Dienstag, 8. November 2022
Müllerkoogs BernharDiener
ziegen, 11:11h
Skizze für einen Groschenroman
Um 1965, der Wirkungszeit meines Privatdetektivs Heinz Schlackendörfer, konnte sich das nordhessische Städtchen Karlskirchen noch mit einem Amtsgericht brüsten. Aber bald darauf wurde es, kraft der bekannten zentralistischen »Reformen« der Bonner Republik, dieser fragwürdigen Zierde beraubt. Man löste die Behörde auf und versetzte ein paar noch nicht pensionierte MitarbeiterInnen ans Amtsgericht der damaligen Kreisstadt Fritzlar. Das klobige Gebäude mit seinem großen Eckgiebel an der Längsseite und dem dort angeklatschten Portalhäuschen ließ man einstweilen leerstehen. Es würde sich schon ein Mieter oder Käufer finden, der eitel und reich genug dafür war, sich in einem Gebäude niederzulassen, über dessen Portal unübersehbar Amtsgericht stand – in bogenförmig angebrachten altmodischen Buchstaben, die regelmäßig frisch vergoldet wurden. Wie sich versteht, war das Gebäude aus der Kaiserzeit denkmalgeschützt.
Auf Schlackendörfer hatte der durchgehend aus kunterbunt gemischten Sandsteinen gemauerte Hort der Gerechtigkeit immer wie vom Fleckfieber befallen gewirkt. Der ehemalige Gerichtssaal, im ersten Stock des Eckgiebels gelegen, wies fünf schmale Kirchenfenster auf. Sie wurden im auslaufenden Giebel von einem Relief gekrönt: zwei Knaben umklammern ein senkrecht stehendes Schwert. Da konnten die Gauner der Gegend nur um Gnade beten. Das steile Dach war mit grauem Schiefer gedeckt. Die hohe eicherne Eingangstür im Portalhäuschen übertraf sogar viele Kirchentüren. Sie zeigte zwischen mehreren quer-strebenartigen gut gehobelten Brettern ein großzügiges Muster aus dicken rautenförmigen Holzschindeln; der ganze Besatz war mit Hilfe von unverbrämten Holzstiften im Türblatt verdübelt. Man konnte diesen Besatz als ein wuchtiges Furnier auffassen, das der kleinstädtischen Gerichtsfestung wohlangemessen war.
Schlackendörfer lag längst auf Pingos unter der Erde, als sich der »potente« Käufer einstellte. Das war um 1975. Der Mann hieß Engelbert Müllerkoog, damals Mitte 60. Jeder Literaturfreund oder Fernsehkonsument wußte selbstverständlich, was er von diesem Mann zu halten hatte. Er war bedeutend. Er strich emsig Literaturpreise ein und versäumte selten eine Gelegenheit, öffentlich salbungsvolle Worte von sich zu geben, obwohl er von Natur aus keineswegs typischer Prahlhans war. Er war einfach nur von seiner Bedeutung durchdrungen. Seine Tochter Renate, neuerdings Lehrerin am einzigen Gymnasium Karlskirchens, hatte das leerstehende Amtsgericht beiläufig und absichtslos am Telefon erwähnt. Müllerkoog, damals in München residierend, war beeindruckt und setzte sowohl seine Tochter wie seinen »BernharDiener« sofort auf die Karlskirchener Stadtväter an. Die zeigten sich hocherfreut und verkauften ihm die wertvolle Immobilie. Später gestand Müllerkoog, beson-ders eine Großaufnahme der beiden Knaben mit dem Schwert – die von der Giebelspitze – hätte es ihm angetan.
Der BernharDiener hieß eigentlich Bernhard Fuhr und hatte sogar einen Doktortitel. Er war rund 20 Jahre jünger als sein Chef. Offiziell war er Müllerkoogs Sekretär. Inoffiziell auch dessen Liebhaber und Wegbahner. Germanist Fuhr hatte die maßgeblichen Arbeiten und Artikel über den großen »Dichter« Müllerkoog veröffentlicht, glänzte mit Vorträgen über ihn und kümmerte sich um alles, was sich Müllerkoog kokett weltfremd als »Bürokram« vom Leibe hielt. Man kann sich wohl denken, daß Fuhr auf diese Weise auf seine Kosten kam. Im neu erworbenen Amtsgericht ließ Müllerkoog eine Art Einliegerwohnung für seinen »BernharDiener« schaffen. Er selber, der von Fuhr aufgebaute Großschriftsteller, wandelte den früheren Gerichtssaal in sein Arbeitszimmer um. Platz war genug, denn Müllerkoogs angebliche Ehefrau war schon vor Jahren einer Krankheit erlegen, und Müllerkoogs Sohn Manfred wohnte 20 Kilometer weiter östlich in der nordhessischen Metropole Vessel. Blieb noch die Haushälterin, die lediglich über Tage oder bei Abendempfängen anwesend war. Einen echten, vierbeinigen Hund gab es nicht.
