Mittwoch, 26. September 2018
Gundula
ziegen, 12:51h
Geschrieben um 2010
Ben seufzte, schloß sein leeres Email-Postfach, schob die Tastatur beiseite und äugte mit aufgestütztem Kopf trübsinnig aus dem Fenster. Der Marktplatz wurde gerade von einer Gruppe Gymnasiastinnen überquert, wohl Touristen. Nicht eins der Mädchen kam auf die Idee, zu Bens Haustür abzudrehen und auf seine Klingel zu drücken. Vielmehr verschwand die geräuschvolle Gruppe im Dom. Kaum hatte dieser das Krähen und Kichern der Mädchen verschluckt, fing er zu dröhnen an: 12 Uhr. Ben mußte unwillkürlich an Bamberg denken. Um 1980 war er mit der Band, in der er damals mitwirkte, in Süddeutsch-land unterwegs gewesen. In Bamberg ballten sich wieder einmal die Zufälle. Sie hatten einen Auftritt in einem Kneipenhinterzimmer. Natürlich war ihm die Frau mit dem blondem Bubikopf schon während des Konzertes aufgefallen. Gleichwohl überraschte ihn sein Glück. Er war noch damit beschäftigt, sein Saxophon auszuputzen und im Kasten zu verstauen, als er die alarmierende Beobachtung machen durfte: Mein Gott, die schönste Frau in der ganzen Kneipe kommt auf dich zu! Sie fand ihren kaum verhohlenen »Aufhänger«, und nach einem Stündchen verdrückten sie sich Arm in Arm.
Zu Isabells Unverkrampftheit und ihrem biegsamen, ranken Wuchs gesellte sich rasch der nächste hübsche Zufall: Ihr Klavierlehrer hatte anderntags eine Lesung, während Bens Band konzertfrei war. Und zufällig war der Klavierlehrer fast so berühmt wie der Bamberger Dom: Heribert Wullenweber, der in Bamberg lebte. Der Autor und Übersetzer wollte aus einem noch ziemlich unbekanntem Werk des James Joyce lesen, an dem er zu jener Zeit offenbar gerade arbeitete. Zuvor jedoch schleppte Isabell den Saxophonisten, den sie frisch erobert hatte, in der Tat zum Dom. Sie gab zu, man könne das spätromanische, klobige, bräunliche Gebäude auch, wie Ben, als einen Kothaufen Satans auffassen. Das Bild hinkte allerdings aufgrund der vier spitzen Türme, mit denen der Klotz alle wolkigen Träume zu harpunieren suchte, die den Schlafzimmern solcher bislang nicht arbeitslosen Frauen wie Isabell damals noch entstiegen. Isabell wollte Ben ohnehin nur ein paar lustige in Stein gemeißelte Weiblein und Männlein zeigen, die das prächtige »Fürstenportal« zu bieten hat. Dort läßt sich unter den in der Tiefe gestaffelten Rundbögen das »Jüngste Gericht« bewundern. In der Mitte thront Christus, flankiert von einerseits den Erlösten oder Seligen, andererseits den Verdammten. Wullenweber war auf keiner Seite zu erblicken. Vielleicht hätte er sich sogar unter den Verdammten wohlgefühlt, denn was offiziell als von Schmerz verzerrte Gesichter und verkrümmte Leiber ausgegeben wird, könnte auch die Auslegung erwecken, diese »Sünder« lachten sich ins Fäustchen oder bögen sich vor Gelächter.
Unter den Erlösten findet man herrlich verschmitzte oder bauernschlaue Gesichter. Diese Gesellschaft wäre für den Feingeist Wullenweber, den Ben dann abends kennen-lernte, sicherlich zu derb gewesen. Ben erlebte einen so gut wie Isabell aussehenden schlanken, kultivierten, klugen Mann um 40, der seinen Stoff so wohltönend vorzutragen wußte, wie es dem Wortklingler und Windbeutel Joyce wohlangemessen ist, eben wie Musik. Dem Übersetzer und Klavierlehrer gebrach es lediglich an der Fähigkeit, seine beträchtliche Eitelkeit zu verbrämen. Er gefiel sich als Erreger öffentlichen Wohlgefallens wie das Domdach in der Sonne.
