Dienstag, 8. November 2022
Belehrung einer Putzfrau
ziegen, 15:14h
Der Karlskirchener Untermarkt wurde vom dreigeschos-sigen, hellverputzten Rathaus beherrscht. Es war vor ungefähr 100 Jahren eingeweiht worden. Im Mitteltrakt, über dem Eingangsportal, konnte es sogar mit einem Balkon glänzen, der für den Fall gut gemästeter Bürgermeister oder Landräte von zwei dicken Säulen unterstützt war. Weiter oben, auf dem Dach, prunkte ein winddurchlässiges Uhren- und Glockentürmchen mit wilhelminischem Schieferhelm. Das Zimmer, das sich Gewerbeamt nannte, lag im 2. Stock. Als sich Schlackendörfer Mitte Oktober dort einfand, um sich beinahe reumütig wieder als Detektiv anzumelden, verkniffen sich die MitarbeiterInnen jeden Kommentar, obwohl sie natürlich Lokalzeitung lasen. Rockband Schlackendörfer streicht die Segel, hatten sie da kürzlich gelesen. Sie wirkten lediglich leicht hochnäsig wie immer. Wahrscheinlich hielten sie sich für den Motor der »brummenden örtlichen Wirtschaft«, so ein jüngstes Wort des Bürgermeisters. Ob sie wenigstens wußten, daß die Tage ihrer ganzen Einrichtung – Stadtverwaltung am Untermarkt – gezählt waren, läßt sich schwer beurteilen. Schlackendörfer wußte es jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
In den 1. Stock zurückgestiegen, stach ihn schon wieder der Hafer. Er wußte, hier lag das Ordnungsamt. Eingetreten, schwenkte er seine Anmeldung und ersuchte um die Genehmigung, eine Schußwaffe zu führen. Wie man sich vielleicht erinnert, tat er das nicht zum ersten Mal. Der junge Herr Schmieder verbarg sein Grinsen rasch, indem er sein flottes Oberlippenbärtchen strich, und blickte fragend zu seinem Vorgesetzten, der Koch hieß. Offenbar hatte der deutlich ältere Glatzkopf gerade einen Volkshochschulkurs in Logik oder für die Förderung von Gönnerlaune besucht. »Nun ja«, rieb er sich die Schläfe, »die Dinge sind im Fluß – Heraklit, glaube ich. Sie sind ja jetzt bekannt wie ein bunter Hund, Herr Schlackendörfer, wenn ich so sagen darf. Einmal wegen der Schießerei in Vessel, und dann wegen Ihrer Rockmusik. Folglich sind Sie, aufgrund dieser exponierten und auch recht umstrittenen Stellung, inzwischen durchaus gefährdet, jedenfalls theoretisch. Und nur darauf kommt es ja an. Stimmst du mir zu, mein Sohn?« Er meinte Schmieder. Und da dieser sofort eifrig nickte, schloß Herr Koch befriedigt: »Also gut, Herr Schlackendörfer, Sie bekommen den Schein.«
Maria sprach später von einem netten kleinen Treppenwitz. Hätte ihn Bühnkes mutmaßlicher Mörder damals von seinem weinroten Opel Kapitän aus mit einer Jagdflinte erschossen, statt ihn auf die Hörner zu nehmen, wäre es somit, Koch zufolge, in Ordnung gewesen, weil Schlackendörfer ja noch eine graue Maus gewesen sei, auf die es nicht weiter ankomme. Nun habe sich ihr Liebster jedoch bewährt – und lebe zufällig noch … Den Schein selber fand sie weniger toll. Im Grunde konnte sie zwischen einem Porsche und einer Pistole keinen nennenswerten Unterschied erblicken. Die Männer müßten sich immer in irgendwelche Schlachten werfen, maulte sie. Schlackendörfer lenkte sie jedoch mit Zärtlichkeiten ab und kaufte sich die Pistole, als er in Vessel zu tun hatte. Fenchel billigte seinen Schritt. Er nahm Schlackendörfer den Winter über sogar wiederholt auf den Schießstand der Polizei mit, weil sein Busenfreund doch ziemlich aus der Übung gekommen war.
