → Simmel)

99 von 100 Menschen, die Sinn oder Unsinn des Geldes erörtern, setzen den Tausch bereits voraus. Für den Tausch ist das Geld sicherlich nützlich, wenn nicht sogar unverzichtbar. Doch für den Tausch selber gilt dies keineswegs. In den frühen Familien, Horden, Stämmen unserer Gattung wurde mit Sicherheit nicht getauscht. In Pueblos, Klöstern, Kibbuzim finden wir statt Tausch Verteilung. Gestehen wir ihnen Autarkie zu, läßt sich das auch an heutigen anarchistischen Landkommunen oder deren regionalen Verbänden leicht zeigen. Warum sollten die Leute tauschen? Schließlich ist alles da – vom Radieschen über Ziegen und Gehölze bis zum neuen ovalen Eßtisch. Es muß nur bearbeitet, bewegt, bereitgestellt werden. Was täglich oder saisonal benötigt wird, ist bekannt oder wird vereinbart. In einer solchen gemeinschaftlichen und geschlossenen Ökonomie wäre Tausch beinahe lächerlich.

Ich bemerke nur am Rande, daß die kapitalistische Not des Tauschens und Verkaufens ungeheuerliche Kosten verursacht, die volkswirtschaftlich betrachtet einen Riesenverlust darstellen: Handel, Banken, Buchführung, Geldautomatenbau und dann noch die sogenannte Werbung für den ersten sich selbst fütternden Geldautomaten. Hier können wir auch gleich die hochgelobte Konkurrenz ansiedeln, die jeden Landstrich beispielsweise in ein Materialschlachtfeld von 17 miteinander verfeindeten Paketzustelldiensten verwandelt. Konkurrenz züchtet neben Vergeudung und Betrug jeder Art den Krieg.

Der wesentliche Nachteil des marktwirtschaftlichen Verfahrens liegt im Tausch selber, der ein Vergleich ist. Denn dieses Vergleichen hat verheerende Folgen. Wollen wir voneinander verschiedene Güter oder Leistungen miteinander vergleichen, kommen wir ja nicht umhin, sie auf etwas zu reduzieren, das ihnen vielleicht doch – ihrer Verschiedenheit zum Trotz! – gemeinsam ist. Wie uns Ricardo, Marx und Georg Simmel erläutern, kann diese Gemeinsamkeit von etwa Eßtisch, Ziege, Text nicht in Eigenschaften wie nützlich, angenehm, schön, lebendig, dinghaft und dergleichen liegen. Denn das läßt sich nicht messen. Die Warenproduktion, die vom Tausch lebt, bedarf eines Zollstocks. Sie muß die Tische, Ziegen, Texte über einen Kamm scheren. Hier bietet sich lediglich der Umstand an, daß sie alle hergestellt, besorgt oder zugerichtet worden sind: durch »Arbeit«. Allerdings handelt es sich eigentlich um völlig verschiedene Arbeiten, weshalb auch sie noch einmal reduziert werden müssen, nämlich auf »Zeit«, also auf die berüchtigte Arbeitszeit. Im Gegensatz zu Ahornholz/Futterklee/Papier lassen sich allein diese in Eßtisch/Ziege/Text investierten Zeitquanten miteinander vergleichen. Der Zollstock heißt Stoppuhr.

