Donnerstag, 1. Dezember 2022
Nasen Anhang 17—24
ziegen, 10:30h
A-17 Konräteslust (→ Laughlin)
Mein 2010 verfaßter Roman Konräteslust spielt in einer gleichna-migen, rund 3.000 Leute umfassenden Zwergrepublik bei Gotha, die von der thüringischen Landesregierung geduldet, teils sogar gefördert wird. Im folgenden Auszüge. Besucher Achim Dömmersbach, ein Berliner Flötist um 40, frühstückt in der Kommune Walnußhaus.
Von Lisa erfuhr er zu seiner Verblüffung, es gebe nur zwei Grundschulen in Konräteslust – keine anderen Schulen. Sie selber würde gleich zur BG Montaigne gehen, die im Waisenhaus tage. BGs waren Bildungsgruppen. Die sehr praktisch ausgerichteten Grundschulen wurden gern besucht, obwohl es keine allgemeine Schulpflicht gab. War ein Kind 10 oder 11, überlegte es gemeinsam mit seinen Eltern und Betreuern, wie es weitergehen könnte. Den Wunsch, ein Gymnasium in Gotha oder die traditionsreiche Salzmannschule in Waltershausen zu besuchen, äußerte es selten. In der Regel ersuchte es gemäß seiner Neigung um Aufnahme in einer der ganz unterschiedlich orientierten BGs der Republik. Allgemeine Lehrpläne oder Vorschriften über die Gestaltung und den Umfang des Unterrichts existierten nicht. Die Gruppen waren von ihrem Leiter oder ihrer Leiterin geprägt, die ihren eigenen Konzepten folgten. Zum Teil zogen sich die LeiterInnen »Gastdozenten« heran wie etwa bei Montaigne den erwähnten Schriftsteller Heinz Jäckel. Oder sie besuchten mit ihrer Gruppe einen Betrieb der Republik zwecks Erforschung und Mitarbeit. Sie erprobten und veränderten ihre Konzepte im Lauf der Gruppenpraxis. Das heißt, die »SchülerInnen« trugen zu diesen Konzepten nicht unerheblich bei. In der BG Montaigne lag das Schwergewicht auf den Bereichen Kritisches Denken / Europa in der Renaissance / Französische Sprache. Aber selbst dort wurde keineswegs nur geistig gearbeitet. So betreute die Gruppe einen kleinen Weinberg, den sie selber oberhalb des Hutewäldchens angelegt hatte. Die dortigen Anhöhen gehen gen Süden. Wie sich versteht, hieß der Weinberg Montaigne. Im übrigen wurden die BGs von jedem Jugendlichen, der für diese Art des Unterrichts Feuer gefangen hatte, mehr oder weniger oft gewechselt. Im ganzen sprang dabei eine hübsche Allgemeinbildung heraus – sofern man Jäckels ausnahmsweise auf englisch abgehaltener Predigt anhing, less sei more.
Pianistin Lydia hat Achim in die von ihr geleitete BG Prokofiev eingeladen. Rund ein Dutzend »SchülerInnen«, zwischen 15 und 17 Jahre alt, widmen sich in der Friedhofskapelle an zum Oval gerückten Tischen dem Themenkreis Kommunismus / Fortschritt / Musik / russische Sprache und Literatur. Heute geht es um die Technik. Achim stellt seine silberne, vielklappige Querflöte vor; Jaromir hält ein Kurzreferat über die rüde Industrialisierung in der Sowjetunion.
Man stieß auf das Problem der Abhängigkeit. Kerzen lassen sich tatsächlich von Einzelnen oder von kleinen Gruppen recht einfach herstellen. Wird auch das Wachs selbstproduziert, ist die Autonomie perfekt. Dagegen ist der moderne Wohlstandsmensch von einer Megamaschine und von tausend sogenannten, jeweils anders zuständigen Experten abhängig. Eine Panne, und ganze Stadtviertel oder Großstädte sitzen im Dunkeln. Ein Defekt im Ölbrenner, und der Experte läßt Familie Hurtig zwei Tage frieren, ehe er kassiert. Hinzu kommt der Machtfaktor, auf den Jaromir ja schon hingewiesen hat. Beherrsche ich die Produktion, beherrsche ich die Menschen. Indem uns die Megamaschine enteigne, entmündige sie uns, formulierte Lydia. Sie nehme uns dankbar alles ab: die Sorge um unser Stück Land, das sie gleich mit 50 anderen Stücken verschmilzt; unser letztes Geld, weil wir uns gegen Notfälle versichern müssen; den Rest unserer Menschenwürde, den wir beim Shoppen und Zappen noch nicht eingebüßt haben.
Aber die Erleichterung, die uns Technik oft gewähre, lasse sich auch nicht so einfach wegreden, gab die Rötliche mit dem Bürstenschnitt zu bedenken. Wer das Brennholz für die ganze Kommune nur mit der Hand sägen wollte, käme zu keiner BG-Sitzung mehr, vom Muskelkater ganz zu schweigen. In der Ziegelei liefen die Band-, Kreis- und Kettensägen den ganzen Tag. Verstoße das gegen den Anarchismus?
»Tja, der Streit ist alt«, sagte Lydia lächelnd. »Der Engländer William Godwin gilt als Begründer des politischen Anarchismus. Er will bereits um 1800 – als die Industrie noch in den Kinderschuhen steckt – alle Möglichkeiten der Automation ausgeschöpft wissen; er sei davon überzeugt, dadurch könne die täglich notwendige physische Arbeit des Menschen auf eine halbe Stunde verringert werden. Nichts anderes glaubten Leute wie Lenin und Zuse, der Erfinder des Computers. Wer weiß, daß Godwin ursprünglich evangelischer Prediger war, könnte hier einen uralten Menschheitstraum als Vater des Gedankens wittern …«
Sie blickte fragend in die Runde. Das Wiesel krähte: »Schlaraffenland! Paradies!«
»Ganz genau, Tim. Und ich wage zu bezweifeln, die Bestimmung des mit Würde begabten Menschen liege darin, wie ein Säugling an der Brustwarze der Megamaschine zu hängen. Ist es nicht vielmehr so, daß wir überhaupt erst durch die Aneignung unserer Umwelt zu Menschen werden?«
Die »Aneignung« war selbst Achim zu hoch. Eine Erörterung ergab: Die Notwendigkeit, für unseren Lebensunterhalt, für unser Fortkommen zu sorgen, gestaltet uns selbst nicht weniger, wie sie unsere Umwelt gestaltet. Der Mensch »erschafft sich« im Prozeß seines Eingreifens – durch Arbeit im weitesten Sinne.
»Nun ja«, wagte Achim zu bemerken. »Es kommt vielleicht doch auf die Art der Arbeit an. Gestern half ich in der Mosterei der Bornmühle mit. Wenn da einer im Stehen stundenlang einen Plastikschlauch in leere Flaschen tunken muß, trägt er wohl kaum zu seiner eigenen Vervollkommnung bei – er ist vor allem geschafft. Und wenn er nicht gut auf sich aufpaßt, kommt er sogar dümmer aus der Mosterei heraus, als er hineinging.«
Zustimmendes Gelächter. Die Runde einigte sich darauf, es gebe keine Pauschallösungen. Man müsse von Fall zu Fall entscheiden, ob Einsatz von mehr Technik sinnvoll sei oder nicht. Dabei seien sich die meisten Menschen nicht darüber im klaren, wie komplex die zu entscheidende Frage sei, betonte Lydia. Jedem Vorteil stehe ein Nachteil gegenüber, und es gebe immer Dutzende dieser Paare. Achim unterstützte sie. Man bedenke nur, was alles an einem Auto hänge, sagte er im Gedenken an Heinz Jäckels Vortrag über die Pferde. »Doch meinem Vater winkte aus jedem abbiegenden VW-Käfer, dem er neidisch nachblickte, nur die große Freiheit aufzubrechen, wohin er will – die man nach Hölderlin allerdings verstehen lernen muß. So in seinem Gedicht Lebenslauf.«
Ein bislang schweigsames Mädchen, das viel mitschrieb, hatte offenbar über irgendetwas gegrübelt. Jetzt sagte es ziemlich bestimmt:
»Abwägen ist ja schön und gut – nur hat die Sache einen Pferdfuß. Es wird nämlich immer schwieriger und irgendwann sogar unmöglich. Harry – das ist mein Vater – sagt, es liegt an der Verselbständigungstendenz der Megamaschine. Sie drückt uns ihre Bedürfnisse auf, sie fordert ihr Recht. Das nennt man dann Sachzwänge. Jedenfalls sei es im kapitalistischen Ausland so. Welcher deutsche Bundesbürger könne denn noch auf ein Auto verzichten, ohne gesellschaftlich abgehängt zu werden? Und wenn die BRD auf die Autoproduktion verzichte, bräche die halbe Wirtschaft zusammen. Harry verhöhnt die vielen angeblichen Linken, die neuerdings vom notwendigen Umbau der Industriegesellschaft sprechen – wartet mal …«
Sie kramte in ihren Papieren, bis sie fündig geworden war. »Er hat mir eine Stelle aus Lenins Staat und Revolution gezeigt, das in seinem Bücherregal steht. Da schwärmt der Führer des Proletariats von einer Schule der Fabrik, die den revolutionären Erfordernissen – also dem bürokratischen Zentralismus – sehr zugute komme. Mit der Maschine oder Keule revolutionärer Geschlossenheit werde nach und nach weltweit jede Ausbeutung erdrückt und erst, wenn sie restlos vom Erdboden getilgt sei, werden wir diese Maschine in den Winkel stellen. Dann wird es weder Staat noch Ausbeutung geben. Das verhöhnte Harry mit einem Beispiel aus dem Reich der Haustiere. Lenin kauft sich einen kleinen Kläffer, den der Hundezüchter als Pinscher bezeichnet. Nach zwei Wochen macht Lenin Urlaub in Konräteslust, wo ja Hundeverbot herrscht. Zurückgekehrt, hat sich sein angeblicher Pinscher, unter der Obhut seiner Haushälterin, zu einem Säbeltiger ausgewachsen. Lenin erschrickt nicht; er holt schnell einen Keks aus der Küche, um den Säbeltiger damit ins Tierheim zu locken. Lenins Ende könne ich mir wohl selber ausmalen.«
Pause. Einige spielen auf dem Vorplatz Kubb. Später sitzt man bei Kaffee und Kuchen.