Die Polizei des ungefähr 12.000 EinwohnerInnen zählenden Städtchens saß übrigens nicht im Rathaus, sondern in einem jüngeren eigenen Gebäude, das gleich jenseits des Untermarkts in der Bahnhofstraße lag. Die Kriminalabteilung bestand lediglich aus drei Personen, Fenchel an der Spitze. Das Hauptquartier der regionalen Kripo thronte nämlich in Fritzlar, der damaligen Kreisstadt. Was Kriminalkommissar Fenchel anging, war er auch über jenen Schritt Schlackendörfers, den aufgewühlten Bereich der Rockmusik zu fliehen, keineswegs erbost gewesen, im Gegenteil. Die Band hatte sich nur wenige Wochen nach dem Ausstieg ihres Frontmanns aufgelöst. Fenchels Sprößling Harald alias Gelbspecht, der Schnellfeuer-Melodiegitarrist, war sogar zu einer explosiven Läuterung gekommen. Er entsann sich seines früheren Wunsches, Medizin zu studieren, und hängte die professionelle Unterhaltungsmusik, wie Schlackendörfer, an den Nagel. Die drei anderen MusikerInnen kamen bei namhaften Rockbands in Holland und England unter. Mike nahm seinen Porsche mit.
Da Schlackendörfer weiterhin nicht völlig unbeträchtliche Tantiemen für Abspielungen und Aufführungen seiner Kompositionen bezog, konnte er nun bei seinen Aufträgen als Detektiv wählerischer sein. Seitensprungs- und Eigentumssachen nahm er gar nicht mehr an. Als eine interessante und lehrreiche Sache erwies sich jedoch ein Vergewaltigungsfall, der ihn im Frühjahr 1965 beschäftigte. Das heißt, genau genommen hatte es sich zunächst um eine mutmaßliche Vergewaltigung gehandelt. In Begleitung ihres schnauzbärtigen Ehemanns war eine 33jährige türkische Reinemachefrau bei Schlackendörfer erschienen, die zwar recht schüchtern, aber kaum unterwürfig wirkte. Sie putzte regelmäßig im Gymnasium. Nun gab sie an, vorgestern habe sie ein ihr unbekannter Mann mit schwarzer Augenmaske (»wie beim Fasching«) angefallen und vergewaltigt, als sie am frühen Abend im Kellergeschoß des alten Schulgebäudes zu tun hatte. Eine Schwangerschaft sei gottseidank nicht zu befürchten. Die Polizei wollten beide Eheleute unbedingt meiden. Die Frau schämte sich und hatte Angst vor Inquisition, und auch der Gatte, Betriebselektriker in einer Zuckerfabrik in Wabern, war nicht gerade gut auf die Polizei zu sprechen. Er glaubte seiner Frau jedoch und war der Meinung, man müsse verhindern, daß der Täter noch weitere Opfer finde. Von Vergeltung sprach er erstaunlicherweise nicht. Diese Haltung beeindruckte Schlackendörfer genug, um den Fall zu übernehmen, nachdem er sich noch ein paar Einzelheiten hatte schildern lassen und sich anderntags von der Richtigkeit der Personalangaben seiner neuen Klienten überzeugt hatte. Er sagte den beiden von sich aus eine milde Honorarabrechnung zu.
Die Frau sprach nur mangelhaft deutsch. Ihr Mann erzählte bei dem Antrittsbesuch, der Täter habe sich angeschlichen, seiner Frau den Mund zugehalten und sie in den Heizungskeller gedrängt. Der besitze eine dicke Brandschutztür und sei folglich stark schallgedämpft. Dort habe sich der Täter an seiner Frau vergangen. Als sie, schockiert und benommen, mitbekam, der flüchtende Täter hatte in seiner Aufregung Mühe mit dem innen steckenden Schlüssel der Heizkellertür, habe sie eine Art schweren Schürhaken ergriffen und den Mann bedroht. Da sprang die Tür jedoch endlich auf, und er rannte zur Treppe. Sie schrie um Hilfe, verfolgte ihn und traf ihn am Fuß der Treppe mit dem Eisen immerhin so kräftig an einer Wade, daß er vorübergehend ans Geländer taumelte. Aber er fing sich und entkam. Wenig später eilte von oben eine Kollegin der türkischen Putzfrau herbei, freilich zu spät. Die Kollegin hatte den Täter nicht gesehen.