Beethoven und Dvorak legten allerdings wenig Wert auf die Feststellung, wer seine 5. Sinfonie schneller geschrieben habe. Und manche Versschmiede behaupten, »die Zeit« sei die größte Worthülse aller Zeiten. Sie ist abstrakt, beliebig dehn- oder anwendbar, sinnlos. Im Grunde handelt es sich nur um ein Hirngespinst. Jedes Gut, jede Leistung, jeder Mensch haben ihre eigene Zeit. Sie sind unvergleichlich. Sie haben auch alle ihren eigenen Wert. Sie entfalten sich gemäß ihres inneren, einmaligen, kaum nachvollziehbaren Gesetzes. Sobald ihnen Tauschwert zugemessen wird, stecken sie in einer Zwangsjacke. Dann dürsten sie nur nach Geld. Von sich aus gelten sie ja nichts; nur meßbare Anerkennung zählt. Der rennen sie hinterher – getreu dem sattsam bekannten Motto, Zeit sei Geld. Allein diese Begierde nach Geld oder dieses Angewiesensein auf Geld läßt die Menschen im Kapitalismus zueinander in Beziehung treten. Damit wird »Gesellschaftlichkeit« maßgeblich durch völlig abstrakte und letztlich lebensfeindliche Dinge oder Zwecke vermittelt.

Anders ausgedrückt, haben wir mit der kapitalistischen Warenproduktion eine Züchterin quantitativen Denkens am Hals. Das kostet mich mindestens eine halbe Stunde Arbeit … Wenn du das wegwirfst, sind 50 Euro im Eimer … Woanders bekäme ich viel mehr dafür … Dieses Mehr-Denken steckt, nebenbei bemerkt, auch im »Mehrheits-prinzip«, dem ja so gut wie alle Vereine und Ideologien huldigen, vom Imkerverein bis zum Zentralkomitee der Kommunistischen Partei. Selbst mancher »gewaltfreie« Anarchist besäße gern einen Colt, um dessen Griff mit den Kerben seiner sexuellen Eroberungen verzieren zu können. Eine andere, gleichsam »natürliche« Wurzel des quantitativen Denkens dürfte freilich in der Kindheit liegen: Kleinheit als Makel, sozusagen als Unzulänglich-keit. Rennt Lieschen schneller als Mäxchen zum Hoftor der Landkommune, wo das Postauto hupt, hat sie sich schon ein Schokoladenbonbon verdient. Was ist der sehnlichste Wunsch von Pavle aus Kurt Helds Jugendbuch Die rote Zora, das in keinem linken Buchladen fehlt? Er möchte zunächst Lehrbub des dicken Bäckers Curcin, dann jedoch »der stärkste Mann von Senj« werden. Mäxchen dagegen hat den Lokomotivführer angepeilt. Entsprechend spielt er leidenschaftlich gern Eisenbahnquartett, und zwar in der Form des Schlagabtausches zwischen zwei Leuten. Dabei kommt es ausschließlich auf das Mehr an – wer hat mehr PS, Meter, Tonnen, Wert oder sonstwas aufzubieten. Warum die Lokomotive fährt, wohin sie fährt – was dies alles soll und mit sich bringt, wird um keinen Deut erwogen. Diese Lokomotiven transportieren allein den Fetisch »Wachstum«. Sie wollen groß sein. Sie suchen Erfolg, meßbaren Erfolg, um jeden Preis.

Die Charakterstärke hat in unserer Tauschwertgemein-schaft so schlechte Karten, weil sie nicht meßbar ist. Nur ein quantitatives Denken kann »Geschwindigkeit« zu einer Tugend erheben, von der noch die größten Idiotien geadelt werden. Auch Computer, Internetanschluß, Suchma-schinen – durch hohen Energieverbrauch, ständige Modernisierung, häufige Pannen wahrscheinlich kostspieliger als Handarbeit – gewähren uns »schnellen Zugriff« auf dies oder das. Wir spüren nicht mehr, daß dabei die Zusammenhänge reißen. Diese »Zeit«, die dem Kapitalismus seinen unbestechlichen Gradmesser gibt, bewirkt geradezu das Gegenteil von »Wachstum«, nämlich Schrumpfung. Sie macht dumm und gemein. Rücksicht auf Tomaten, Kinder, Texte, die sich behutsam entfalten möchten, kennt sie nicht. Und auch nicht auf etwas, das ich einmal kurz und klassisch Lektüre nenne. Möglicher-weise ist die Lektüre inzwischen das einzige, das nicht für Geld zu haben ist.