Da die Band ihren nächsten Auftritt anderntags in Nürnberg hatte, hätte Isabell Ben bestimmt begleitet – wäre nicht soeben ihre Großmutter gestorben, sodaß die Enkelin zur Trauerfeier mußte. Das war der nächste Zufall. Schließlich hätte Ben in Begleitung von Isabell genauso selbstverständlich nicht mit Gundula angebändelt, die in einem Stehcafe in der Nürnberger Fußgängerzone am Nachbartisch der Band stand. Zwar betrübte Isabells Verhinderung Ben durchaus, doch man darf auch vermuten, lange wäre es zwischen den beiden ohnehin nicht gut gegangen. Isabell hatte nämlich die Waldorf-schule in Hof besucht und dann, als überzeugte Anthroposophin, selber Kurs auf ein Waldorf-Lehramt genommen. Man sieht, wer sich in Deutschland bewegt, kommt an Steiner nicht vorbei.
Die Prüfung, die ihm dann durch Gundula auferlegt wurde, war allerdings noch schwerer. Im ersten Moment schien dem Blickwechsel, der sie verbändelte, die gewohnte Routine zu eignen, doch dann sah Ben die Krücken, die an Gundulas Stehtisch lehnten. Und sie war der einzige Gast an diesem Tisch. Er ahnte die dürren Beine unter ihren Hosen. So wurde ihm aus recht gemischten Gefühlen ziemlich heiß.
Als seine Mitstreiter weiterziehen wollten, bat er darum, ihn zu entschuldigen; er wolle noch etwas bleiben. Keyborder Ömme hatte es schon geahnt. Er verdrehte andeutungsweise die Augen, lächelte aber immerhin nachsichtig, während sich Ben die Adresse von ihrem abendlichem Auftrittsort notierte. Später versicherte ihm Ömme, Gundulas Gesichtsausdruck hätte auch ihn berührt. »Beim Wandern gucken dich oft die Kühe so an, wenn sie im Grasen innegehalten haben, weil da ein unvermutetes rätselhaftes, zweibeiniges Wesen kommt«, sagte er. »Viele nennen es Glotzen, aber die müssen aus Holz sein. Verletztheit und Hoffnung liegt in diesen Rinderblicken. Sie geben die Hoffnung nicht auf, es könnte einmal einer kommen, der sie nicht für mehr oder weniger nützliche Idioten hält.«
Ben hatte sogar Feuer in Gundulas Augen gesehen, und der Eindruck trog ihn nicht. Sie wohnte fast um die Ecke im ersten Stock eines schmalen Altbaus. Etwas benom-men, fast ungläubig verfolgte er, wie sie sich mit Hilfe ihrer Krücken dicht vor ihm die Treppenstufen hochstemmte. Sie hatte lange, schwarze Locken, die dabei flogen. Bald darauf kam sie auf ihrem Matratzenlager trotz ihrer lahmen Beine wie ein Sturm über Ben. Er seinerseits kam gar nicht dazu, Abneigung oder gar Abscheu zu entwickeln. Wahrscheinlich war es ein Gemisch aus Abenteuerlust, Wißbegier und Mitleid, das ihn auf sie hatte anbeißen lassen, doch von dem Mitleid war an jenem Nachmittag nicht mehr viel zu spüren. Sie lachten viel.
Später erfüllte es Ben vor allem mit Hochachtung, wenn er daran dachte, wie tapfer Gundula ihr hartes Los ertrug. Die verkrüppelten Beine verdankte sie der Kinderlähmung. Er besuchte sie in den folgenden Monaten noch mehrmals. Mit Ende 30 war sie rund 10 Jahre älter als Ben. Beim Auftritt der Band, der im Jugendkulturhaus Komm stattfand, hatte er bereits gemerkt, Gundula war in der Spontiszene bekannt wie ein bunter Hund. Sie war auch stets bunt gekleidet, so halb hippi-, halb zigeunerhaft. Sie arbeitete in einer linken Druckerei am Composer – einer elektronischen Setzmaschine, die dem Siegeszug des Computers und des Digitaldrucks vorausging. Auf das Drehen von Joints verstand sich Gundula ebenfalls. Ihre Beziehung versandete, als sie nach rund einem halbem Jahr mit einem neuem und dazu gut betuchtem Liebhaber nach Auroville in Südindien ging. Möge sie es dort besser getroffen haben als Ben, der sich nach erneutem Seufzen die Tastatur wieder vor die Nase zieht.