Achim schlenkerte mit seinem Handrücken. »Verscheuchen wir die Traurigkeit! Ihr seid ja wirklich gut aufgelegt hier. Das Schulklima gefällt mir. Und das Engagement der jungen Leute! Wie erreicht man das?«
Lydia verstülpte die Lippen und dachte nach. »Vielleicht zuerst: Keine Pädagogik! Die Mädchen und Jungen müssen als künftige RepublikanerInnen ernst genommen werden.«
»Gilt bei euch die bundesdeutsche Volljährigkeitsgrenze?«
»Ja. Sie beläuft sich aber darauf, daß eine 17jährige kein Vetorecht und keinen Zugriff auf die Bank hat. Ansonsten gestaltet sie mit wie jeder Erwachsene.«
»Und was wäre noch wichtig?«
»Keine Schulpflicht! Selbst in unsere Grundschulen wird kein Kind gezwungen. Wir brauchen den freiwilligen Einsatz und die selbsterrungene Erkenntnis des jungen Menschen – nicht seine Unterwürfigkeit. Während Lenin, wie wir hörten, die Schule der Fabrik rühmte, geißelte der von mir angeführte Godwin die Sklaverei des Schuljungen – 120 Jahre vor Lenin. Und du wirst ja selber wissen: nötige ich ein Kind ans Klavier, kommt nur Krampf dabei heraus.«
Achim lächelte etwas schwermütig, denn bei ihm war es so gewesen. Dann hakte er nach: »Ihr trefft euch an fünf Nachmittagen der Woche jeweils für drei Stunden, hat mir ein Mädchen gesagt. Zwängende Zeitrahmen lehnt ihr also nicht ab?«
»Sie werden oft überdehnt, manchmal auch gesprengt. Heute sitzen wir bestimmt noch bis halb Sieben hier. Im Sommer kann es geschehen, daß wir zur Nesse rennen, um uns hineinzustürzen. Das Entscheidende ist gar nicht die Unterrichtsdauer, sondern die Vorbereitung auf den Unterricht, die die Mädchen und Jungen individuell oder in Untergruppen leisten. Vorträge vermeide ich. Es gibt Bücher, es gibt das Internet – bei uns wird gebündelt. Oder auch mal experimentiert.«
»Die Gruppen laufen stets ein Jahr?«
»Richtig. Gegen Ende des Kursjahres wird überlegt, wer wo weitermacht, denn im Grundmuster wiederhole ich dann mit Neulingen meinen Kurs. Diese Muster der BGs stehen im Intranet. Es kommen mal neue hinzu, mal fällt etwas fort.«
»Wird dir selbst die Wiederholung nicht langweilig?«
»Bislang nicht. Ich gebe den Kurs erst zum zweiten Mal. Ich bin oft noch unsicher.«
Sie waren inzwischen an die Kaffeetafel gewechselt und ließen sich Jaromirs Pflaumenkuchen schmecken. Neben zwei Thermoskannen mit Kaffee hatte er sogar eine Schüssel mit Schlagsahne gebracht. Die Kubb-SpielerInnen waren gern hereingekommen.
»Ich könnte mir denken, die Kurse gewinnen oder verlieren auch stark durch ihre jeweilige Leitung?« hakte Achim nach.
»Das wohl. Manche wählen ihre BG gerade nach diesem Gesichtspunkt aus. Aber ich glaube, unbeliebte LeiterInnen gibt es gar nicht mehr bei uns. Die halten sich nicht.«
Achim wandte sich an die Rötliche mit dem Bürstenschnitt, die ihm zufällig gegenübersaß. Dabei winkte er mit dem Daumen zu Lydia:
»Wie beliebt ist denn sie?«
Die Rötliche hob verzückt ihre Brauen, wobei auch ihr hübscher Mund aufging. Dann schob sie sich schlagfertig einen Teelöffel voller Sahne hinein und quetschte hervor:
»So!«
Lydia hielt sich die Hand vor ihren Mund und schüttelte ihren Kopf. Sie wirkte ungespielt verlegen. Achim nickte ihr mit ermunterndem Lächeln zu.
Kurz darauf sprach ihn Tim das Wiesel auf sein Berufsleben als Musiker und die Lebensqualität in der Hauptstadt an. Achim gab bereitwillig Auskunft. Was die Lebensqualität betreffe, gehe ihm erst in diesem freien Städtchen auf, unter welcher Dunst- und Lärmglocke sich die BerlinerInnen durch ihren Alltag zu zappeln hätten. Für MusikerInnen bestehe der heimtückischste Lärm in dem Gesäusel und Geschwafel, das schon bald flächendeckend aus den Lautsprechern des öffentlichen Raumes quelle. Einkaufen im Supermarkt: Berieselung. Warten beim Zahnarzt: Zwangsfernsehen. Kinobummel: Straßenmusikanten. Bildschirme auch in den Bahnhöfen der Fernzüge, und zur Krönung neuerdings die Beschallung verschiedener Ubahnhöfe mit Musik von Beethoven oder Dvorak. Angeblich würden dadurch die Penner vertrieben. Er glaube aber eher, dadurch würden Beethoven und Dvorak vertrieben. Alle paar Stunden wiederholten sich die gezielt ausgewählten Stücke. Musikern wie ihm drehten die Gänge durch solche Ubahnhöfe oder Einkaufspassagen natürlich den Magen um. Den Leuten, die dort Pizzen oder Liebesromane zu verkaufen hätten, wahrscheinlich auch, nur merkten sie es nicht.
Als Lydia den Abbruch der Kaffeetafel vorschlug, erhob sich Achim. »Ich werde mich jetzt zurückziehen, denn ehrlich gesagt, Russisch will ich nicht mehr erlernen. Ich war sehr gerne hier. Vielleicht gebt ihr Lydia und mir die Ehre eines Gegenbesuches. Am Samstag veranstalten wir nämlich ein Konzert für Klavier und Flöte in der Ziegelei, wie ihr vielleicht schon gelesen habt. 20 Uhr!«
»Was gebt ihr denn?« wollte die Rötliche wissen.
»Die Sonate opus 94 – von Prokofiev …«
Jubel! Achim nickte lächelnd, nahm seinen Flötenkasten und verließ den Saal.
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Er nahm einen Weg längs des Boberbachs. Zur Linken zogen sich die Wiesen und Äcker bis zu Hämmerchens Scheune hin. Von einer Baumspitze aus spähte ein Bussard nach Mäusen. Der Bursche besaß weder Jagdschein noch Abitur. Um Kartoffeln lesen oder Flöte spielen zu können, war es ebenfalls überflüssig, sich der Folter zu unterziehen, über die ihm [seine Tochter] Iris oft genug ihr Leid geklagt hatte. Im Grunde stellte die Folterkammer moderne Schule eine Beleidigung für jeden halbwegs gesunden Geist dar. Sie zermalmte Neugier, Kreativität, eigenständiges Denken, Lust auf Verantwortung, Kritikfähigkeit, weil dies alles nicht auf den angebeteten Lehrplänen stand. Sie hämmerte das Faktenwissen in die Köpfe, das diese brauchen würden, um auf dem einen oder anderen Fließband rollen zu können. Es ging nur darum, »den Anforderungen gerecht zu werden« – nämlich des Kapitals. Man lernte nicht fürs Leben, sondern für Prüfungen. Man lernte für den Konkurrenzkampf. Das hieß, man lernte möglichst kurz zu leben – und sei es ab 45 noch 25 Jahre als Invalide.
Ungerufen fiel ihm das Lied Schicke schicke Schweine wieder ein. Das bewies, es war ein durchtrieben gemachter Ohrwurm. Man lernte für die Schweine, die Orwells Animal Farm beherrschten, und Glukoza stach sie mit einem Hit aus, der ihr vermutlich schon eine im Hafen von Jalta liegende Jacht eingebracht hatte.
A-18 Das Schein-Lexikon (Um 2010, → Löbel)
Es macht sich die Form herkömmlicher Nachschlagewerke wie Wörterbuch, (Real-)Lexikon, Enzyklopädie in literarischer Absicht zunutze. Die Lexikon-Form kann dabei mehr oder weniger verfremdet werden. Die Scheinhaftigkeit des angeblichen Lexikons kann offen eingeräumt oder kunstvoll verbrämt werden. Die Nähe zu Fingierungen, Fälschungen, Fakes kann groß oder gering sein. Selbst die alphabetische Anordnung der einzelnen Textstücke halten nicht alle Autoren für unabdingbar.
In der Spätantike wird die Bezeichnung Lexikon für Wörterbücher der griechischen Sprache verwendet. Das erste deutschsprachige als Lexikon bezeichnete Nachschlagewerk dürfte vom Barockdichter Gotthilf Treuer stammen, der 1660 einen rund 2.000 Seiten starken Zitatenschatz mit dem für Schein-Lexikographen schon wegweisenden Titel Deutscher Daedalus, begreiffendt ein vollständig außgefuhrtes Poetisch Lexicon vorlegt. Es bleibt nicht bei der Poesie. Als Medium, das ein systematisiertes Chaos präsentiert, strebt das Lexikon nach mehr. Es hat System, weil es sich beim Alphabet ohne Zweifel um ein strenges Ordnungsprinzip handelt. Allerdings unterwirft es die Phänomene, die es erfaßt, genauso zweifellos dem puren Zufall, was bedeutet, es löst das Chaos nie auf. Folgt Berta auf Anton, ist nichts über ihre Beziehung oder über ihr Verhältnis zur Umgebung von Xanten ausgesagt. Aber das Ordnungs-prinzip Alphabet ist verblüffend aufnahmefähig; nach Ansicht des Aufklärers Denis Diderot und seiner MitstreiterInnen – die als die ersten »Enzyklopädisten« gelten – paßt sogar die ganze Welt hinein. Spätestens hier – in Mitteleuropa um 1750 – mußten sich skeptische und gewitzte Köpfe finden, die mit einem (erstmals wohl von mir so genannten) Schein-Lexikon zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen suchten: einerseits Parodie der vielen fragwürdigen Wissensanhäufungsbemühungen der zivilisierten Menschheit, andererseits Präsentation der ureigenen, mehr oder weniger genauso fragwürdigen subjektiven Welt des Schein-Lexikon-Schöpfers.