A-34 Keine Zeit (überarbeitet 2010, → Sosa)

In Ernst Kreuders Gesellschaft vom Dachboden (1946) kommt der Ich-Erzähler bei einem Trödler vorbei, der etliche Pendeluhren feilzubieten hat. Doch keine von ihnen tickt. Wie der Trödler erläutert, hat er sie alle angehalten, weil sie sonst zu viel Zeit verbrauchen würden. Sie fräßen so unerbittlich Zeit wie sie tickten.

Ein treffendes Bild! Pferde fressen Hafer, Autos Benzin – und durch unsere Uhren wird die Zeit genauso knapper wie das Erdöl durch unsere gefräßige Maschinerie. Gegen 1600, also am Beginn unserer sogenannten Neuzeit, kam es plötzlich auf Viertelstunden an: sie wurden jetzt von den Kirchtürmen herabgeläutet. Bei den Stechuhren in unseren Fabriken geht es bereits um Minuten. Für Fußgänger, die eine »belebte« Straße zu überqueren trachten, können bereits Sekunden entscheidend sein. Geben wir Stechuhr bei unserer Suchmaschine ein, möchten wir gefälligst nicht »ewig« auf die Suchergebnisse warten müssen – kein Problem: Der betreffende IT-Riese serviert 36.500 Treffer in 0,38 Sekunden (Oktober 2009). Der Stromverbrauch, unter dem jede einzelne Suchanfrage in Blitzesschnelle durch ein ungefähr stadtviertelgroßes Rechenzentrum gejagt wird, ist gewaltig. Das heißt, Computer fressen Zeit und Energie. Erkundigten wir uns nach den drei am meisten zu hörenden oder lesenden Floskeln der Postmoderne, bekämen wir nach kein Problem vermutlich keine Zeit und dann alles klar. Die Zeit ist eben knapper geworden. Man hat sie nur noch selten.

Aus ihrer Knappheit ergibt sich logisch die Folgerung, knausrig mit der Zeit umzugehen. Mein Chef pflegte in seinem für Handwerksmeister typischen breitmäuligen und hochbeinigen Geländewagen meist durch das Hessische Ried oder den Odenwald zu jagen, weil er sich schon wieder verspätet hatte. Jeder Unternehmer ist auf Auftragsstapel und Zeitdruck angewiesen. Muße wäre sein Ruin. Auf der Durchgangsstraße unterwegs, zwang uns einmal eine rote Ampel an einer Straßenkreuzung einer sonst verschlafen wirkenden Odenwaldortschaft zum Halt. Ich stutzte und deutete von meinem lebensgefährlichen Beifahrersitz aus wortlos auf einen gegenüber liegenden Hausgiebel, an dem in verschlungenen Lettern zu lesen stand: Gott schuf die Zeit / von Eile hat er nichts gesagt. Doch dafür hatte mein Chef nur ein überlegenes Grinsen übrig. Für ein kurzes Gedenken an einen zurückliegenden Krankenhausaufenthalt und einen sechsmonatigen Führerscheinentzug fehlte ihm dann die Gehirnkapazität, weil die Ampel grün wurde und er sich im Weiterjagen überzeugende Ausreden für den Kunden überlegen mußte. Das Schlimmste dabei ist, daß sich diese Rasenden nie an der guten Aussicht stören, sie könnten auch andere mit ins Unglück reißen, ob MitfahrerInnen oder »gegnerische« VerkehrsteilnehmerInnen. Meinem mitfahrenden Gesellen Bott kostete die Wut darüber seinen Arbeitsplatz.