Er habe zunächst vermutet, der Täter sei einer der Anstreicher gewesen; die seien allerdings, nach seinen Erkundigungen, schon mittags abgezogen, erklärte der Ehemann. Vielleicht sei es doch eher einer von den Lehrern gewesen. Den Hausmeister kenne ja seine Frau; der scheide aus. Der Täter sei mittelgroß gewesen, nicht dick, aber, von den entblößten Oberschenkeln her, »etwas wie Pudding«, habe seine Frau berichtet. Dazu nickte sie. Eine Kopfbedeckung habe er offenbar für überflüssig gehalten – leider habe er braunes Haar gehabt, wie so viele. Wahrscheinlich sei er um 40 Jahre alt.
Schlackendörfer nickte ebenfalls und dachte eine Weile nach. »Einer von den Anstreichern, sagten Sie ..?«
Ja, im ganzen Treppenhaus sei das Geländer neu lackiert worden. Überall hätten die Schilder gehangen: Achtung frisch gestrichen.
»Interessant ..!« murmelte Schlackendörfer, ohne weiter darauf einzugehen. »Ist Ihre Frau imstande, die Kleidung zu beschreiben? Was hatte der Kerl an?«
Sie schüttelte ihren schwarzgelockten Kopf. Verständ-licherweise hatte sie kaum darauf geachtet. Irgendeinen dunklen Anzug hatte er getragen.
Bald darauf begleitete Schlackendörfer das Ehepaar zu seiner Wohnungstür.
Schlackendörfers Schlachtplan war nicht sonderlich beeindruckend, erwies sich jedoch als wirkungsvoll. Zwei Tage lang stand er sich am Gymnasium die Beine in den Bauch, wie sich versteht, verdeckt. Er hatte sogar sein Opernglas eingesteckt und das Fensterglas seiner Tarnbrille geputzt. Beim Schuldirektor vorzusprechen, hatte er verworfen, hätte ihm dieser doch höchstwahr-scheinlich nur einen Besuch bei Kriminalkommissar Fenchel empfohlen. Aber den Hausmeister suchte er auf, ohne Brille. Ob er Schlackendörfer freundlicherweise den Markennamen des neuen türkisfarbigen wunderbaren Treppenhausgeländeranstrichs verraten könne, denn genau das wäre das Richtige für seine Balkonmöbel. Der gemütliche Mann drückte ihm gleich eine ganze zerbeulte Dose in die Hand, die sogar noch einen Rest der Farbe enthielt. Zwar wußte er nicht, daß Schlackendörfers Mansardenwohnung gar keinen Balkon zu bieten hatte; den Mieter freilich, Ex-Rocksänger, den kannte er schon.
Von den mittelgroßen, nicht zu dicken Lehrern um 40, die am Gymnasium ein- und ausgingen oder über den Schulhof stolzierten, waren sieben mehr oder weniger braunhaarig. Aber nur einer von ihnen hinkte leicht. Schlackendörfer zog ein paar Gymnasiasten ins Gespräch (die ihn prompt um Autogramme auf Schulheftrückseiten baten) und erkundigte sich beiläufig, ob jener Lehrer schon immer hinke. Dadurch erfuhr er auch gleich dessen Namen. Nein, er hinke erst neuerdings. »Vielleicht hat Öhmel sein rechtes Bein nur mit Gewalt aus einem Gullyschlitz bekommen«, witzelte einer – durchaus schlagfertig, wenn auch etwas makaber, falls man Schlackendörfers Verdacht kannte.
In Wahrheit, so Schlackendörfers Theorie, hatte der Schürhaken des beklagenswerten Opfers kräftig genug zugeschlagen, um den Täter für einige Tage hinken zu lassen. Zugleich war er durch den Streich an das frischlackierte Treppengeländer getaumelt oder hatte es jedenfalls hauchdünn gestreift.