Fuhr war ein stämmiger, charmanter und sogar gutaussehender Mann, der mit Engelszungen reden konnte. Man sollte jedoch nicht argwöhnen, er habe jenen »Liebhaber« lediglich gespielt. Der schmächtige, etwas schüchtern wirkende Engelbert mit den schütteren blonden Strähnen auf dem Vogelkopf gefiel ihm tatsächlich. Gewiß gestattete sich Fuhr auch manchen Seitensprung – den sein Chef und Gönner geflissentlich übersah. Mit anderen, mehr finanziellen Unregelmäßig-keiten hielt es Müllerkoog genauso. Er wollte in diese Dinge nicht eindringen, solange ihm Fuhr den mächtigen Brustkorb ließ. Bei seinem Bernhard fühlte er sich geborgen.
So läßt sich gefahrlos vorhersagen, im Karlskirchener Amtsgericht hätte Engelbert Müllerkoog einen glänzenden »Lebensabend« haben können. Aber er hatte ihn nicht. Ein böses Schicksal wollte es anders. Zunächst erlitt Müllerkoogs Tochter einen tödlichen Unfall, jedenfalls in der amtlichen Sicht. Das war schon rund zwei Jahre nach der Übersiedelung ihres Vaters. Renate, geschieden und in der Folge alleinstehend, wohnte unweit des Gymnasiums an der Ostseite des Schloßberges in einem modernen Mehrfamilienhaus zur Miete. Man bescheinigte der Lehrerin allgemein ein bescheidenes Wesen. Auf ihren hochgelobten Vater bildete sie sich nichts ein, und sie strebte auch selber nicht nach Ruhm. Wenn sie sich angewöhnt hatte, nahezu täglich einen bestimmten, mit Treppen durchsetzten Steilweg zur Schloßruine hinaufzukeuchen, dann aus Gesundheitsgründen. Sie wollte schlank und fit bleiben. Dabei nun geschah es. Es hatte an dem verhängnisvollen Sommertag geregnet. Nach Ansicht der Fritzlaer Kripo glitt die Lehrerin bei ihrem üblichen Abendlauf zur Schloßruine unglücklich auf einer glitschigen Treppe aus, stürzte über 20 Meter einen Steilhang hinunter und schlug vor einem der ehemaligen Eiskeller am Fuße des östlichen Schloßberges auf einer schmalen asphaltierten Straße auf. Sie brach sich das Genick. Unmittelbare Augenzeugen hatte die Polizei nicht aufgetrieben. Sie stellte ihre Ermittlungen nach wenigen Wochen ein, weil sich keine Anhaltspunkte für ein Ver-brechen gefunden hätten. Die Alternative »Selbstmord« übergingen die Beamten möglichst taktvoll – auch dies bereits, wie man sich denken kann, dem prominenten Vater, Mitbürger und Steuerzahler Müllerkoog zuliebe.
Schon wenige Monate nach diesem angeblichen Unfall kommt auch der Sohn zu Tode. Dies allerdings in Vessel, dem Wohnort Manfred Müllerkoogs. Dort war die Fritzlarer Kripo nicht zuständig. Auch dieser Todesfall wurde nie wirklich aufgeklärt. Was die Vesseler Kripo immerhin zweifelsfrei feststellte: Der Junior hatte einen Hund. Als er diesen, wie gewohnt, spätabends in der Karlsaue ausgeführt habe, sei der Sohn des berühmten Dichters Opfer eines Raubmordes geworden, hieß es am übernächsten Tag in der Vesseler Post. Selbst der Hund habe daran glauben müssen. Der Täter konnte unerkannt entkommen. Dabei blieb es.
