Donnerstag, 14. Juli 2022
Jengibarow, Leonid Georgijewitsch

37 (1935–72). Ein Durstiger erblickt einen Krug mit Wasser. Allerdings steht der Krug auf einem hochgele-genen Sims: es kostet einige Mühe, an ihn heranzukom-men. Mehrmals stürzt der Durstige sogar. Als er den Krug schließlich in Händen hält, malen sich auf seinem Gesicht die Vorfreuden der Labsal aus. Aber da taucht unvermutet ein kleines Mädchen auf, das sich den Krug inständig von ihm erbittet. Tatsächlich läßt sich der Mann erweichen, schließlich könnte das Mädchen noch durstiger sein als er. Das Mädchen nimmt den Krug, geht zu einer Sandkuhle und macht sich daran, den Sand mit Hilfe des ergatterten Wassers anzufeuchten, um schöne Kuchen daraus formen zu können. Der Mann hat es verblüfft verfolgt – und jetzt lächelt er.

Der Mann hieß Leonid Jengibarow, ein erfolgreicher, aber nicht altgewordener sowjetischer Clown. Man erzählt von ihm, er habe sich zeitlebens wie ein Kind nach Anerkennung, ja Liebe verzehrt. Er wurde 37. Trotz eines vielköpfigen Publikums und zahlreicher Verehrerinnen soll ihm recht einsam zumute gewesen sein, und wahrschein-lich starb er im Sommer 1972 auch entsprechend. Während der 1960er Jahre hatte der Sohn einer russischen Schneiderin und eines armenischen Kochs bereits zur Creme der Clowns des gesamten »Ostblocks« gezählt. Ursprünglich leidenschaftlicher Boxer, hatte er zunächst die Moskauer Sporthochschule besucht, wechselte dann aber auf die Zirkusschule. Laut Natalia Rumjanzewa (Clown und Zeit, Ostberlin 1989) arbeitete er dort so ausgiebig in Fächern wie Jonglieren, Seiltanz und Akrobatik, daß ihn seine Lehrer schon als zukünftigen Parodierclown ansahen. Doch er wurde Pantomimeclown. Ab 1959 war er am Armenischen Staatszirkus engagiert.

Fotografien zufolge ohnehin mit eher weichen Gesichts-zügen ausgestattet, wandte sich Jengibarow auch in seinem neuen Fach von der Derbheit ab, indem er seinen vorwiegend stummen Nummern die entsprechenden poetischen und philosophischen Züge verlieh. In Schminke, Kostüm und Requisiten beschränkte er sich stark. Ein Halstuch zum geringelten T-Shirt und ein Koffer waren schon viel. Das verstörte damals viele Kollegen und Offizielle, aber das Publikum nahm den »Clown mit dem Herbst im Herzen« beeindruckt an. Offenbar war er insbesondere ein Liebling der Frauen. Jengibarow verdiente gut, war aber nicht fähig oder willens, sein Geld zusammenzuhalten. So überhäufte er etliche Frauen geradezu mit Blumen und anderen Geschenken. Heiraten tat er nicht. Auch durch Prosastücke, die er in Zeitschriften veröffentlichen konnte, soll er für sich eingenommen haben. Zudem führte sein Erfolg in der Arena zur Mitwirkung in zahlreichen Filmen. Schließlich hatte er sich vorher schon gern als »Fernschüler Charlie Chaplins« bezeichnet.

Der Schnitt in seiner Karriere kam 1971. Nachdem sein Partner Belova aus mir unbekannten Gründen für alle Gastspielreisen gesperrt worden war, verließ Jengibarow den Staatszirkus und versuchte sich mit einem eigenen Pantomime-Theater, das er freilich nicht Theater nennen durfte. Möglicherweise gab es auch noch andere Schikanen. Auf diese Moskauer Bühne brachte der Anhänger des »Prager Frühlings« (wo er oft gastiert hatte) lediglich eine Inszenierung, genannt »Sternregen«. Im Sommer 1972 trat er ab. Rumjanzewa speist uns diesbezüglich mit der typisch realsozialistischen Verlautbarung ab, eines Tages sei Jengibarow nach einer Vorstellung nach Hause gekommen und gestorben. Verschiedene Wikipedias sprechen von einem Herzinfarkt oder Ähnlichem. Die russische Ausgabe führt sogar die (angebliche) Sterbeurkunde – und eine befangene Zeugin an: Jengibarows Mutter Antonina Andrianovna, bei der er anscheinend wohnte. Ein Argwohn Richtung Selbstmord dürfte gleichwohl nicht zu aberwitzig sein. Das wäre auch kaum das Dümmste gewesen, gibt es doch nichts Peinlicheres als einen alternden Clown, der als Parodist seiner eigenen, schon so lange bewährten Nummern aufzutreten scheint.
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