Den Urvater des deutschen Schein-Lexikons haben wir womöglich in Gottlieb Wilhelm Rabener zu sehen. Der sächsische »Aufklärer« wartete 1745 mit einem offensichtlich satirisch gemeinten Versuch eines deutschen Wörterbuchs auf, das verständlicherweise von Lichtenberg begrüßt wurde, der bald darauf mit seinen Sudelbüchern in ähnlicher Richtung ging. Wegweisende ausländische Schein-Lexika waren Ambrose Bierces Wörterbuch des Teufels von 1906/1911 (USA) und Franz Bleis Bestiarium Literaricum von 1920, das die – zumeist berühmteren – Schriftstellerkollegen des Österreichers in Tiere verwandelt. Seeligers Handbuch des Schwindels von 1922 habe ich schon oft genug erwähnt. In jüngster Zeit warteten verschiedene Autoren mit Spezial-Schein-Lexika auf, die sich wahlweise solchen interessanten Fachgebieten wie Fabeltiere und Engel, Träume, Stilblüten, Fiktive Orte, Fiktive Künstlerbiografien, Nie geschriebene Bücher und dergleichen Absonderlichkeiten widmen.
Leider sind dem Schein-Lexikon-Autor nicht nur in thematischer Hinsicht keine Grenzen gesetzt, sondern auch was die Leichtfertigkeit angeht, mit der er sein Werk arbeitet. Eine alphabetische Anordnung verschiedener Beobachtungen kann selbstverständlich recht bequem sein, indem sich der Autor jede nennenswerte Mühe erspart, andere Zusammenhänge herzustellen. Er zieht der Durchdringung die Reihung vor. Das Erzählen verkommt zum Aufzählen. Andererseits kann das Schein-Lexikon in bewundernswerten Fällen eine beißende Kritik jener Wissensanhäufungsbemühungen (auch der Windbeutel- und Schaumschlägerei) darstellen und dem Alphabet trotzdem eine neue oder jedenfalls aufschlußreiche Sicht auf die Dinge abringen. Übrigens kann es auch die Willkür aller Einengungen verhöhnen oder geißeln, nämlich auf sogenannte Sachgebiete, Themen, Motive, also die Willkür von Abgrenzung und Auswahl. Es selber stemmt sich in den meisten Fällen gegen die bekannte Mauer zwischen »wissenschaftlicher« und »schöngeistiger« Literatur. Man wird wohl behaupten können, jedem guten Schein-Lexikon eigne Ambivalenz. Das sehr gute Schein-Lexikon atmet den Geist der Polemik und der Selbstkritik zugleich.
Die Gattung der Schein-Lexika ist noch wenig erforscht. Zu keinem geringen Teil wird die Forschung schon durch die Schwierigkeit vereitelt, einen angemessenen und einigermaßen breit akzeptierten Namen ihres Sachgebietes zu finden. Die Bochumer Germanistin Monika Schmitz-Emans arbeitet abwechselnd mit den Begriffen lexikographisches Schreiben / enzyklopädisches Schreiben / Lexikofiktion. Vor der Suchmaschine seines Internet-Browsers steht der Forscher ratlos. Ein unanfechtbarer Erfinder des Schein-Lexikons kann bislang so wenig präsentiert werden wie eine Vorhersage darüber, ob sich diese Gattung womöglich mit der Ausbreitung sogenannter Internet-Enzyklopädien erübrigen wird. Bekanntlich stehen und fallen diese nicht mit dem Alphabet, weil sie mit punktgenauer Suchmaschine arbeiten.
Ich möchte zum Schluß dieser kleinen Bestandsaufnahme ein nahezu seriöses Schein-Lexikon aus der Feder des österreichischen Biochemikers und Essayisten Erwin Chargaff hervorheben, der ja viele Jahrzehnte in New York lebte. Er brachte 1986 Serious Questions: An ABC of Sceptical Reflections heraus. Eine von ihm selbst vorgenommene deutsche Bearbeitung erschien dann drei Jahre später unter dem hübschen Titel Alphabetische Anschläge. Chargaff begnügt sich mit je einem Artikel unter jedem Buchstaben des Alphabets. Das genügt ihm für einen weltkritischen Rundschlag. Interessanterweise denkt er unter V (»Versuch mit unzulänglichen Mitteln«) über den Essay nach. Zuviel Fachwissen schade ihm, da es die aus dem Inneren kommende Überzeugung (des Essayisten) vergifte. Zu den wesentlichen Vorrausset-zungen eines gelungenen Essays zählt Chargaff ein bestimmtes Temperament – einerlei, welches. Er meint das schreibende Subjekt. »Die Gedanken, die den Text zusammenhalten, fügen sich zu einem Stil, aus dem ein Mensch herausblickt.«
Hat Chargaff recht, ist bei Kollektivwerken wie den herkömmlichen Lexika oder Enzyklopädien die Gefahr gebannt, ihre Artikel mit Essays, vielleicht auch die VerfasserInnen dieser Artikel mit Menschen zu verwechseln. Bei Wikipedia werden diese Schattenwesen »BenutzerInnen« genannt.
A-19 Übelchen (2010, → Löffler)
Alles ist relativ. Mögen deshalb die Übel selbst das Ausmaß von VW-Geländewagen, Butterbergen, Atomkraftwerken, Ölteppichen, Hartz VII, Afrika, Schwarzen Löchern haben – alles halb so schlimm, weil sich immer noch größere Übel denken oder beschwören lassen. Schließlich soll das Universum unendlich sein. Somit sind wir mit Hartz IV noch gut bedient.
Da sie rein quantitativ operiert, greift die weltweit beliebte Theorie des Kleineren Übels in allen Bereichen und Gremien. Während sich rechterhand stets ein Buhmann findet, der mit der Kettensäge droht, gehen zur Linken die Hackebeilchen hoch. Diese werden uns dann als Erfolg im Abwehrkampf verkauft, ehe sie zur Kürzung unserer Renten dienen. Seitenwechsel ist erlaubt. Nach diesem Muster geben sich in unseren kapitalistisch verfaßten Demokratien seit vielen Jahrzehnten zwei bis fünf verschieden angestrichene Parteien die Türklinke des Staatsapparates in die Hand. Welche Schweinerei auch wer gerade ausheckt – mit Hilfe der Theorie des Kleineren Übels läßt sie sich rechtfertigen, ohne dem Stimmvieh schon für heute radikale Lösungen zumuten zu müssen. Nach dem marxistischen Gesetz des Umschlags der Quantität in die Qualität, an das zumindest die reformistische Linke glaubt, stellen sich die radikalen Lösungen irgendwann ganz von selber ein. Man muß nur emsig Reformen aneinander reihen, die zunächst einmal Linderung bringen. Lenke ich die Entrüstung auf uranhaltige Splittergeschosse, stellen meine herkömmlichen Gewehrkugeln geradezu die Rettung vor jenen dar. Ein ziviler Arbeitsplatz an einem Fließband für Katzenfutterkonserven erhebt mich immerhin weit über das Niveau der Menschenfresserei. Die Grausamen sind die auf der Straße brüllenden Nazis – während unsere von einem makellos gekleideten Bundesverteidigungsminister befehligten Bomber weltweit »humanitäre Katastrophen« abwenden. Da unsere demokratischen Parteien ohne Nazis gar zu schlecht aussähen, wissen Verfassungschutz und Polizei, wen sie zu decken und zu züchten haben. So läßt sich stets mit einem Superbuhmann drohen – und sei es mit dessen Verbot.
Wer darauf achtet, taumelt beim Studium der Geschichte von einem Übelchen zum nächsten. Der liberale Zeitzeuge Sebastian Haffner schreibt in seinen Erinnerungen eines Deutschen, die Regierung Brüning (Reichskanzler 1930) sei »im Effekt fast unentrinnbar zur Vorschule dessen« geworden, »was sie eigentlich bekämpfen« sollte. Der Kommunist Gustav Regler behauptet (in seinen Erinnerungen Das Ohr des Malchus) nichts anderes schon von Reichskanzler Wilhelm Marx (1926–28): »Sie nannten ihn das kleinere Übel; es war eine erstaunlich dumme Losung, nicht aggressiv, nur selbstmörderisch. Sie verloren diese Schlacht, wie sie die von Kapp und Cuno verloren hatten.« Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger und seine Gattin Marta wählen 1932 Hindenburg als das »geringere Übel«, wie Marta in ihren Erinnerungen (Nur eine Frau, 1983) kritiklos erwähnt. Die KPD – mit der beide sympathisierten – hatte immerhin zur Wahl von Thälmann aufgerufen, weil jede Stimme für Hindenburg den Krieg wähle. Am 30. Januar 1933 machte dann der neue Reichspräsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler.
Bald darauf – am 16. September 1935 – legt ein gewisser Joseph Goebbels in einer vermutlich intern gehaltenen Rede dar, warum davon abzuraten sei, den Gegner zu sehr in die Enge zu treiben. Brächten wir in der Propaganda zum Ausdruck, die Juden hätten überhaupt nichts mehr zu verlieren – »ja, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn sie kämpfen. Wenn Sie ihnen aber eine Chance geben, eine geringe Lebensmöglichkeit, dann sagen sich die Juden: Wenn die jetzt im Ausland wieder anfangen zu hetzen, dann wird's noch schlimmer – also, Kinder, seid doch mal still, vielleicht geht's doch!« Zitat nach Wolf Schneider: Wörter machen Leute, München 1986, Seite 128.
A-20 Trotz & Töne (2022, → Lully)
Meine größte musikalische Schwäche dürfte mein Gesang sein. Ich meine damit weniger meine technische Unbeholfenheit beim Singen, vielmehr die Blässe meiner Gesangsstimme. Sie ist zu farblos und zu dünn. Möglicher-weise gilt das nur fürs Singen. Jedenfalls versicherten mir schon mehrere Leute unabhängig voneinander, an mir sei ein Rundfunk- oder Synchronsprecher verloren gegangen. Haben sie recht, wäre es nicht die einzige Chance, die ich verpaßt hätte. Hüten Sie sich vor einem Ehrgeiz, der mit Unschlüssigkeit gepaart ist. Er bringt es nie zu was.