Manfreds Verhältnis zum Senior war schwierig gewesen. Das zum Publikum auch. Manfred hatte sich dummer-, wenn auch überlicherweise in den Kopf gesetzt, gleichfalls eine literarische Laufbahn einzuschlagen und so zu Ruhm zu kommen, verstand es freilich nie, sich aus dem Schatten des Alten zu lösen. Manfreds Bücher gingen eher schlecht. So steckte ihm Engelbert Müllerkoog, via Fuhr, manchen Scheck zu, was das Verhältnis nicht gerade unkompli-zierter machte. Gleichwohl konnte es Manfred verständ-licherweise nicht dulden, wenn Fuhr die zukünftige Erbmasse anzutasten wagte, die Manfred und Renate winkte. Eben diesen Verdacht – den der Veruntreuung – hatten die beiden schon seit einiger Zeit gehegt. Davon wußte die Vesseler Kripo aber nichts. Fuhr hatte die beiden Sprößlinge noch rechtzeitig um die Ecke gebracht.
Es liegt auf der Hand, daß Engelbert Müllerkoog vom Gram über den Verlust seiner beiden einzigen Kinder und der Ahnung von Fuhrs Vertrauensbrüchen dem Grabe zugetrieben wird. Schon um 1980 erliegt er einem Herzinfarkt. Sein Testament hat er da bereits unterzeichnet. Während Fuhr in den Genuß einer üppigen Rente kommt, gehen das Amtsgericht und noch ein paar Millionen an eine Stiftung, die Engelbert Müllerkoogs Andenken und die Nachwuchspflege hochhalten soll. Als Leiter dieser Einrichtung schlägt Müllerkoog wieder unbelehrbar seinen BernharDiener vor …
Ob einer wie Schlackendörfer den gramvollen Herztod des Großschriftstellers hätte verhindern können oder wollen, läßt ich schwer einschätzen. Jedenfalls hätte er sich die Dinge sicherlich zusammengereimt, entsprechende Indizien oder Zeugen beigebracht und Fuhr mit Vergnügen das Handwerk gelegt. Er hätte festgestellt: Beim unbeobachteten Stöbern in den Kontoauszügen ihres Vaters war Renate endgültig argwöhnisch geworden. Fuhr jedoch hatte seinerseits ihre Durchsicht beobachtet. Das war das Todesurteil für Renate gewesen. Fuhr lauerte ihr am Schloßberg auf und stieß sie in die Tiefe. Zwar hatte er sich maskiert, aber die Fritzlaer Kripo bestand überwiegend aus Schlafmützen. Selbst das Alibi, das er vorsichtshalber bereit hielt, brauchte Fuhr nicht zu zücken. Damit zum Sohn. Manfred dachte sich seinen Teil und entlockte seinem Vater, ob im Amtsgericht oder am Telefon, Andeutungen, die auch ihn, den Sohn, zum Todeskandidaten machten. Fuhr kannte Manfreds Gewohnheiten, außerdem die Wirtin einer bekannten Vesseler Schwulenkneipe, die ihm das schon wieder benötigte Alibi verschaffte. Die Vesseler Kripo hatte ihn durchaus in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen. Aber Fuhr genoß im Literaturbetrieb einen hohen Ruf und sein Alibi war nicht zu erschüttern.
Für mich war Fuhr ein Spieler, somit alles andere als ein vertrockneter Literaturwissenschaftler und Schreibtisch-hengst. In diesem Sinne nutzt er Müllerkoogs Schuld-gefühle ihm gegenüber (und die entsprechende Erpreßbarkeit) ohne Reue aus. Müllerkoog hat ja sicherlich einige Schaumschlägereien, dazu Moral- und Gesetzwidrigkeiten seines Sekretärs geduldet, wenn nicht sogar gebilligt. Auch vom Faschismus her hat Müllerkoog Dreck am Stecken. Ihn selber, Müllerkoog, hätte Fuhr niemals umgebracht, und er tat es ja auch nicht unmittelbar. Schließlich hätte er sich damit nur der Kuh beraubt, die er möglichst lange zu melken gedachte. Auf der einen Seite liebte Fuhr Müllerkoog und sein eigenes Ansehen; auf der anderen verachtete er die Sprößlinge seines Gönners. Die hatten es zu nichts gebracht. Da konnte man sie genauso gut umbringen.