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Ben seufzte, schloß sein leeres Email-Postfach, schob die Tastatur beiseite und äugte mit aufgestütztem Kopf trübsinnig aus dem Fenster. Der Marktplatz wurde gerade von einer Gruppe Gymnasiastinnen überquert, wohl Touristen. Nicht eins der Mädchen kam auf die Idee, zu Bens Haustür abzudrehen und auf seine Klingel zu drücken. Vielmehr verschwand die geräuschvolle Gruppe im Dom. Kaum hatte dieser das Krähen und Kichern der Mädchen verschluckt, fing er zu dröhnen an: 12 Uhr. Ben mußte unwillkürlich an Bamberg denken. Um 1980 war er mit der Band, in der er damals mitwirkte, in Süddeutsch-land unterwegs gewesen. In Bamberg ballten sich wieder einmal die Zufälle. Sie hatten einen Auftritt in einem Kneipenhinterzimmer. Natürlich war ihm die Frau mit dem blondem Bubikopf schon während des Konzertes aufgefallen. Gleichwohl überraschte ihn sein Glück. Er war noch damit beschäftigt, sein Saxophon auszuputzen und im Kasten zu verstauen, als er die alarmierende Beobachtung machen durfte: Mein Gott, die schönste Frau in der ganzen Kneipe kommt auf dich zu! Sie fand ihren kaum verhohlenen »Aufhänger«, und nach einem Stündchen verdrückten sie sich Arm in Arm.
Zu Isabells Unverkrampftheit und ihrem biegsamen, ranken Wuchs gesellte sich rasch der nächste hübsche Zufall: Ihr Klavierlehrer hatte anderntags eine Lesung, während Bens Band konzertfrei war. Und zufällig war der Klavierlehrer fast so berühmt wie der Bamberger Dom: Heribert Wullenweber, der in Bamberg lebte. Der Autor und Übersetzer wollte aus einem noch ziemlich unbekanntem Werk des James Joyce lesen, an dem er zu jener Zeit offenbar gerade arbeitete. Zuvor jedoch schleppte Isabell den Saxophonisten, den sie frisch erobert hatte, in der Tat zum Dom. Sie gab zu, man könne das spätromanische, klobige, bräunliche Gebäude auch, wie Ben, als einen Kothaufen Satans auffassen. Das Bild hinkte allerdings aufgrund der vier spitzen Türme, mit denen der Klotz alle wolkigen Träume zu harpunieren suchte, die den Schlafzimmern solcher bislang nicht arbeitslosen Frauen wie Isabell damals noch entstiegen. Isabell wollte Ben ohnehin nur ein paar lustige in Stein gemeißelte Weiblein und Männlein zeigen, die das prächtige »Fürstenportal« zu bieten hat. Dort läßt sich unter den in der Tiefe gestaffelten Rundbögen das »Jüngste Gericht« bewundern. In der Mitte thront Christus, flankiert von einerseits den Erlösten oder Seligen, andererseits den Verdammten. Wullenweber war auf keiner Seite zu erblicken. Vielleicht hätte er sich sogar unter den Verdammten wohlgefühlt, denn was offiziell als von Schmerz verzerrte Gesichter und verkrümmte Leiber ausgegeben wird, könnte auch die Auslegung erwecken, diese »Sünder« lachten sich ins Fäustchen oder bögen sich vor Gelächter.
Unter den Erlösten findet man herrlich verschmitzte oder bauernschlaue Gesichter. Diese Gesellschaft wäre für den Feingeist Wullenweber, den Ben dann abends kennen-lernte, sicherlich zu derb gewesen. Ben erlebte einen so gut wie Isabell aussehenden schlanken, kultivierten, klugen Mann um 40, der seinen Stoff so wohltönend vorzutragen wußte, wie es dem Wortklingler und Windbeutel Joyce wohlangemessen ist, eben wie Musik. Dem Übersetzer und Klavierlehrer gebrach es lediglich an der Fähigkeit, seine beträchtliche Eitelkeit zu verbrämen. Er gefiel sich als Erreger öffentlichen Wohlgefallens wie das Domdach in der Sonne.