Zurück zum Gesang. Ich könnte mich natürlich mit dem Gedanken trösten, andere kämen auch nicht unbedingt als John Lee Hooker auf die Welt. Bei uns zum Beispiel Kai Degenhardt oder Manfred Maurenbrecher. Von Manfred weiß ich, er liebte zu unserer gemeinsamen Trotz & Träume-Zeit Bob Dylan, Van Morrison, Randy Newman. Aber für mich sind auch diese weltberühmten Sänger nicht gerade umwerfend – es sei denn, weil man sich lieber die Ohren zuhält und dabei stolpert. Irgendwelche Götter pflanzten die Rio Reisers spärlich. Nebenbei brüllt Morrison oft, statt zu singen, und wenn er zuweilen den Fehler begeht, mit Hooker auf einer Bühne oder Platte zu singen, sollte man ihn wirklich zu Tarzan in den Urwald schicken.
Warum bestimmte Gesangs- oder Sprechstimmen auf den einen große Faszination ausüben, auf den anderen dagegen nicht, dürfte allerdings kaum zu enträtseln sein. Im Internet wird von Psychologen und Logopäden durchaus viel über einschüchternde (grollende) oder unangenehme (etwa piepsige) Stimmen gelabert. Sie verführten uns sogar häufig zu Rückschlüssen auf Erscheinung und Wesen des Sprechenden oder Singenden, falls er gerade unsichtbar sei. Aber das Rätsel selber – die unterschiedlichen Vorlieben der HörerInnen – umschiffen sie, als stünden sie vor dem Loch Ness. Warum stehe ich, allein vom Höreindruck her, auf Jerry Garcia von Grateful Dead, John McCrea von Cake und Sven Regener von Element Of Crime, Sie dagegen nicht?
Die Erscheinung eines Gesangskünstlers spielt doch sowieso überhaupt keine Rolle. Hier sind wir nur Sklaven der postmodernen Verbilderungssucht. Der betörendste Tenor der Weimarer Republik, Ari Leschnikoff von den Comedian Harmonists, erinnerte mit seiner knorrigen Untersetztheit an einen bulgarischen Rebstock. Jerry Garcia wirkt auf der Bühne dicklich bis dümmlich; der vollbärtige John McCrea, Baseballmütze auf, könnte gerade vom Dreh eines typischen, ekelhaften US-Werbefilms für Hundefutter gekommen sein. Die entscheidende Erotik dieser nicht unbedingt filmreifen »Frontmänner« liegt in ihren eigentümlichen Stimmen.
Immerhin fällt mir jetzt eine Vorliebe auf, die der inzwischen knapp 60jährige Kalifornier McCrea mit Randy Newman teilt. Sie lassen die (englischen) Worte oft buchstäblich auf ihrer Zunge zergehen; sie lutschen und verspeisen sie wie Pralinen. Ich dagegen, so fürchte ich, pflege die Worte meiner Gesangstexte überwiegend lieblos auszustoßen wie Tropfen beim Niesen. Man achtet beim Singen gar nicht auf sie; nur auf die befreiende Wirkung des Atem- und Wasserschwalls kommt es einem an. Genau deshalb war ich auch immer auf der Querflöte so schlecht. Da hat man die Töne, mit Lippen und Zwerchfell, zu formen.
A-21 Weiße Rappen oder Den freien Versfüßen auf den Fersen (2012, → Lyncker)
Soweit ich sehe, treten auf Erden schon seit ungefähr 170 Jahren literarisch gestimmte Apostel auf, die ihre LeserInnen mit Prosagedichten beglücken oder aufrütteln, je nach dem. Hier hat sich soeben Günter Grass mit einer Aufsehen erregenden Attacke gegen ein kleines Land eingereiht, das ohnehin bereits zu alttestamentarischen Zeiten einen Zustand größtmöglicher Feindseligkeit anstrebte. Hätte er seine Attacke, per »Prosagedicht«, somit auf einem weißen Rappen geritten? Das wäre in der Tat große Kunst. Aus denselben Erwägungen heraus könnte der Gesetzgeber den Lehrberuf des Schlosserschreiners anordnen – und siehe da, die hinter dem Gesetzgeber stehende Industrie hat das Unmögliche bereits vollbracht, sie hat das Automotorrad erfunden, wie mir an jedem Wochende einige jüngere, in Lederzeug gehüllte MitbürgerInnen beweisen, die die umliegenden Feldwege als Rennbahnen auffassen. Warum sollten sie untätig bleiben, während die Nato Bombardierungen als Friedensmissionen und den Schutz afghanischer Mohn-felder als Verteidigung der Menschenrechte ausgibt?
Ich fürchte, ich habe mich wieder einmal auf ein verdammt weites Feld begeben. Also eins nach dem anderen. Das sogenannte Prosagedicht ist ein Phänomen der sogenannten Modernen Lyrik. Über den hohen Ruf dieser Unterabteilung des Literaturbetriebes, die uns hartnäckig mit sprachlichen Erzeugnissen von hoher Beliebigkeit, gewaltigem Zäsurenschwachsinn und allgemeiner Formlosigkeit beliefert, kann sich ein Freund der Ästhetik eigentlich nur wundern. Was wäre daran Lyrik? Da ihre Produzenten jedoch beteuern, in jeder anderen Gestalt verlören ihre sogenannten Gedichte an Aussage- und Bannkraft, kommen wir nicht umhin, sie achselzuckend der Sphäre von Religion, Aberglaube und Kult zu überantworten. Um die Illusion Fortschritt (1996) zu zerfetzen, zieht der US-Paläontologe Stephen Jay Gould, nebenbei guter Prosaist, das in den Staaten überaus beliebte Baseballspiel heran, das irrwitzige Regeln hat. Diese Regeln ließen sich beim besten Willen nicht vernünftig begründen, doch Millionen glaubten inbrünstig an sie, versichert Gould. In der Sportart »Moderne Lyrik« verhält es sich lediglich etwas komplizierter, weil sich jeder Lyriker seine eigenen Regeln schafft.
Ist er schlau wie Theo Breuer (Wandler Nr. 19), orakelt er etwas von einer »inneren Gesetzmäßigkeit des Freiverses«, um uns einen Hutmacher aufzubinden, der Schuhe feilbietet. Ein Vers hat mit Freiheit nichts zu tun. Wie zum Beispiel der französische Denker Alain gern betonte, hat es sich bei Lyrik schon immer um gebundene Rede gehandelt. Sie ist nicht frei sondern Form. Wie anders wollte sie sich auch von der Prosa unterscheiden? Denn von den möglichen Themen und der möglichen Bezauberung her unterscheiden sich Lyrik und Prosa um keinen Deut. Da wirft man Literaturstars wie Schiller oder Grass »Gedankenlyrik« vor, dabei ist jede Lyrik von gedanklicher Art, sofern sie durchs Gehirn ihres Schöpfers ging. Bei Grass ist man sich darin nicht immer sicher. Und wer umgekehrt der Prosa von Thoreau oder Tschechow »Gefühl« absprechen wollte, kann nur ein Sack voll Grillkohle sein. Ist es uns aber »nur« um die Anschau-lichkeit oder Sinnlichkeit eines Textes zu tun, betrifft es Lyrik und Prosa gleichermaßen. Auf diesen angeblichen Gegensatz von gefühlsbetonter und durchdachter Sprache komme ich noch zurück.
Das Gedicht ist ein Fingerhut
Der Unterschied zwischen Lyrik und Prosa liegt allein im Bindungsgrad. Wer Prosa schreibt, springt ins aufgewühlte Meer. Und es gehört viel Disziplin dazu, hier eine schiffbare Route zu finden. Langen Atem braucht man auch. Wer dagegen »dichtet« – nach herkömmlicher Art – schreibt in Kanälen. Von jener Disziplin ist er entlastet. Das Eigenartige und Wohltätige des Gedichts liegt gerade in seiner Enge. Das Gedicht ist ein Handschuh; fast möchte man sagen, ein Fingerhut. Es nimmt nur auf, was paßt. Die strenge Form geht vor; das Maß der Strophen und Verse schreibt vor. Dieser freiwilligen Fesselung einen Höhenflug abzuringen, darin besteht die spannende, allerdings auch mühsame Arbeit des Gedichtverfertigers. Daß es dazu nicht unbedingt des Endreims bedarf, sieht man von Hölderlin bis Hacks. Aber es ist Arbeit. Wer sie fürchtet, wird sich unter das Dach des postmodernen »erweiterten Kunstbegriffs« retten, den niemand hartnäckiger verhöhnt hat als der Maler und Lyriker Robert Gernhardt. Dieses Dach ist groß genug, um alle Strohköpfe, Scharlatane und Faulpelze der Welt zu beherbergen. Der Forderung der Nachprüfbarkeit entgehen sie allemal. Denn woran wollte man ihre Ausgeburten, die weder überlieferte Maßstäbe anerkennen noch einen ihnen »inhärenten« Maßstab entwickeln, messen? Das einzige und das Großartige, worauf sie pochen können, ist die Nochniedagewesenheit ihrer Produkte. Der Kapitalismus mit seinem »Innovati-ons«-Zwang, auch Neuigkeitswahn genannt, läßt grüßen.
Dem unreligiösen Freund der Ästhetik drängt sich natürlich die Frage auf, warum sich im Zuge der Moderne ausgerechnet Maler, Bildhauer, Komponisten und sogenannte Dichter bereitwillig dazu hergeben, an der Zerstörung der Form mitzuwirken. So weit ich sehe, gibt es dafür mindestens vier Gründe, die sicherlich immer anders zusammenspielen. Den ersten Grund habe ich bereits angedeutet: man möchte nicht veraltet sein. Das Schimpfwort dafür ist »antiquiert«. Also muß etwas Neues her, sofern man nicht als HinterwäldlerIn gelten möchte. Selbstverständlich wird es immer auch als das Bessere verstanden. Die Wurzel liegt in unserer Vergänglichkeit. So gut wie jeder junge Mensch ist davon überzeugt, er könne dies oder das, am besten sogar alles, besser machen als seine zahlreichen VorgängerInnen. Das Kind überflügelt seine »Alten«, auf die es sowieso schlecht zu sprechen ist.