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Um 1965, der Wirkungszeit meines Privatdetektivs Heinz Schlackendörfer, konnte sich das nordhessische Städtchen Karlskirchen noch mit einem Amtsgericht brüsten. Aber bald darauf wurde es, kraft der bekannten zentralistischen »Reformen« der Bonner Republik, dieser fragwürdigen Zierde beraubt. Man löste die Behörde auf und versetzte ein paar noch nicht pensionierte MitarbeiterInnen ans Amtsgericht der damaligen Kreisstadt Fritzlar. Das klobige Gebäude mit seinem großen Eckgiebel an der Längsseite und dem dort angeklatschten Portalhäuschen ließ man einstweilen leerstehen. Es würde sich schon ein Mieter oder Käufer finden, der eitel und reich genug dafür war, sich in einem Gebäude niederzulassen, über dessen Portal unübersehbar Amtsgericht stand – in bogenförmig angebrachten altmodischen Buchstaben, die regelmäßig frisch vergoldet wurden. Wie sich versteht, war das Gebäude aus der Kaiserzeit denkmalgeschützt.
Auf Schlackendörfer hatte der durchgehend aus kunterbunt gemischten Sandsteinen gemauerte Hort der Gerechtigkeit immer wie vom Fleckfieber befallen gewirkt. Der ehemalige Gerichtssaal, im ersten Stock des Eckgiebels gelegen, wies fünf schmale Kirchenfenster auf. Sie wurden im auslaufenden Giebel von einem Relief gekrönt: zwei Knaben umklammern ein senkrecht stehendes Schwert. Da konnten die Gauner der Gegend nur um Gnade beten. Das steile Dach war mit grauem Schiefer gedeckt. Die hohe eicherne Eingangstür im Portalhäuschen übertraf sogar viele Kirchentüren. Sie zeigte zwischen mehreren quer-strebenartigen gut gehobelten Brettern ein großzügiges Muster aus dicken rautenförmigen Holzschindeln; der ganze Besatz war mit Hilfe von unverbrämten Holzstiften im Türblatt verdübelt. Man konnte diesen Besatz als ein wuchtiges Furnier auffassen, das der kleinstädtischen Gerichtsfestung wohlangemessen war.
Schlackendörfer lag längst auf Pingos unter der Erde, als sich der »potente« Käufer einstellte. Das war um 1975. Der Mann hieß Engelbert Müllerkoog, damals Mitte 60. Jeder Literaturfreund oder Fernsehkonsument wußte selbstverständlich, was er von diesem Mann zu halten hatte. Er war bedeutend. Er strich emsig Literaturpreise ein und versäumte selten eine Gelegenheit, öffentlich salbungsvolle Worte von sich zu geben, obwohl er von Natur aus keineswegs typischer Prahlhans war. Er war einfach nur von seiner Bedeutung durchdrungen. Seine Tochter Renate, neuerdings Lehrerin am einzigen Gymnasium Karlskirchens, hatte das leerstehende Amtsgericht beiläufig und absichtslos am Telefon erwähnt. Müllerkoog, damals in München residierend, war beeindruckt und setzte sowohl seine Tochter wie seinen »BernharDiener« sofort auf die Karlskirchener Stadtväter an. Die zeigten sich hocherfreut und verkauften ihm die wertvolle Immobilie. Später gestand Müllerkoog, beson-ders eine Großaufnahme der beiden Knaben mit dem Schwert – die von der Giebelspitze – hätte es ihm angetan.
Der BernharDiener hieß eigentlich Bernhard Fuhr und hatte sogar einen Doktortitel. Er war rund 20 Jahre jünger als sein Chef. Offiziell war er Müllerkoogs Sekretär. Inoffiziell auch dessen Liebhaber und Wegbahner. Germanist Fuhr hatte die maßgeblichen Arbeiten und Artikel über den großen »Dichter« Müllerkoog veröffentlicht, glänzte mit Vorträgen über ihn und kümmerte sich um alles, was sich Müllerkoog kokett weltfremd als »Bürokram« vom Leibe hielt. Man kann sich wohl denken, daß Fuhr auf diese Weise auf seine Kosten kam. Im neu erworbenen Amtsgericht ließ Müllerkoog eine Art Einliegerwohnung für seinen »BernharDiener« schaffen. Er selber, der von Fuhr aufgebaute Großschriftsteller, wandelte den früheren Gerichtssaal in sein Arbeitszimmer um. Platz war genug, denn Müllerkoogs angebliche Ehefrau war schon vor Jahren einer Krankheit erlegen, und Müllerkoogs Sohn Manfred wohnte 20 Kilometer weiter östlich in der nordhessischen Metropole Vessel. Blieb noch die Haushälterin, die lediglich über Tage oder bei Abendempfängen anwesend war. Einen echten, vierbeinigen Hund gab es nicht.