Öhmel fuhr einen Käfer wie Schlackendörfer, nur keinen olivgrünen, und etwas neuer wirkte der Wagen auch. Der Detektiv folgte ihm bis ins Nachbardorf Maden, wo der Lehrer im Obergeschoß eines ehemaligen Bauernhauses wohnte. Auf seine Brillen-Attrappe verzichtete Schlackendörfer nun. Öhmel trug ebenfalls keine Brille, auch keinen Bart, keinen Hut und keinen dunklen Anzug. Der Anzug war heute hell. Öhmel war ein blasser, im Gesicht recht profillos wirkender Mensch, und auch seine wenig geschmeidige Bewegungsweise kam dem »Pudding« nahe, von dem die Putzfrau gesprochen hatte. Als Schlackendörfer geklingelt hatte, steckte er sein etwas teigiges Gesicht aus einem Fenster und fragte mit heller Stimme nach Schlackendörfers Anliegen. »Nur eine kleine Umfrage des Landratsamtes«, erwiderte Schlackendörfer. »Wenn ich für zwei Minütchen heraufkommen könnte, Herr Öhmel ..?« Der zuckte die Achseln und erklärte: »Die Haustür ist offen.«
Wie es aussah, lebte Öhmel allein. Jetzt stand er stirnrunzelnd an seinem Küchentisch, bot dem Besucher einen Stuhl an und sagte: »Sind Sie nicht der Rocksänger aus Karlskirchen? Der mit dem Kanzler-Lied..?«
Sie nahmen beide Platz. »Ja und nein«, erwiderte Schlackendörfer. »Im Augenblick bin ich in juristischer Mission unterwegs, Herr Öhmel. Ich wollte mich einmal bei Ihnen erkundigen, was Sie vor einigen Tagen dazu trieb, im Keller ihres Schulgebäudes eine Putzfrau anzufallen und zu mißbrauchen ..?«
Er wurde noch blasser, als er sowieso schon war, keine Frage. Er fing sich jedoch rasch und zischte: »Wie kommen Sie zu solchen unverschämten Anwürfen, Herr Schlackendörfer? Vielleicht sollten Sie lieber wieder gehen, ehe ich die Polizei anrufe.«
Schlackendörfer verkniff sich ein Schmunzeln. »Wir können es kurz machen, Herr Öhmel, falls Sie vernünftig sind. Rollen Sie bitte einmal ihr rechtes Hosenbein hoch.«
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? In meiner eigenen Wohnung wollen Sie mich zwingen, die Hosen hoch zu rollen? Raus, aber dalli!«
»Ganz wie Sie wünschen«, entgegnete Schlackendörfer und zog seine noch ziemlich fabrikneue Pistole aus dem Schulterhalfter. »Diese Waffe ist lizenziert und geladen, Herr Öhmel. Es würde mir nichts ausmachen, Ihnen zunächst einmal ein Ohrläppchen wegzuschießen. Bei der Karlskirchener Polizei bin ich als guter Schütze bekannt. Aber die Polizei weiß nicht, daß ich hier bin. Unter Umständen könnte die Sache unter uns bleiben, Herr Öhmel. Also bitte: Hosenbein hoch!«
Er war sichtlich bestürzt und verwirrt. Nach einer Weile hatte er wohl beschlossen, erst einmal Zeit zu gewinnen. Er stellte das recht Bein aus und zog die Hose übers Knie. Die Wunde war wenig fachmännisch verbunden. Vielleicht hatte er einen Arztbesuch gescheut.
»Danke, Herr Öhmel. Jetzt würde ich mir noch ganz gern alle dunklen Anzüge anschauen, die Sie in diesem Haus aufbewahren. Fangen wir mit Ihrem Kleiderschrank an?«
Der Lehrer schob sich in sein Schlafzimmer, ohne Schlackendörfer und dessen auf ihn gerichtete Pistole aus den Augen zu lassen. Schlackendörfer folgte ihm, sah schräg in den Schrank, fingerte die Reihe der Anzüge ab – und stellte erleichtert fest, er hatte Glück. Unter den drei dunklen Anzügen gab es einen Anzug, der an einer Seite kleinere, dünne, möglicherweise blaugrüne Flecken oder Streifen zeigte. Vielleicht war Öhmel zu geizig oder zu unvorsichtig und hatte sich gedacht, den Anzug könne er später einmal, vielleicht im Urlaub, in eine chemische Reinigung geben. Jetzt wies ihn Schlackendörfer an, den Anzug aus dem Schrank zu nehmen und in irgendeine Tragetasche zu packen. Öhmel gehorchte.