Was Wunder, wenn unsere »Neuerer«, dies zum zweiten, auch dem allgemeinen Fortschrittswahn aufsitzen. Die Menschheit schreitet unbeirrt auf ihr Heil los, und nicht etwa heillos. Irrtümer oder Rückschritte zieht der Neuerer nicht in Betracht. Ironischerweise bleibt er mit seinem Fortschrittsglauben dem Anspruch des 19. Jahrhunderts verhaftet, man müsse die Wirklichkeit wiedergeben. Denn in der Wirklichkeit wird bekanntlich alles immer kniffliger, vielschichtiger, unübersichtlicher – die Kultur verfeinert sich. Und dabei möchte er mithalten. Doch für mich besteht die Aufgabe der Literatur und Kunst nicht in dieser Nachäffung, sondern gerade umgekehrt darin, dieser bedenklichen Entwicklung, die uns zu Sklaven eines Trommelfeuers aus Trümmern, Splittern, Fetzen macht, klare Gestalten entgegen zu halten. Nur solche sind Quellen wirklicher Erkenntnis und Kraft. Daß sie bei aller Reinheit trotzdem zauberhaft wirken können, sieht man an einem Tagebuch-Eintrag von Jules Renard so gut wie an einem Bläserquintett von Paul Hindemith. Dies liegt ohne Zweifel daran, daß der Mensch und seine Welt unergründ-lich sind. Man braucht sie nicht künstlich zu verrätseln.
Der nächste Grund liegt auf der Hand. Er ist allen Hand-werkern einsichtig genug, um mich hier nicht an ihm aufzuhalten. Er lautet: Es ist leichter, eine Form zu zerstören als eine zu schaffen. Es ist bequemer, ein Pißbecken zur Kunst zu erklären als eine Gestalt zu modellieren. Bei den modernen Lyrikern stellt die angebliche Gedichtform das Pißbecken dar, in das sie ein paar Reizworte kotzen. Mondrian gab die Gitter, die manchmal auf den Pißbecken liegen, als Stilleben aus, vor denen in Andacht zu erstarren sei.
Den vierten Grund erblicke ich in dem durchaus alten, unseligen Begehren der KünstlerInnen, ihren ureigenen Ausdruck, ihre ganz persönliche Sprache zu finden. Nach etlichen tausend Jahren emsigen Kunstschaffens ist da natürlich nicht mehr viel zu holen. Folglich weicht der Nachwuchs nur zu gern auf »Sprachen« aus, die mit Kunst nichts mehr zu tun haben. Sie setzen uns leere Leinwände, flimmernde Bildschirme, Wortsalate vor – in Zeiten des events auch gerne alles zusammen. Sie leiern Telefon-bücher herunter oder verwandeln jedes Ding, das ihnen in die Hände fällt, in Fakirbretter oder Striegelbürsten, weil sie ja, wie ich schon sagte, nichts so lassen können wie es ist. Doch was immer auch, sie erklären es für die jüngste Vervollkommnung des Pegasus – und reiten dann 30 Jahre lang überaus einträglich darauf herum. Zugegeben, Grass reitet nicht; er ist wandlungsfähig. Aber sein jüngster weißer Rappe namens Prosagedicht, der sich vor lauter ungelenken Schachtelsätzen die Hachsen bricht, wird bis zum letzten Atemzug Dukaten scheißen, weil er einem Marken-Stalle entstammt.
Um noch kurz darauf einzugehen: Blechtrommler Grass imponierte im Laufe seines langen prominenten Lebens nicht unbedingt durch Gradlinigkeit, womit er nebenbei auf den Schlußseufzer meiner Betrachtung verweist. Während er geraume Zeit nach dem Empfang des Nobelpreises (1999) einige SS-Jugendsünden bekannte (2006), hatte er sich 1974, gemeinsam mit Böll, Walser und anderen, gegen den haarsträubenden Freispruch für den NS-Arzt Kurt Borm verwahrt. Während er vom Rande des Sarges aus die TotschlägerInnen aus dem Heiligen Land anprangert, begrüßte er 1999 die Bombardierung Jugoslawiens durch seinen Busenfreund Gerhard Schröder. Um 1970 fanden Klaus-Staeck-Plakate seinen Beifall, die den deutschen Arbeiter ironisch alarmierten, die SPD wolle ihm (dem deutschem Arbeiter, nicht Grass) die Villen im Tessin wegnehmen; im Oktober 2004 verkündete er gemeinsam mit 60 anderen Prominenten in einem Aufruf, das Ausplünderungs- und Ertüchtigungs-programm Hartz IV sei »für den Standort Deutschland überlebensnotwendig« – wie ja auch Phrasen und Superlative für Schriftsteller unverzichtbar sind. Den Marsmännchen, die die ausgeglühte Erdkugel besichtigen werden, wird sich die Art Grass vom Skelett her als allesfressendes Chamäleon darstellen.
Die Gedanken sind frei und die Verse ohne Gedanken
Ich will nun versuchen, auf »Gedankenlyrik« und das leidige Grenzproblem zurückzukommen, siehe Schlosser/Schreiner. Was ich bis zum Weltuntergang erbittert bekämpfen werde, das ist neben der Heiligsprechung des Volkes Israel die Vergötterung sogenannter Dichter. Hier sind wahrscheinlich die berüchtigten »Spalter der Arbeiterklasse« am Werk. Da die Linke im allgemeinen Hierarchien liebt, macht sie jedenfalls bei der verbreiteten Praxis, einen Keil zwischen die »Dichter« und alle Nichtdichter zu treiben, emsig mit. Dabei stehen die Dichter – weibliche immer eingeschlossen – ersichtlich umso himmelhöher über den Nichtdichtern, je weniger es von jenen gibt. Für Blätter wie Junge Welt und Ossietzky sind unsere ehrfurchtgebie-tenden deutschsprachigen Dichter eigentlich nur Heine, Brecht, Hacks, Handke und, wie sich versteht, Johannes Erbrecher. Alle anderen sind nur Schriftsteller. Sie stellen ihre hölzernen Buchstaben auf wie Jägerzäune. Sie verfertigen Berliner Mauern. Nur der (linke) Dichter sitzt auf dem (hohen) Roß und webt an Deutschlands Leichentuch.
Scherz beiseite. Nach landläufiger Vorstellung – die Linke liebt alles Landläufige und Volkstümliche – ist der Dichter fürs Gefühl zuständig. Die Gedanken werden dem Schriftsteller überlassen, der sie durch die Bleiwüsten seiner Prosa schleppt, in welcher Form auch immer, ob Abhandlung, Kurzgeschichte, Roman. Ja selbst durch Gedichte! Wie ich ja schon durch Schiller und Grass belegt habe. In Wahrheit gibt es selbstverständlich nicht ein sprachliches Erzeugnis, das von Gedanken frei wäre. Die Sprache besteht nur aus Gedanken; andernfalls wäre sie Musik. Es ist sicherlich richtig, daß wir eine von Pflaumenbäumen und Johannisbeersträuchern durchsetzte Rede zumeist anheimelnder finden als eine Rede über Pomologie (das ist die Obstbaukunde). Gleichwohl handelt es sich bei dem bekannten Vers Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See um einen durchweg begrifflichen Satz.
Wie F. G. Jünger in Sprache und Denken (1962) ausgeführt hat, sind auch unsere Dingwörter Schemata, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit den gemeinten leibhaftigen Phänomenen haben. Sie sind abstrakt. Sie stellen uns – so Jünger – durch ihre Begrifflichkeit einen »Riegel vor der Zudringlichkeit und Übermacht der Wahrnehmung« zur Verfügung. Sie helfen uns, die Dinge und Ereignisse zu ordnen, zu klären und so zu bewältigen. Was sich dagegen Kleinfritzchen unter einem Dichter vorstellt, das ist ein Nebelwerfer, ein Schaumschläger – eine taube Nuß, in die ein hilfsbereiter Freund des Dichters, der im Kölner Dom die Altarleuchter putzt, Weihrauchkörnchen geschmuggelt hat. Aber sie haben es faustdick hinter den Ohren, diese Dichter! Sie schwören bei Gott, nur sie sprächen zu uns über Gefühle und zu Herzen gehend. Wie machen sie das denn, ohne Gedanken? Ohne Sprache gibt es keine Gefühle. Es gibt dann nur Regungen, von denen wir nichts wissen. Sobald wir eines Gefühls inne werden, ist es durch unser Bewußtsein gegangen. Und nur auf diesem Wege kann es auch, soweit es Schriftstücke angeht, geäußert werden.
Selbstverständlich gibt es Prosa, die ungenießbar ist – viel zu viele. Man muß dazu nicht unbedingt Grass lesen und mästen – versuchen Sie es einmal mit bereits toten Leuten wie Georg Simmel, Rudolf Steiner, ja sogar Kafka. Dessen Prosa ist unerfreulich kalt, naturfern und unsozial, wie ich schon einmal andernorts behauptet habe. Ich glaube, in dieser Hinsicht ist ihm sogar Grass vorzuziehen. Gewiß, gemäß meines Unglaubens an »Willensfreiheit« können sie allesamt nichts dafür. Sie haben sich ihr Naturell nicht ausgesucht. Aber das heißt noch lange nicht, man müsse sie zu Denkmälern oder gar Vorbildern der Menscheit erheben.
Was eine Prosa packend macht ist, von gewissen dramaturgischen Kunstgriffen einmal abgesehen, vor allem ihr Ausdruck. Das meint jedenfalls George Orwell, der übrigens ein hervorragender Essayist war. Nach ihm hat sich der Ausdruck durch drei Merkmale auszuzeichnen: anschaulich, treffend, persönlich. Prägen Sie sich diese drei Begriffe ein. Sagen Sie sie viermal täglich auf, das ist wichtiger als Zähneputzen. Spielen sie jeden dieser drei Begriffe nach dem Aufsagen anhand verschiedener Beispielsätze, die Sie aus Ihrem Gedächtnis kramen oder just neu bilden, durch. Denn Sie werden kaum über Nacht begreifen, was mit ihnen gemeint ist. Falls Sie so dumm sind, SchriftstellerIn werden zu wollen.
