Montag, 4. Juli 2022
Camping
Um 2009


Es war ein Wettlauf gegen den Kalender. Im April des Jahres 2003 begonnen, mußte der Ausbau der ehemaligen Waltershäuser biggi-Puppenfabrik bis zum Herbst zumin-dest weit genug erfolgt sein, um 15 bis 20 Leuten kalte Ärsche zu ersparen. Denn die meisten von uns hatten ihre Wohnungen in Freiburg, Berlin, Korbach oder anderswo bereits gekündigt.

Angesichts der Tatsache, daß die Gründung der neuen Puppenfabrikkommune zum einen auf notariell beglaubigtem Papier, zum anderen in einer »entkernten« Ruine stattgefunden hatte, war das sicherlich mutig, vielleicht auch leichtsinnig. Von den Wänden und Decken der Fabriksäle hingen Putz oder Lackanstriche in Fladen herab. Jeder Gang durch die Säle wurde durch Schutt, Sperrmüll, leere Bierflaschen und herausstehende Dielennägel zum Hindernislauf. Die Geländer in den drei Treppenhäusern waren überwiegend zertrümmert. Ähnliches galt für die rund 300 Fenster der 2.800 Quadratmeter großen Fabrik. Waren die Scheiben noch heil, schlossen die Flügel nicht. Der April war zunächst kalt; in unserer Herberge und künftigen Heimstatt zog es, als läge sie auf dem Inselsberg. Im Hauptgebäude hatten wir uns behelfsmäßig den am wenigsten unwirtlichen Saal im Ersten Stock für unser »Baucamp« auserkoren. Die Baustelle selber befand sich im Seitenflügel, auf den die Kommune bis heute beschränkt ist.

Der Vorschlag mit den Zelten war von unserem Ex-Niederkaufunger Peter gekommen. Immerhin konnten wir die Zelte auf Holzdielen aufschlagen, womit es sich erübrigte, die Heringe einzudübeln. Wir klopften kurzerhand Hakennägel in die Dielen. Ich kann es bis heute noch nicht glauben, daß ich auf der dünnen Iso-Matte in meinem kleinen Zelt im Nu einschlafen konnte, obwohl mich nicht nur die Schauer des Fröstelns sondern auch der dröhnenden Musik von Cochise oder der Bluesröhre Anne Haigis überliefen. Der Saal war ja zugleich Gemeinschaftsraum mit einer langen Eßtafel und einer Sitzecke aus Sperrmüllsofas. Da wir binnen dreier Tage Wasser- und Stromleitungen gelegt hatten, verfügten wir nebenan über eine Behelfsküche und im Erdgeschoß sogar über eine Dusche. Als es sommerlich heiß wurde, lockten die Lampen und geöffneten Fenster wahre Mückenschwärme in unser Camp, aber auch gegen sie zeigte ich mich verblüffend dickfellig. So erwies sich wieder einmal, der Pioniergeist verschworener (Glaubens-)Gemeinschaften ist imstande, Schuttberge zu versetzen und NeurotikerInnen in Helden oder Batweiber zu verwandeln.

Allerdings hält die Aufbruchstimmung nie ewig an, weshalb im Zuge ihres Abflauens zum Zwecke der Kompensation der sich häufenden Konflikte an den Legenden von jener Pionierzeit gestrickt wird. Danach waren wir zwei Dutzend Leute ein Herz und eine Seele und die beste Kommunegründungsgruppe des Jahrzehnts gewesen. Die Konflikte schlichen sich irgendwie (aus Feindesland) von außen ein. In Wahrheit saß der Wurm der Unverträglichkeit von Anfang an in der Gruppe. Bei jedem zweiten Frühstück an der erwähnten langen Eßtafel hing dicke, oft sogar vergiftete Luft im Saal. Auf der Baustelle flogen die Funken noch am wenigsten von der Flex. Alle paar Nase lang »schmiß jemand die Klamotten hin«, weil er wütend oder gekränkt war. Mehrmals drohte es sogar zu Handgreiflichkeiten zwischen Kommunarden zu kommen. Doch sowohl die heute noch in der Puppenfabrik Ausharrenden wie die meisten der AussteigerInnen verklären das Damals zur heilen Welt. Die können sie sich wenigstens an den Hut stecken – man hat nicht völlig versagt.

Mir dagegen reicht die zentrale Holzheizung fürs Empfin-den einer gewissen Genugtuung aus. Unter Federführung von Jürgen und Michi wurde sie nahezu pünktlich fertig, sodaß wir ab Ende Oktober nicht mehr frieren mußten. Bald darauf übernahm ich die Verantwortung für die Holzbeschaffung und half zudem im Heizkeller mit. Ich bereue auch diese Knochenarbeit nicht; es sind wertvolle Erfahrungen.
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