Als sie wieder am Küchentisch standen, erklärte Schlackendörfer: »Ich werde den Anzug notfalls in ein kriminaltechnisches Labor geben, Herr Öhmel. Die Flecken riechen nach Farbe, und zwar nach der vom Treppengeländer Ihrer Schule. Ich möchte Ihnen aber erst einmal zwei Tage Bedenkzeit einräumen. Denn wie schon angedeutet, unter Umständen können wir die Sache ohne Polizei und Gerichte bereinigen. Denken Sie einmal darüber nach. Ich werde Sie übermorgen am späten Nachmittag erneut aufsuchen. Sagen wir 17 Uhr ..? Gut. Versuchen Sie aber bitte nicht, mich herein zu legen. Ich habe zwei Vertrauenspersonen in meine Untersuchung eingeweiht, schließlich muß ich, als Privatdetektiv, an meine Sicherheit denken. Sollte mir etwas zustoßen, sind Sie geliefert. Sie haben mich verstanden? Gut. Dann bis übermorgen.«
Schlackendörfer nahm den Tragebeutel, versenkte seine Pistole in einer Außentasche seiner Jacke und zog sich wachsam aus der Wohnung des Lehrers bis zu seinem um die Ecke geparkten Wagen zurück. Als er sich hinters Steuer geschoben hatte, atmete er erst einmal kräftig durch, bevor er startete. So ganz wohl war ihm bei der Sache nicht.
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»Da hast du aber ziemlich hoch gepokert«, sagte Maria Schneider kopfschüttelnd, nachdem er die jüngsten Ereignisse und den Besuch bei Öhmel umrissen hatte. »Und nicht ganz ungefährlich …«
Er wiegte sich bald nach dem Besuch in Marias modernem Sessel und trank ihren Schwedenbitter, einen Kräuter-schnaps. Maria war die eine »Vertrauenspersonen«, die er erwähnt hatte, Fenchel natürlich die andere. Bei seinem Busenfreund hatte er inzwischen den Tragebeutel mit dem Anzug hinterlegt. Für Erörterungen hatte Fenchel aber keine Zeit gehabt.
»Legst du es darauf an, daß sich der Kerl umbringt?« fuhr Maria fort.
Schlackendörfer verstärkte sein Wiegen. »Das wäre vielleicht nicht die schlechteste Lösung, meine Liebste. Oder sehe ich das falsch?«
»Und was machst du, wenn er schnell noch eine andere Frau vergewaltigt, weil er sich schließlich ohnehin von der Welt zu verabschieden gedenkt?«
Schlackendörfer schüttelte langsam seinen Kopf. »Unwahrscheinlich, Maria, sehr unwahrscheinlich. Öhmel ist kein Held, wie ich nach meinen Beobachtungen glaube. Er ist eher ein Feigling. Und genau aus diesem Grunde wird er auch keinen Selbstmord begehen, fürchte ich …«
Diese Weissagung sollte sich bewahrheiten. Als er zwei Tage darauf wieder bei Öhmel klingelte, blickte der Lehrer lebendig aus dem Fenster, wenn auch nicht unbedingt erfreut. Er nickte nur kurz ins Haus.
Sie saßen sich erneut am Küchentisch gegenüber. Zwar sah Schlackendörfer den Lehrer erwartungsvoll an, doch was dann kam, hatte er durchaus nicht erwartet.
»Also«, preßte Öhmel mit geqälter Miene zwischen seinen dünnen Lippen hervor, »wieviel wollen Sie? Oder die Frau?«
Schlackendörfer schluckte. Er meinte Geld! Dann schimpfte er sich innerlich einen Strohkopf, denn daran hatte er nicht gedacht. Allerdings stellte Öhmels Frage immerhin eine Art Geständnis dar.