Fuhr war ein stämmiger, charmanter und sogar gutaussehender Mann, der mit Engelszungen reden konnte. Man sollte jedoch nicht argwöhnen, er habe jenen »Liebhaber« lediglich gespielt. Der schmächtige, etwas schüchtern wirkende Engelbert mit den schütteren blonden Strähnen auf dem Vogelkopf gefiel ihm tatsächlich. Gewiß gestattete sich Fuhr auch manchen Seitensprung – den sein Chef und Gönner geflissentlich übersah. Mit anderen, mehr finanziellen Unregelmäßig-keiten hielt es Müllerkoog genauso. Er wollte in diese Dinge nicht eindringen, solange ihm Fuhr den mächtigen Brustkorb ließ. Bei seinem Bernhard fühlte er sich geborgen.
So läßt sich gefahrlos vorhersagen, im Karlskirchener Amtsgericht hätte Engelbert Müllerkoog einen glänzenden »Lebensabend« haben können. Aber er hatte ihn nicht. Ein böses Schicksal wollte es anders. Zunächst erlitt Müllerkoogs Tochter einen tödlichen Unfall, jedenfalls in der amtlichen Sicht. Das war schon rund zwei Jahre nach der Übersiedelung ihres Vaters. Renate, geschieden und in der Folge alleinstehend, wohnte unweit des Gymnasiums an der Ostseite des Schloßberges in einem modernen Mehrfamilienhaus zur Miete. Man bescheinigte der Lehrerin allgemein ein bescheidenes Wesen. Auf ihren hochgelobten Vater bildete sie sich nichts ein, und sie strebte auch selber nicht nach Ruhm. Wenn sie sich angewöhnt hatte, nahezu täglich einen bestimmten, mit Treppen durchsetzten Steilweg zur Schloßruine hinaufzukeuchen, dann aus Gesundheitsgründen. Sie wollte schlank und fit bleiben. Dabei nun geschah es. Es hatte an dem verhängnisvollen Sommertag geregnet. Nach Ansicht der Fritzlaer Kripo glitt die Lehrerin bei ihrem üblichen Abendlauf zur Schloßruine unglücklich auf einer glitschigen Treppe aus, stürzte über 20 Meter einen Steilhang hinunter und schlug vor einem der ehemaligen Eiskeller am Fuße des östlichen Schloßberges auf einer schmalen asphaltierten Straße auf. Sie brach sich das Genick. Unmittelbare Augenzeugen hatte die Polizei nicht aufgetrieben. Sie stellte ihre Ermittlungen nach wenigen Wochen ein, weil sich keine Anhaltspunkte für ein Ver-brechen gefunden hätten. Die Alternative »Selbstmord« übergingen die Beamten möglichst taktvoll – auch dies bereits, wie man sich denken kann, dem prominenten Vater, Mitbürger und Steuerzahler Müllerkoog zuliebe.
Schon wenige Monate nach diesem angeblichen Unfall kommt auch der Sohn zu Tode. Dies allerdings in Vessel, dem Wohnort Manfred Müllerkoogs. Dort war die Fritzlarer Kripo nicht zuständig. Auch dieser Todesfall wurde nie wirklich aufgeklärt. Was die Vesseler Kripo immerhin zweifelsfrei feststellte: Der Junior hatte einen Hund. Als er diesen, wie gewohnt, spätabends in der Karlsaue ausgeführt habe, sei der Sohn des berühmten Dichters Opfer eines Raubmordes geworden, hieß es am übernächsten Tag in der Vesseler Post. Selbst der Hund habe daran glauben müssen. Der Täter konnte unerkannt entkommen. Dabei blieb es.