Ich gehe hier nur kurz auf das Merkmal persönlich ein, weil es am häufigsten mißverstanden wird. Den Vogel schießen hier die Avantgardisten ab. Es geht nicht darum, mit Neuigkeiten, Tand oder Seelenmüll zu glänzen. Ganz im Gegenteil. Wenn Sie nach einer anschaulichen und treffenden Formulierung suchen, fällt Ihnen zunächst das Naheliegendste ein, und das ist eben der ganze Schrott, der sich in den Zeitungen und auf den Bildschirmen und deshalb in Ihrem Gehirn stapelt. Einen persönlichen Zug gewinnt ein Text, wenn er Ihren Blick auf den Gegenstand (oder gar die ganze Welt) in möglichst geschlossener Konsequenz zeigt. Da können selbst Äpfel und Birnen oder die Pomologie oder ein Pferd wie der zugegeben rare weiße Rappe helfen, die so nur bei Ihnen vorkommen, weil Sie, und damit ihr Text, dafür disponiert waren.
Der schwarze Rappe galoppiert
In meinem Aufsatz über Fotografie und Film »Klappe zu, Affe tot«, vor etlichen Jahren in der Zeitschrift Die Brücke erschienen, schwang ich mich zu dem verkünderischen Satz auf, mit jeder Grenze, die fiele, rückten wir dem Nichts näher. Das ging selbstverständlich gegen die unübersehbare, Besorgnis erregende historische Tendenz der Verklumpung und Vermanschung, die mit dem Kapitalismus höchstens einen neuen Schärfegrad – und mit dem vielleicht von mir geprägten Begriff der Globallisierung ihren eigenen Witz bekommen hat. Sie wird uns zum schwarzen Rappen, also zu immer mehr Tautologien, und schließlich zu jenem Tröpfchen hochkonzentrierter »Ursuppe« führen, das Gott dereinst vom Himmel fallen ließ, bevor er mit mächtigem Knall furzte. Das Peinliche ist nur: auf der anderen Seite werden meine Schriften von Schimpfkanonaden gegen die Trennungen durchzogen: Arbeit/Freizeit, Schule/Leben, Privatsache/Öffentlicher Dienst, Sachbuch/Belletristik, Erwerbsleben/Ruhestand und dergleichen mehr. Die DDR ist keineswegs an den streckenweise lächerlichen »Fehlern« zugrunde gegangen, die Friedrich Wolff im jüngsten Ossietzky aufzählt (Heft 11/2012). Grundsätzlich betrachtet, scheiterte sie an fehlender Konsequenz, stellte sie doch nie eine Alternative zum Kapitalismus dar, den sie beneidete und nachäffte. Wolff jedoch beklagt das »psychologische« Ungeschick der SED-Fürsten bei der Erläuterung ihrer marxistisch-leninistischen Linie und das Fehlen »materieller Anreize« – man konnte dem Westen in der Durchtriebenheit nicht das Wasser reichen. Und im besonderen scheiterte die DDR am Unwillen, die »Mauern« zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, Bürgern und Politikern, Notwendigkeit und Vergnügen und so weiter einzureißen. Sie war eine gespaltene Gesellschaft.
Aber da haben wir es schon. Jene Konsequenz hätte ja mehr Abgrenzung vom Goldenen Westen erfordert, also gerade das Trennende betont. Im gleichen Selbstwider-spruch halte ich die Verpanschung von Lyrik und Prosa für unzulässig, während ich in meinen »Erzählungen« emsig Betrachtungen anstelle und in meinen »Betrachtungen« emsig erzähle. Einerseits fordere ich den allseitig gebildeten und geschickten Menschen; andererseits winde ich mich angesichts der Bühnenshows zeitgenössischen »Theaters«, die keine Gattung der Kunst und der Überredung auslassen, in Magenkrämpfen. Ich befürworte anarchistische Kommunen, bei denen »alles unter einem Dach« lebt und schafft, führe selber das Leben eines Eigenbrötlers, dem Distanz über alles geht, hasse Kauf-häuser und verachte illustrierte Literatur. Und so weiter.
Ich schließe mit einer Behauptung, die ich so schnell nicht beweisen kann: hätte ich auf meiner Webseite 100 LeserInnen, die ich zudem einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung aussetzen dürfte, käme ich zu 100 völlig unterschiedlichen Gepflogenheiten, was deren Praxis der Grenzziehung angeht. Jeder würde dieselben Phänomene anders nach »dies gehört vereinigt / dies gehört getrennt« verlesen. In dieser Hinsicht herrscht, ich wette darauf, die reinste Willkür. Somit sollte man von flammenden Worten nie auf die Gesetzgebungskraft ihrer VerkünderInnen schließen.
A-22 Anarchismus (2014, → Mahmud)
Selbstverständlich ist auch das anarchistische Lager zwar kein großes, aber ein weites, zersplittertes, überdies zerstrittenes Feld. Gleichwohl läßt es sich um einige Grundsätze konzentrieren, wie ich doch hoffe. So will ich kühn mit der Feststellung beginnen, der Anarchist wolle den mündigen, vielseitig gebildeten, gleichberechtigten, ungeknechteten Menschen. Deshalb verabscheut er Politik. Er will, daß sich die Menschen selbst regieren, wie sie es schließlich über weite Strecken der Menschheitsgeschichte bereits getan haben. Politik ist Stellvertretung und bringt früher oder später immer Herrschaft und Ungerechtigkeit mit sich. Das schließt unweigerlich ein, daß der Anarchist auch keinen Staat und keine Bürokratie will. Kürzlich las ich von Fabrikanten, die sich vor ungefähr 150 Jahren mit Begeisterung auf die Herstellung von Marmelade warfen, um so den Bürger- und Proletarierfrauen, die ja häufig ohnehin an Freizeitmangel litten, das Beerenpflücken und Einkochen zu ersparen. Man glaube aber nicht, es sei so einfach. Die Konkurrenz häkselt Äste in die Marmelade, womit sie bei Hunderten von Kunden und Kundinnen, darunter leider auch Arbeiterinnen der eigenen Branche, Bauchgrimmen und Todesfälle hervorruft. Wer soll dann die Marmelade noch verfüllen? Und kaufen? Deshalb muß der Staat eine KonfV erlassen, eine Verordnung über Konfitüren und einige ähnliche Erzeugnisse, die er natürlich alle paar Jahre, spätestens nach Neuwahlen, zu verbessern und im übrigen tagtäglich zu überwachen hat – ihre Einhaltung in den Fabriken und Läden, meine ich. Aus dieser KonfV geht zum Beispiel hervor, wenn Sie 1.000 Gramm »Konfitüre extra« aus Kaschuäpfeln herstellen, müssen Sie mindestens 250 Gramm Pülpe oder Fruchtmark verwenden, bei Passionsfrüchten dagegen nur 80 Gramm. Andererseits dürfen Sie Hasenködel oder Reißzwecken noch nicht einmal in Hagebutten-»Konfitüre extra« streuen. Und so weiter.
Da die Möglichkeiten der Fahrlässigkeit und des Betruges in einer modern industrialisierten und globalisierten Nahrungsmittelproduktion riesig sind, nehmen die erforderlichen Verordnungen notwendig das Ausmaß der Regenwälder an, die ihr weichen mußten, und die Legionen der ÜberwacherInnen allein der »Konfitüre-extra«-Produktion könnte man in Notzeiten den Rasen des jeweiligen örtlichen Fußballstadions abweiden lassen. Für die anderen stünden auch Galopprennbahnen und Golfplätze bereit. Im Ernst gesprochen, dürfte die sündhaft kostspielige Bürokratie des Kapitalismus ungeheuerlich sein. 1955 bescheinigte Erich Kuby Adenauers Privat-bundeshauptstädtchen Bonn, es berge »unüberschaubar gewordene Heere« von Staatsbediensteten. Das ist knapp 60 Jahre her. Im heutigen Berlin fällt das Phänomen vielleicht keinem auf, weil sich die Staatsbediensteten mit ähnlich vielen, genauso gut und bequem gekleideten Touristen und Terroristen mischen.
Kommen noch viele Köter hinzu. So will ich mir zu diesem Gesichtspunkt der ausufernden Bürokratie noch den Hinweis auf einen jüngsten Leckerbissen erlauben. Nach Jerusalem führt jetzt auch Neapel aus ästhetischen und hygienischen Gründen (Kinder!) in ausgewählten Stadtteilen DNA-Pflichttests für Hunde ein. »Mit Hilfe der durch die Tests aufgebauten Hunde-Gendatenbank«, erläuterte die Presse Ende Januar, »soll ein neuer Kontrolldienst des städtischen Veterinäramtes die überall herumliegenden Kothaufen ihren Verursachern und damit den jeweiligen zweibeinigen Verantwortlichen zuordnen.« Man gedenke von jedem gestellten Verantwortlichen pro Hundehaufen 154,90 Euro einzuziehen. Das ist happig, trotzdem glaube ich nicht, daß es alle durch die Reform neugeschaffenen Kosten auch nur zu einem Drittel deckt.