»Nein, nein«, erwiderte Schlackendörfer nach kurzer Besinnung. »ErpresserInnen sind wir nicht, Herr Öhmel. Wir möchten, daß sie die Tat bereuen. Das ist die Hauptsache. Wobei das natürlich das Versprechen einschließt, sie wiederholt sich nicht.«
Nun schien die Überraschung auf Seiten des Lehrers zu liegen. Er sah den Detektiv mit großen Augen an. Vielleicht hatte er solche Güte von einem Vertreter der Gattung Mensch oder jedenfalls von einem Ordnungshüter und Spürhund nicht erwartet. Plötzlich traten ihm sogar Tränen in die Augen. Dann ließ er den Kopf sinken und flüsterte auf die Tischplatte:
»Ja, ich bereue es. Ich muß von Sinnen gewesen sein. So etwas darf ich nie wieder tun.«
Möglicherweise war das Schluchzen, das nun folgte, für Schlackendörfer nicht viel weniger peinlich als für Öhmel. Aber er ließ den Sünder erst einmal sich ausweinen. Ob die Reue echt war? Schlackendörfer nahm es schon an; lag er jedoch falsch, würde er sich noch einige Vorwürfe zu machen haben. Als das Schluchzen verebbt war, murmelte Öhmel eine Bitte um Entschuldigung, trocknete sich das Gesicht mit einem Geschirrhandtuch und starrte eine Weile über Schlackendörfers Schulter hinweg in den dämmrigen Wohnungsflur. Dann wollte er fast flehentlich von Schlackendörfer wissen:
»Wird mir die Frau verzeihen?«
Schlackendörfer hob beruhigend eine Hand. »Ich denke schon, Herr Öhmel. Jedenfalls werde ich mich dafür einsetzen. Den Namen des Täters gebe ich selbstverständlich nicht preis. Wie ich die Putzfrau einschätze, ist sie kein Racheengel. Sie will nur weiteren Schaden verhüten. Grundsätzlich ist es ja so, Herr Öhmel. Der Geschlechtstrieb ist eine der schlimmsten Geißeln der Menschheit beziehungsweise von uns Männern. Und haben wir etwa um ihn gebeten? Sind wir vor der Geburt gefragt worden: Möchtest du einen starken, einen schwachen oder gar keinen Geschlechtstrieb? Meine engste Freundin antwortet: Natürlich nicht. Und nicht anders verhalte es sich mit dem Willen und dem Grad der Willenskraft. Deshalb lehnt sie Strafe grundsätzlich ab. Wir könnten ja nichts dazu. 'Schuld' sei ein äußerst fragwürdiger Begriff. Er werde mindestens so häufig mißbraucht wie Frauen. Nach solchen schädlichen Taten, wie sie hier zur Debatte stehen, könne die Gesellschaft, neben Wiedergutmachung in manchen Fällen, lediglich auf dem Schutz vor Wiederholung bestehen. Und in dieser Hinsicht gelte es den Spielraum auszunutzen, den ja jeder Wille offensichtlich gewähre. Vielleicht gestatte der Spielraum dem Frevler, sich durch günstige Einflüsse oder Hilfestellungen zu ändern, also zu bessern. Haben Sie zum Beispiel schon einmal an eine psychologische Beratung gedacht, Herr Öhmel?«
Der Lehrer hatte fast verwundert zugehört. Die abschließende Frage verneinte er.
Schlackendörfer erhob sich bereits. »In Karlskirchen haben wir erfreulicherweise einen fähigen Arzt für Psychotherapie, Lührs heißt er. Vielleicht vereinbaren Sie einmal ein Vorstellungsgespräch mit ihm. Gucken Sie einfach ins Branchenbuch. Sie können sich gern auf mich berufen, ich bin mit Lührs befreundet. Wie auch immer, ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Damit stand der Detektiv auch schon in der Küchentür, nickte noch einmal und verschwand.
→ Die Überschrift »Belehrung einer Putzfrau« dürfte ähnlich wie »Der Raub der Warzenschweinchen« im grammatischen Bezugsfragen-Dunst liegen, s. MZ 2022, Grammatischer Gram
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