Da die Band ihren nächsten Auftritt anderntags in Nürnberg hatte, hätte Isabell Ben bestimmt begleitet – wäre nicht soeben ihre Großmutter gestorben, sodaß die Enkelin zur Trauerfeier mußte. Das war der nächste Zufall. Schließlich hätte Ben in Begleitung von Isabell genauso selbstverständlich nicht mit Gundula angebändelt, die in einem Stehcafe in der Nürnberger Fußgängerzone am Nachbartisch der Band stand. Zwar betrübte Isabells Verhinderung Ben durchaus, doch man darf auch vermuten, lange wäre es zwischen den beiden ohnehin nicht gut gegangen. Isabell hatte nämlich die Waldorf-schule in Hof besucht und dann, als überzeugte Anthroposophin, selber Kurs auf ein Waldorf-Lehramt genommen. Man sieht, wer sich in Deutschland bewegt, kommt an Steiner nicht vorbei.
Die Prüfung, die ihm dann durch Gundula auferlegt wurde, war allerdings noch schwerer. Im ersten Moment schien dem Blickwechsel, der sie verbändelte, die gewohnte Routine zu eignen, doch dann sah Ben die Krücken, die an Gundulas Stehtisch lehnten. Und sie war der einzige Gast an diesem Tisch. Er ahnte die dürren Beine unter ihren Hosen. So wurde ihm aus recht gemischten Gefühlen ziemlich heiß.
Als seine Mitstreiter weiterziehen wollten, bat er darum, ihn zu entschuldigen; er wolle noch etwas bleiben. Keyborder Ömme hatte es schon geahnt. Er verdrehte andeutungsweise die Augen, lächelte aber immerhin nachsichtig, während sich Ben die Adresse von ihrem abendlichem Auftrittsort notierte. Später versicherte ihm Ömme, Gundulas Gesichtsausdruck hätte auch ihn berührt. »Beim Wandern gucken dich oft die Kühe so an, wenn sie im Grasen innegehalten haben, weil da ein unvermutetes rätselhaftes, zweibeiniges Wesen kommt«, sagte er. »Viele nennen es Glotzen, aber die müssen aus Holz sein. Verletztheit und Hoffnung liegt in diesen Rinderblicken. Sie geben die Hoffnung nicht auf, es könnte einmal einer kommen, der sie nicht für mehr oder weniger nützliche Idioten hält.«
Ben hatte sogar Feuer in Gundulas Augen gesehen, und der Eindruck trog ihn nicht. Sie wohnte fast um die Ecke im ersten Stock eines schmalen Altbaus. Etwas benom-men, fast ungläubig verfolgte er, wie sie sich mit Hilfe ihrer Krücken dicht vor ihm die Treppenstufen hochstemmte. Sie hatte lange, schwarze Locken, die dabei flogen. Bald darauf kam sie auf ihrem Matratzenlager trotz ihrer lahmen Beine wie ein Sturm über Ben. Er seinerseits kam gar nicht dazu, Abneigung oder gar Abscheu zu entwickeln. Wahrscheinlich war es ein Gemisch aus Abenteuerlust, Wißbegier und Mitleid, das ihn auf sie hatte anbeißen lassen, doch von dem Mitleid war an jenem Nachmittag nicht mehr viel zu spüren. Sie lachten viel.
Später erfüllte es Ben vor allem mit Hochachtung, wenn er daran dachte, wie tapfer Gundula ihr hartes Los ertrug. Die verkrüppelten Beine verdankte sie der Kinderlähmung. Er besuchte sie in den folgenden Monaten noch mehrmals. Mit Ende 30 war sie rund 10 Jahre älter als Ben. Beim Auftritt der Band, der im Jugendkulturhaus Komm stattfand, hatte er bereits gemerkt, Gundula war in der Spontiszene bekannt wie ein bunter Hund. Sie war auch stets bunt gekleidet, so halb hippi-, halb zigeunerhaft. Sie arbeitete in einer linken Druckerei am Composer – einer elektronischen Setzmaschine, die dem Siegeszug des Computers und des Digitaldrucks vorausging. Auf das Drehen von Joints verstand sich Gundula ebenfalls. Ihre Beziehung versandete, als sie nach rund einem halbem Jahr mit einem neuem und dazu gut betuchtem Liebhaber nach Auroville in Südindien ging. Möge sie es dort besser getroffen haben als Ben, der sich nach erneutem Seufzen die Tastatur wieder vor die Nase zieht.
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