Bei seinen Kunden nicht überfällig zu sein, kam bei meinem Chef selten vor. Das heißt, umgekehrt unterstellte er seinen Kunden, sie hätten durchaus viel Zeit. Diesem Blickwinkel hat sich kürzlich Franz Schandl in der Brücke 145 unter dem Titel Bitte warten! gewidmet. Der österreichische Publizist lacht die Leute aus, die neulich noch DDR-Warteschlangen verhöhnten. Heute warten wir alle schon professionell. Behörden, Banken, Bahnchef Mehdorn und Legionen von Ärzten haben nämlich herausbekommen, daß sich ihre Unternehmen sehr einfach »rationalisieren« lassen, indem sie Personal- und Servicekosten durch Erhöhung der Kundenwartezeiten verringern. Der Kunde steht oder sitzt die Einsparung ab. Er darf das auch durchaus gern in der Warteschleife seines eigenen Telefons tun, röchelnd. Deshalb – so Schandl – gingen unsere Besorgungen in der Postmoderne zwar schneller, dauerten aber länger. »Rationalisierung ist beschlagnahmte Zeit. Und niemandem kann man eine Abrechnung schicken für diese nicht ungeschickte Entwendung.«

Die Bosse selber gestatten sich selten ein Ausspannen. Ganz im Gegenteil, als Hobby mußte sich mein eben erwähnter Chef ausgerechnet Springreiten erwählen, um auch in seiner Freizeit möglichst viele Hürden vor Augen zu haben. Kreuders Dachboden-Leute predigen den Müßiggang. Dieses Wort ist erst im Zuge der Industrialisierung zum Schimpfwort geworden. Kreuders »Helden« widmen sich vor allem dem Spötteln und Philosophieren sowie der Schatzsuche. Das sind Aktivi-täten, die mein Chef zu Recht zwecklos nennen würde.

Zu den schönsten Erzählungen Friedrich Georg Jüngers zählt Die Pfauen – diese Vögel hält ein Greis, der im Park seines Herrenhauses verdämmert und schließlich friedlich stirbt, während ringsum Geschütze donnern, Brände lodern und Menschen flüchten. Möglicherweise hat er sein müßiges Leben noch nicht einmal auf Kosten seiner Untergebenen geführt. Er war bestimmt ein gütiger Gutsbesitzer. Das erweist sich zuletzt auch an der halbwüchsigen Gärtnerstochter Therese, der er eine Schmuckschatulle mitgibt. Er selber, vom treuen Diener Anton in Decken gehüllt, bleibt in seinem Korbsessel unter den hohen Eichen des Gutsparks sitzen. Er hängt Erinnerungen nach; indische und ostpreußische Gärten vermischen sich. Angst oder Sorgen kennt er nicht mehr. »Die winzigen Kinder, die in Steckkissen von ihren Müttern fortgebracht oder auf Wagen fortgerollt wurden, konnten sich nicht sicherer fühlen als er. Sie taten es aus Unwissenheit, er aus Wissen.« Der treue Anton, kaum weniger betagt als sein entschlafener Herr, verhält sich so mutig wie konsequent: ehe die Panzer einrollen, schließt er sich auf dem Dachboden des Herrenhauses ein und steckt es in Brand.

Für den Fall, die Welt geht nicht so schnell unter wie sie sich inzwischen dreht, habe ich einmal vorgeschlagen, den nächsten Abschnitt der Geschichte – da wir Altertum / Mittelalter / Neuzeit schon hätten – Brandneuzeit zu nennen. Vielleicht verdichtet sich unser Planet in dieser vierten Epoche wieder zur Urknallerbse, während er noch für ein paar Jahrhunderte lodert. In meinen bisherigen sechs Lebensjahrzehnten hat sich das kulturelle Tempo geradezu sprunghaft erhöht. Kaum sind die ersten elektronischen Rechenmaschinen auf dem Markt, werden ihnen Computer nachgeschoben, die sich in Handtaschen und Handys unterbringen lassen. Wir erfreuen uns der Aufmerksamkeit von Videokameras, die kleiner als Orwells Augäpfel sind. Daran sehen wir, der menschliche Gigantismus geht mit einer atemberaubenden Verkleinerungskunst einher.