Manfreds Verhältnis zum Senior war schwierig gewesen. Das zum Publikum auch. Manfred hatte sich dummer-, wenn auch überlicherweise in den Kopf gesetzt, gleichfalls eine literarische Laufbahn einzuschlagen und so zu Ruhm zu kommen, verstand es freilich nie, sich aus dem Schatten des Alten zu lösen. Manfreds Bücher gingen eher schlecht. So steckte ihm Engelbert Müllerkoog, via Fuhr, manchen Scheck zu, was das Verhältnis nicht gerade unkompli-zierter machte. Gleichwohl konnte es Manfred verständ-licherweise nicht dulden, wenn Fuhr die zukünftige Erbmasse anzutasten wagte, die Manfred und Renate winkte. Eben diesen Verdacht – den der Veruntreuung – hatten die beiden schon seit einiger Zeit gehegt. Davon wußte die Vesseler Kripo aber nichts. Fuhr hatte die beiden Sprößlinge noch rechtzeitig um die Ecke gebracht.
Es liegt auf der Hand, daß Engelbert Müllerkoog vom Gram über den Verlust seiner beiden einzigen Kinder und der Ahnung von Fuhrs Vertrauensbrüchen dem Grabe zugetrieben wird. Schon um 1980 erliegt er einem Herzinfarkt. Sein Testament hat er da bereits unterzeichnet. Während Fuhr in den Genuß einer üppigen Rente kommt, gehen das Amtsgericht und noch ein paar Millionen an eine Stiftung, die Engelbert Müllerkoogs Andenken und die Nachwuchspflege hochhalten soll. Als Leiter dieser Einrichtung schlägt Müllerkoog wieder unbelehrbar seinen BernharDiener vor …
Ob einer wie Schlackendörfer den gramvollen Herztod des Großschriftstellers hätte verhindern können oder wollen, läßt ich schwer einschätzen. Jedenfalls hätte er sich die Dinge sicherlich zusammengereimt, entsprechende Indizien oder Zeugen beigebracht und Fuhr mit Vergnügen das Handwerk gelegt. Er hätte festgestellt: Beim unbeobachteten Stöbern in den Kontoauszügen ihres Vaters war Renate endgültig argwöhnisch geworden. Fuhr jedoch hatte seinerseits ihre Durchsicht beobachtet. Das war das Todesurteil für Renate gewesen. Fuhr lauerte ihr am Schloßberg auf und stieß sie in die Tiefe. Zwar hatte er sich maskiert, aber die Fritzlaer Kripo bestand überwiegend aus Schlafmützen. Selbst das Alibi, das er vorsichtshalber bereit hielt, brauchte Fuhr nicht zu zücken. Damit zum Sohn. Manfred dachte sich seinen Teil und entlockte seinem Vater, ob im Amtsgericht oder am Telefon, Andeutungen, die auch ihn, den Sohn, zum Todeskandidaten machten. Fuhr kannte Manfreds Gewohnheiten, außerdem die Wirtin einer bekannten Vesseler Schwulenkneipe, die ihm das schon wieder benötigte Alibi verschaffte. Die Vesseler Kripo hatte ihn durchaus in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen. Aber Fuhr genoß im Literaturbetrieb einen hohen Ruf und sein Alibi war nicht zu erschüttern.
Für mich war Fuhr ein Spieler, somit alles andere als ein vertrockneter Literaturwissenschaftler und Schreibtisch-hengst. In diesem Sinne nutzt er Müllerkoogs Schuld-gefühle ihm gegenüber (und die entsprechende Erpreßbarkeit) ohne Reue aus. Müllerkoog hat ja sicherlich einige Schaumschlägereien, dazu Moral- und Gesetzwidrigkeiten seines Sekretärs geduldet, wenn nicht sogar gebilligt. Auch vom Faschismus her hat Müllerkoog Dreck am Stecken. Ihn selber, Müllerkoog, hätte Fuhr niemals umgebracht, und er tat es ja auch nicht unmittelbar. Schließlich hätte er sich damit nur der Kuh beraubt, die er möglichst lange zu melken gedachte. Auf der einen Seite liebte Fuhr Müllerkoog und sein eigenes Ansehen; auf der anderen verachtete er die Sprößlinge seines Gönners. Die hatten es zu nichts gebracht. Da konnte man sie genauso gut umbringen.
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