Das Schlimmste, das uns der bürgerliche Staat mit all seinen Gesetzen und Verordnungen zumutet, sind freilich nicht die materiellen, vielmehr die moralischen Kosten. Auf diesen Umstand habe ich bereits in einigen Rechts-fällen hingewiesen, Stichwort Buchstabengläubigkeit. »Das Gesetz« ist ein Plattmacher obersten Ranges, weil es stets auf alle oder jedenfalls viele Köpfe passen soll und die Menschheit für die Qualität des Einzelfalles taub und gefühllos macht. Darin weiß es sich mit dem führenden politökonomischen Plattmacher der Moderne einig, dem Tauschwert, und entsprechend brachten es beide zum selben Heiligenschein. Wie sich versteht, ist diese sakral angestrichene Holzhammermethode für den Anarchisten unannehmbar. Von seinem natürlichen Riecher für Gut und Böse geleitet, betrachtet und beurteilt er immer nur leibhaftige Menschen und konkrete Situationen, und siehe da, wenn A. und B. dem Anschein nach dasselbe tun, ist es in Wahrheit häufig keineswegs dasselbe. Das räumt in manchen Fällen sogar der Staat ein. Er nimmt es dem Bundeswehrsoldaten übel, wenn er nicht nur den Feind seines Vaterlandes, sondern überdies die eigene Schwiegermutter erschießt. Ansonsten hat ein jeder auch die zivilen Befehle=Vorschriften blind zu befolgen. 1962 zu Besuch im ehemaligen KZ Dachau, zeigt sich Erich Kuby erschrocken davon, daß in den dortigen Baracken Leute wohnen. Nur nicht direkt im Krematorium. Tja, es gab eben noch Wohnungsnot – dafür keinen Paragraphen, der das Wohnen in ehemaligen KZ-Baracken (oder in ausgedienten Krematorien) untersagte. Kuby erinnerte sich an einen zugeflüchteten Maurer, der sich in einer bayerischen Kleinstadt ein Häuschen errichtet hatte, ehe er die amtliche Genehmigung dafür besaß. Das Haus wurde abgerissen. »Er hätte ins Dachauer Lager ziehen sollen – hier darf er wohnen. Das stört niemand.«
Sprechen wir von Pauschallösungen, sind Großstädte nicht fern. München hat bald anderthalb, die Metropolregion Neapel drei bis vier Millionen EinwohnerInnen. Ich lenke darauf, weil meine Aufzäumung des Themas »Anarchis-mus« den Gedanken unterstreicht, unabdingbare Vorausetzung herrschaftsfreier und gerechter Verhältnisse seien überschaubare Verhältnisse. Das wiederum bedeudet zweierlei: die Verhältnisse müssen zugleich einfach und klein sein. Ein Riesenschiff wie die Titanic, für über 2.000 Fahrgäste gebaut, läßt sich, bei diesen Ausmaßen und dieser Technik, unmöglich »basisdemokratisch« betreiben. Deshalb wies es allein eine knapp 900köpfige Besatzung auf, vom Hilfsheizer bis zum Kapitän. Erst recht wird das nicht mit Europa gelingen. Kommunisten werden vermutlich widersprechen. Zumindest vor 1990 scheinen die Dinge weltweit einfach und wohlgeordnet genug gelegen zu haben, um sogar einem schlichten Gemüt wie Boris Jefimow das Mitkommen zu ermöglichen. Der Karikaturist habe der Politik zu dienen, zitiert ihn Laura Weißmüller in ihrem Nachruf für die SZ. Folglich hatte der SU-Staats-Karikaturist, der erst kürzlich, am 1. Oktober 2010, im Alter von 108 Jahren in Moskau das Zeitliche segnete, den Kampf gegen den internationalen Trotzkismus und später den »Kalten Krieg« über Jahrzehnte hinweg mit Zeichnungen befeuert, die in den Druckereien von Iswestija, Prawda und so weiter gar nicht mehr klischiert werden mußten. Als er bereits die 100 überschritten hatte, soll er geseufzt haben: »Obwohl ich so viele Epochen, Kriege, Revolutionen und Gegen-revolutionen gesehen habe, reicht meine Lebenserfahrung nicht aus, um das heutige Durcheinander zu verstehen.«
Wer wirklich anarchistische Verhältnisse herbeiführen möchte, wo auch immer, sollte sich also beizeiten überlegen, was er beispielsweise mit der sogenannten Deutschen Bank anstellt. Der Tageszeitung Die Welt vom 25. Juli 2013 zufolge gilt sie gegenwärtig, nach der Bilanzsumme, als drittgrößtes Finanzinstitut dieses Planeten. Selbstverständlich ist sie seit langem »global« tätig. Ihr Hauptgeschäft, den Betrug, betrieb sie bereits mit ihrer Gründung, 1870, indem sie just unter jenem Namen erschien, der Staats- oder gar Volkseigentum vorspiegelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg empfahlen die US-Militär-behörden aufgrund einer Untersuchung der Schwerver-brechen dieses Privatunternehmens dem Nürnberger Tribunal, es zu liquidieren, die Verantwortlichen als KriegsverbrecherInnen vor Gericht zu stellen und sämtliche übrigen leitenden MitarbeiterInnen von Führungspositionen in der demokratischen Marktwirtschaft auszusperren. Das führte lediglich zu einer vorübergehenden, auch schon wieder vorgetäuschten »Entflechtung« der Bank. Näheres läßt sich, bei Bedarf, unter anderem Büchern von Eberhard Czichon (Die Bank und die Macht, 1995) und Hermannus Pfeiffer entnehmen. Eine Freundin schreibt mir soeben, neulich sei im Kino ein ziemlich guter Dokumentarfilm über einen ausgestiegenen Investmentbanker gelaufen, Master of the Universe. Der Mann habe gesagt, die Bilanzen der Deutschen Bank verstehe niemand mehr. Das heißt, eine Wirtschaftsprü-fungsgesellschaft verstehe schon, was da warum stünde, aber eben kein einzelner Mensch mehr. »Wir befinden uns also grundsätzlich im Modus des Blindflugs«, schließt die Freundin, die selber ein kleines Unternehmen leitet.
Ich fürchte, sie hat recht. Im Dschungel der bestehenden Welt haben lediglich Schlauberger und Verschlagene gute Chancen. Und natürlich Gewalttätige aller Art. Zu sämtlichen Sorten zählen, neben den Bankern, auch die Kommunisten, und zwar keineswegs nur solche, die die russischstämmige US-Bürgerin Emma Goldman um 1920 in der Sowjetunion von einer Bestürzung in die andere fallen ließen. Ich füge hier ein vergleichsweise bedeutungsloses, gleichwohl unvergeßliches Erlebnis aus meiner letzten Kommune hinzu. Dort war einmal ein Mann um 30 zu Gast, der sehr stolz auf seine KPD-Großmutter war und bereits nach Kräften in ihre Fußstapfen trat, also jeden Kommunarden, der ihm außerhalb des Plenums in die Arme lief, eifrig agitierte. Da er aber immerhin den Plenumsfrieden und die ungeschriebene Hausordnung achtete und eigentlich ein netter Mensch war, der über Charme, einen Schatz von Anekdoten und sogar literarisches Talent verfügte, war mir seine Gesellschaft gar nicht so unlieb. Allerdings warf er mir immer hartnäckiger meinen »Individualismus« vor. Das sei eine echte Krankheit. »Na gut«, räumte ich lächelnd ein, »aber meine Mitkommunarden erdulden sie.« Nein, das müsse kuriert werden. Dabei lächelte er ebenfalls – wie gesagt, er war ein charmanter Kerl und hatte sich irgendwie auch für mich erwärmt. Doch dann schien mir, sein selbstironisches Lächeln gehe kaum merklich in ein diabolisches über, bei dem mir recht mulmig zumute wurde. Ich hatte nämlich nachgehakt: »Wenn ich aber nicht kuriert werden will ..?« – »In unserer Kommune, lieber Henner, als mein proletarischer Kampfgenosse, müßtest du wollen«, sagte er mir mit diesem Lächeln geradewegs in die Augen.
Selbstverständlich stellen auch Drohungen bereits Gewalt dar. Die Anarchisten streben aber bekanntlich friedliche Verhältnisse an. Daraus folgt eine Forderung, die ich andernorts schon öfter angeführt habe: Übereinstimmung von Denken und Handeln und damit auch von Ziel und Weg. Das heißt, die Mittel müssen von der Art der Zwecke sein oder dürfen ihnen jedenfalls nicht Hohn sprechen. Bin ich auf den freimütigen und aufrichtigen Menschen aus, kann ich ihn nicht mit den Mitteln jener Fallenstellerei und jenes Verrats zu erreichen suchen, die wir aus vielen hundert Jahren politischer Kämpfe bis zum Überdruß kennen. Von den sogenannten Grünen, die noch vor kurzem von der erwähnten Freundin gewählt worden sind, kennen wir sie auch. Diese taktischen Mittel würden uns nicht zum freimütigen und aufrichtigen Menschen führen, vielmehr zu jenen Bananenlutschern und Wendehälsen, die sich von Kohl und Vogel um 1990 aus den ostdeutschen Blaufichtenhainen locken ließen.
In diesem Lichte habe ich, um noch einmal auf die Deutsche Bank zurückzukommen, an der nachfolgend geschilderten Kampftaktik aus dem Saal eines bekannten Rathauses nichts auszusetzen. Im Dezember 2013 wurde im Frankfurter Römer eine Gedenktafel zum Auschwitzprozeß eingeweiht. Nach diesem Akt schritt die Stadtverordnete Jutta Ditfurth von der ÖkoLinX-Antirassistischen Liste im Römer zu einer im selben Saal angebrachten Tafel mit den Namen Frankfurter EhrenbürgerInnen und überklebte den Namen des früheren Chefs der Deutschen Bank Hermann Josef Abs, gestorben 1994 mit 92 Jahren, mit einem Papierstreifen, auf dem zu lesen war: »Abs war Chefbankier der Nazis und mitverantwortlich für Krieg, KZ, Massenmord, Raub und Versklavung. Max Horkheimer und Fritz Bauer sollen durch die Nähe zu seinem Namen nicht beleidigt werden.« Wie sich versteht, erntete sie seitens aller anwesenden staatstreuen PolitikerInnen wütende Proteste. Ein Hausmeister entfernte den Klebestreifen. Ditfurth kündigte die Wiederholung ihres offiziellen Antrages im Stadtparlament an, Abs die Ehrenbürgerwürde wieder abzuerkennen. Vermutlich wird er scheitern wie der erste.
A-23 Mauern (bemalt) (→ Majerus)
Zwei kurze Auszüge aus der 2020 verfaßten Schlackendörfer-Geschichte »Pingos«, Handlungszeit 1965/66, gelten selten gewür-digten Grenz- und Raumfragen. Der Vorfall mit der bemalten Insel-bahn kostet Schlackendörfer nebenbei das Leben.