Am kleinsten ist zuletzt vermutlich der Mensch – nach Einschätzung des US-Paläontologen Stephen Jay Gould werden uns die Bakterien und Insekten »todsicher« überleben. Schon jetzt sehen wir unsere Moden auf allen erdenklichen Gebieten von Eintagsfliegen beherrscht. Was sich ohne aufgeprägtes Verfallsdatum zu zeigen wagt, gilt bereits als anrüchig. Daß schneller leben zugleich schneller sterben heißt, geht in die mit Tumoren vollgestopften Hirne meiner Zeitgenossen nicht hinein. Oder wünschen sie gerade das? Ich bin inzwischen geneigt, Freuds fragwürdigen Todestrieb für eine anthropologische Konstante zu erachten. Kaum kann sich ein Dreikäsehoch auf seinen Beinen halten, ist er schon auf die Feststellung erpicht, wer am schnellsten bis zur nächsten Hausecke gerannt ist – kein Stolpern und Auf-die-Nase-Fallen kann ihn von diesen Wettbewerben abbringen. Ein gesunder Menschenverstand müßte es ja eigentlich lächerlich finden, wenn sich einer damit brüstet, eine schwierige Aufgabe ein paar Sekunden rascher als seine Konkurrenten erledigt zu haben. Aber ich fürchte, der Menschenverstand war noch nie gesund. Bekanntlich ist unser Primaten-gehirn vor der Ära des Faustkeils geradezu explodiert. Daher der Durchmarsch bis zur Brandneuzeit.

Hält der Siegeszug der Zeit an, müssen Mensch und Planet weichen, weil jene nur auf Kosten des Raumes siegen kann. Im Jagen verflüssigt und verflüchtigt sich der Raum. Ein sprechendes Beispiel lieferte der britische Bomberpilot Andy Green im September 1997, als er in der Wüste von Nevada mit seinem düsengetriebenen Rennwagen Thrust SSC im Rahmen etlicher Versuche einen neuen Geschwindigkeitsrekord für Landfahrzeuge aufstellte: mit 1.228 Stundenkilometern und Mach 1,016 – womit er schneller als der Schall gefahren war. Anschaulicher ausgedrückt, fuhr Green mit einem Auto in einer Stunde durch die Wüste, die sich zwischen Basel und Kopenhagen erstreckt. Sein Kerosin-Verbrauch pro Sekunde: 16 Liter. Ausgerechnet vom Wochenblatt Die Zeit nach seinen Motiven befragt, verwies der Bomberpilot auf Lindberghs Atlantiküberquerung. »Der hatte keine dringende Verabredung auf der anderen Seite des Atlantiks. Er hatte nicht mal Post an Bord. Er flog, um zu beweisen, daß man es tun kann. Aus dem gleichen Grund haben wir die Schallmauer durchbrochen …« Hier haben wir das Credo aller Technokraten. An ihm orientieren sich heute schon 14jährige, die einen Mitschüler erstechen: aha – es geht! Verglüht unser Heimatplanet, werden die auf den Mond geflüchteten Technokraten ebenfalls befriedigt feststellen, es sei gegangen.