Witzigerweise haßte der typische Mitteleuropäer Grenzen in städtebaulicher Hinsicht keineswegs, ganz im Gegenteil. Er war geradezu in sie vernarrt. Es ging Schlackendörfer auf, nachdem er wegen Maud öfter in Muro weilte. In Muro [dem Hauptstädtchen der Inselrepublik] herrschte eine wohltuende nahezu vollständige Abwesenheit von Zäunen, Mauern, Hecken und dergleichen Instrumenten des Abteilens. Nur ein paar Hühner und Pferde waren eingepfercht. Dachte er dagegen an Karlskirchen oder Porto Vecchio, sah er sich einer einzigen Ausschweifung des Abteilens gegenüber. Was tat man dort nicht alles, um sich den Nachbarn, den Hund des Nachbarn, Ganoven und BesucherInnen, ja die ganze Welt vom Leibe zu halten! Selbstverständlich wurde dieser Festungskrieg mit allerlei Schnörkeln und Bändern verbrämt – eben mit Ästhetik, um an Brancusis Schülerin zu erinnern. Als er einmal mit Maud über seine Beobachtung sprach, erzählte sie ihm eine hübsche Geschichte aus Torquay an der englischen Südküste. Die rote Irin hatte um 1955 vorübergehend einen Liebhaber in der damals noch kleinen Küstenstadt. John sei schon Anarchist, aber nach wie vor leidenschaftlicher Statistiker gewesen, was er studiert hatte. So hätte er sich eines Tages vor einen Stadtplan gesetzt, um einmal über den Daumen zu peilen, wieviel Meter an handfester Begrenzung ein jedes Grundstück in Torquay aufweise, Fried- und Schulhöfe eingeschlossen. Diesen Wert habe er dann per Rechenschieber mit der Anzahl der Grundstücke multipliziert. Die abschließende Kilometerzahl sei gigantisch gewesen; sie habe sie leider vergessen. John multiplizierte sie dann auch noch mit einem Mittelwert der Kosten des Bauens und des Errichtens der Zäune – und der Pfundgesamtbetrag sei in die Hunderttausende gegangen, für nur eine kleinere Stadt! »Davon hättest du dir ein Fußballstadion-großes Tonstudio einrichten können, mein Schatz«, schloß sie ihr Gedenken an Liebhaber John.
[…]
Die Plakatierungsdebatte war durch den Unmut vieler Leute über vermehrtes Erscheinen von Plakaten, Spruchbändern, an die Mauern gepinselte oder auf Anstecker geschriebene Parolen und dergleichen ausgelöst worden – also, wie Beppe es dann zusammenfassend nannte, über »die Beschlagnahmung des öffentlichen Raumes durch einige Hohlköpfe aller Ebenen« … Die Hohlköpfe verteidigten ihr Begehren hauptsächlich mit ihrem »natürlichen Recht«, den öffentlichen Raum für Nachrichten und Botschaften zu nutzen. Doch die Argumentation der Gegenpartei um Beppe setzte sich durch. Diese Genossen traten für das natürliche Recht, ja sogar die Würde der Dinge ein. Man dürfe ein Haus oder einen Baum nicht zum Träger von Texten oder Bildern herabstutzen. Sie seien etwas für sich, das eine bestimmte Ausstrahlung habe und aufgrund dessen erkannt und anerkannt sein möchte. Für Nachrichten oder Botschaften habe man schließlich eigens dafür geschaffene Einrichtungen, voran [das Wochenblatt] die POV, ferner die Schwarzen Bretter in den GO's und so weiter. Eine Zeitung fungiere von vornherein als Mittel für Mitteilungen – eine Hauswand oder ein Hemd nicht. Hauswände, Hemden und Fensterscheiben besäßen verschiedene Eigenschaften, die uns zum Beispiel schützen könnten. Würden sie dagegen bepflastert, gespickt, verunstaltet, griffen sie uns an.
Als Schlackendörfer die Richtlinie gegen Plakatierung einmal nachgelesen hatte, war er belustigt und bewunderte nebenbei wieder einmal Beppes Scharfsinn. Als er dann jedoch, Ende Mai, von Maud kam und in der Kastanienallee in die Inselbahn steigen wollte, sah er beinahe rot. In der Regel bestanden die »Durchgangszüge« aus drei Waggons und dem Triebwagen – allesamt durch kurze schaukelnde Schleusen verbunden und rein orange lackiert. Nun aber war ein Waggon recht wild und bunt, wenn auch nicht ganz ungekonnt, auf beiden Seiten, wie er sich überzeugte, jeweils um die Fenster und Türen herum mit verschiedenen Bildern und Sprüchen bemalt. Die größten Lettern verkündeten Fuck die POV. Die größte dargestellte Person hatte ein Gebiß wie ein Bagger aus dem Marmorbruch und selbstverständlich einen Penis wie ein geiler Hengst. Die Zugführerin hatte den Sänger aus Reez bereits gesehen und rief aus ihrem Fenster: »Schlackendörfer, haben die denn ein Rad ab?!«
A-24 Statistiken (2022, → N., Irene)
Seit dem Heraufkommen der Massengesellschaften zählen Statistiken zu den wirksamsten Lügen- und Betrugsmitteln der jeweils herrschenden Cliquen. Das leuchtet fast unmittelbar ein, weil Massen eben eine gleichsam natürliche Vorliebe für große Zahlen haben. Dagegen war den winzigen »proletarischen Vorhuten«, die wir auch in Deutschland hatten, schon um 1970 klar, die Statistiken der Arbeitsämter werden grundsätzlich beträchtlich gefälscht. Inzwischen gibt es derart viele Sorten von »Unterbeschäftigung«, daß die Behörden- und Fernsehchefs nach Belieben mit ihnen jonglieren können. Die Massen fressen es. Wahrscheinlich erregen auch die Statistiken über die jährlichen Opfer des Straßenverkehrs wenig Anstoß. Schließlich gibt es kaum ein Mitglied der Masse, das unmotorisiert wäre, und die Motorisierten haben den verständlichen Wunsch, sich sicher zu fühlen. Deshalb fahren sie diese gepanzerten Wagen mit den scheunenbreiten Mäulern. Zwischen 1970 und 2017, lese ich erfreut bei destatis.de*, haben wir in Deutschland einen unablässigen und starken Rückgang der Verkehrstoten zu verzeichnen, von 21.000 auf 3.000. Das gibt gute, beruhigende Zeitungsüberschriften. Bei den Verletzten soll der Rückgang allerdings schon deutlich weniger stark ausgefallen sein, von knapp 600.000 auf knapp 400.000. Das paßt nicht mehr so gut in die Zeitungsartikel. Denn viele dieser Verletzten sind einäugig oder einbeinig, rollstuhlfahrend oder Selbstmordkandi-daten. Dies lebendig an die Wand zu malen, können wir von der Statistik wohl kaum verlangen. Sie tötet jeden Einzelfall.
Vorausgesetzt, die Leute vom Statistischen Bundesamt sind die Redlichkeit in Person, könnte man sich immer noch fragen, woher sie das alles, was sie uns erzählen, eigentlich wissen. Und ob der Bürger im Zweifelsfall eine Möglichkeit hätte, die Quellen und die Darstellung seiner Bundesamtsleute zu überprüfen? Da sehe ich ziemlich schwarz. Schon die ersten Glieder der Informationskette, die MelderInnen und ErfasserInnen von Verkehrsunfällen, sind nur Menschen. Sie haben ihre Interessen und Schwächen und machen zuweilen Fehler. Dies dürfte gewaltig verstärkt erst recht für die aufgeblasene Plandemie gelten, die uns vor rund zweieinhalb Jahren verordnet worden ist. Viele kritische Stimmen behaupten, auch von den jüngsten »Impfschäden« erreichten uns nur Bruchteile, weil sie, aus Kosten- oder Gehorsamsgründen, von den Ärzten gar nicht erst gemeldet oder spätestens in den maßgeblichen Instituten umfrisiert würden. Übrigens erläuterte der wohlbestallte Statistiker Gerd Bosbach bereits im Frühjahr 2020, welches Ausmaß an Unklarheit und Willkür beim Operieren mit Zahlen von Infizierten, Verstorbenen, Bedrohten am Werke ist.** Viel komme auf die Kriterien an, und die seien oft unterschiedlich. Schon an der Frage, ob ein alter Mensch mit oder an Corona gestorben sei, scheiden sich bekanntlich die Geister. Ferner arbeiten die Schürer der Panik gern mit Hoch-rechnungen, nämlich durchaus ungesicherten Annahmen, ohne dies jedoch einzugestehen. Ähnliches gilt »natürlich« für die Temperaturmessungen und Alarmmeldungen der angeblichen KlimaschützerInnen und für tausend andere Bereiche. Hier ist immer höchster Argwohn angebracht.
Um noch einmal auf die Impfschäden zurück zu kommen, steht uns nach Ansicht der bekannten kritischen US-Medizinern Joseph Mercola und Ryan Cole geradezu eine erdweite Springflut in Haus. Ihre Darstellung*** klingt eigentlich glaubhaft. Aber in den Leidmedien werden sie verleumdet. Die beiden behaupten, seit den jüngsten Impfungen nähmen vor allem diverse Krebs-, ferner Autoimmun-Erkrankungen, Schlaganfälle, Unfruchtbar-keit und anderes auffällig zu, dabei selbst unter jungen Menschen. Sie stützen sich dabei auf Aussagen vieler Ärzte, eigene Laborerfahrungen und sogar Daten aus der renommierten Defense Medical Epidemiology Database (DMED), die auch vom Pentagon benutzt wird. In der Tat hatte nämlich ein Whistleblower des Militärs »gesungen« und die alarmierenden Daten für eine öffentliche Anhörung zu Verfügung gestellt. Kurz darauf habe das Pentagon den Zugang zu DMED gesperrt – und als es ihn nach einer Woche wieder freigab, seien die »Spitzen« des alarmierenden statistischen Verlaufs plötzlich entschärft gewesen. Cole entkräftet die Ausreden des Pentagons und spricht von einem Betrug auf Watergate-Niveau.
* https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressekonferenzen/2018/Verkehrsunfaelle-2017/pressebroschuere-unfallentwicklung.pdf?__blob=publicationFile
** »Solchen Wissenschaftlern würde ich gerne Kamera oder Mikrofon entziehen«, https://www.nachdenkseiten.de/?p=59617, 26. März 2020
*** https://www.rubikon.news/artikel/todlicher-gesundheitsschutz-2, 4. August 2022
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