Bekanntlich ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die Gerade, womit es auch nur logisch ist, die Deckung, Verschmelzung und Explosion der beiden Punkte anzustreben, denn kürzer geht es dann nicht mehr. Damit stoßen wir auf zwei Mythen, die unseren sogenannten Fortschritt tragen: Teleologie und Theologie. Ich erlaube mir, zunächst meinen Kriminalkommissar Köfel sprechen zu lassen, der mit seinem Kollegen Luckenwalde auf der Galopprennbahn am Boxberg (bei Gotha) weilt. »An der Startmaschine trotzte nach wie vor ein Fuchs, der allerdings eher einem Windhund glich. Bei den kleinen edlen Rennern mit den seidigen Fellen konnte man jede Ader und jede Rippe zählen. Köfel fragte sich, ob ein Pferd in freier Wildbahn wie der Teufel über drei Kilometer preschen würde, nur um sich beklatschen zu lassen, den Tierarzt aufzusuchen, für 150.000 Euro den Besitzer zu wechseln. Von Springpferden wußte er mit Sicherheit, daß sie aus freien Stücken niemals über Teppichstangen oder Friedhofsmauern setzen würden. Vielleicht drehte auch ein Dakota-Mustang bei der Büffeljagd ziemlich auf, aber bestimmt nicht schnurgerade. Die Gerade war auch in diesem Oval auf dem Boxberg gegeben. Geschwindigkeitswahn und Zielstrebigkeit gehörten untrennbar zusammen. Warum sollte sich einer ohne Ziel verausgaben – sich krankrennen für nichts? Das Ziel des unausrottbaren Fortschrittsdenkens im allgemeinen war es, in der Schöpfung, die man nicht selber in Gang setzen durfte, wenigstens die Nase vorn zu haben. Macht euch die Erde untertan

Ich denke, hier hat Köfel den theologischen Kern der zielstrebigen Veranstaltung namens Fortschritt erwischt. Er ist ein Minderwertigkeitskomplex. Scham und Schande setzen uns zu, weil uns die Selbsterschaffung verwehrt war. Wir fanden uns und das Universum bereits vor. Nicht voraussetzungslos zu sein, empfinden wir offenbar als äußerst demütigend; es kratzt an unserer Souveränität; wir sind nur relativ. So halten wir uns dadurch schadlos, daß wir nach und nach all das zu machen trachten, was sich als machbar erweist. Wir müssen unsere Schöpferkraft unter Beweis stellen. Unser größter Triumph kann dann natürlich nur unsere Selbstausrottung sein. Als weiteres Motiv für seine Rekordjagd in der Wüste von Nevada führte Green der Zeit gegenüber an, er und sein Team wollten »die ersten sein, die mit einem Bodenfahrzeug Überschall fahren«. Ergo wird es demnächst heißen: zwar haben wir die Welt nicht erschaffen, aber wir werden sie zumindest als erste wieder beseitigt haben.

Vielleicht ist Kommissar Köfel auch der richtige Mann für die Frage, warum die meisten unserer Zeitgenossen noch immer so wenig beunruhigt vom sich offensichtlich potenzierenden Sog des Niedergangs seien. »Falsch!« erwidert Köfel. »Es ist eben nicht offensichtlich.« – »Wieso?« – »Die Tageszeitungen sind schuld. Ginge es mit rechten Dingen zu, müßten sie ja längst stündlich erscheinen. In ihrer täglichen Erscheinungsweise liegt die gleiche Täuschung, die uns auch von unseren Uhren und Kalendern bereitet wird. Sie gaukeln vor, am Tempo des Lebens und der Weltgeschichte habe sich nichts geändert. Unser tägliches Sichabhetzen ist in die vertrauten Raster der Zeit eingebettet wie der Kriegsberichterstatter in Bushs oder Obamas Truppen. Unsere Krankheiten – zu Symptomen des Stresses verharmlost – führen wir auf falsche Ernährung oder falsche Ärzte zurück. Das Herze flattert uns, das Handy tobt, doch solange des morgens die Zeitung im Kasten steckt, unsere Digitaluhr verläßlich Sekunden schiebt und das Geschichtsrad seit Urgedenken an jeder Jahreswende den gleichen Zahn zuzulegen scheint, kann die Lage noch nicht besonders besorgnis-erregend sein.«

Darauf einen Dujardin ..!

Zur Erklärung: Ich hatte dem Chefredakteur der Tageszeitung Junge Welt um 2005 vorgeschlagen, diesen Beitrag in der Sylvester-Ausgabe zu bringen. Wie erwartet, hustete er mir was – ohne sich selbstver-ständlich zu einer Stellungnahme herbei zu lassen. Dazu hatte er keine Zeit.
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