Donnerstag, 20. September 2018
Lösegeld für eine Pizza
ziegen, 22:23h
Geschrieben um 2010
Lonkenberg verkniff die Augen, las die 7-Zeilen-Meldung auf der Titelseite des Lokalblatts mit rasch zunehmender Spannung und ließ seine flache Hand darauf fallen. »Na endlich!« murmelte er.
Wie sich versteht, war die Meldung, der Wahlkampfbus des joggenden Außenministers von der ÖPD berühre auch das Städtchen Truhn, mit einem genauso großen Porträt-foto des hamsterbackigen Stauffen garniert – und auf diesem war Lonkenbergs Hand gelandet.
Ob Lonkenberg sein ehemaliges Idol aus den antiautori-tären Zeiten auch in natura ohrfeigen würde, mußte sich zeigen. Eigentlich hielt er nichts von der weltweit beliebten Taktik, der Zweck heilige die Mittel. Gewalt hatte noch nie zur Abschaffung von Gewalt geführt. Der Zweck würde in diesem Fall sein, Stauffen zu einigen Erklärungen darüber zu bewegen, warum er vom drahtigem Steinewerfer im Häuserkampf zu einem Hängebackenschwein mutiert sei und wie lange er noch auf seinem imperialistischem Ministerposten zu thronen gedenke. Dagegen interessierte Lonkenberg das Lösegeld wenig. Er nahm es als unver-zichtbaren Köder in Kauf, denn für die Moral hätten Beules Kumpanen noch nicht einmal den kleinen Finger gerührt.
Lonkenberg schlürfte einen Schluck Kaffee und begann um seinen Küchentisch zu wandern, um die jetzt erforder-lichen Schritte zu überdenken. Zunächst benötigte er natürlich den genauen Verlauf der vorgesehenen Joggingstrecke. Das konnte kein Problem sein, da die Schwester der Geliebten Lonkenbergs auf dem Ordnungsamt beschäftigt war. Zu ihr würde er zuerst gehen. Erst nach dieser Auskunft hatte es Sinn zu erwägen, wo und wie Stauffen mit Hilfe von Beule aus dem Verkehr zu ziehen sei. Die Zahl von Stauffens Leibwächtern war vergleichsweise unerheblich, pflegte er doch bei seinen Wahlkampfläufen stets in einem Troß von Parteianhän-gern aus den betreffenden Ortsgruppen zu joggen. Es würde einer List bedürfen. Nach dem Gang zum Rathaus empfahl sich ein Abstecher zum Felsenkeller. Es galt zu überprüfen, ob noch alles in Ordnung war. Außerdem hatte er Stauffens Verlies notdürftig zu möbilieren und mit Vorräten zu versehen. Um zu verhindern, von dem notorischem Schürzenjäger erkannt zu werden, reichte sicherlich die schwarze Kapuze aus, die Lonkenberg einmal für den Fundus einer Kurzfilmproduktion besorgt hatte. Das Akustische war auch kein Problem. Stauffen hatte ihn, den drei Jahre jüngeren Schülerrebellen aus Homberg an der Efze, damals bestenfalls flüchtig wahrgenommen. Lonkenbergs Stimme hatte er auf keinen Fall im Ohr. Die aber würde Lonkenbergs Hauptwaffe darstellen. Lonkenbergs ätzendes Verhör würde dem verfetteten Genossen eine Abmagerungskur verschaffen, durch die sich das Joggen hinfort erübrigen würde.
Lonkenberg hatte sich bei seinen Tischumrundungen einen Pfirsich aus der Schale gegriffen ohne dazu zu kommen, auch hineinzubeißen. Jetzt merkte er, daß ihm Pfirsichsaft auf die sockenlosen Füße tropfte, weil er die Frucht mit Stauffens Charakterstärke verwechselt und in der Faust entsprechend zusammengedrückt hatte. Er ließ den Matsch in die Küchenspüle fallen, säuberte sich und zog Socken und Schuhe an. Im Felsenkeller war es nämlich verdammt kühl.
&
Der Felsenkeller hatte einem ganzem Viertel am Fuße des Schloßbergs den Namen gegeben. Im engeren Sinne bezog sich der Name auf einen ehemals beliebten Biergarten, der wie ein Schlauch zwischen den Altstadthäuschen klemmte. Der Schlauch war von einem an den Hang gebauten stattlichen Fachwerkgebäude gekrönt, das seit langem verfiel. Es war dereinst das Schank- und Braugebäude gewesen, hatten die BetreiberInnen doch eigenhändig gebraut. Ihr Bier wurde weithin gerühmt. Es lagerte in besagtem Felsenkeller, über dem das Gebäude errichtet worden war. Nach dem Krieg, als unter »sozialistischem« Ruder zentral in Gotha gebraut wurde, kam das Schankgeschäft am Felsenkeller zum Erliegen. Offiziell gehörte das Grundstück nach wie vor der Gothaer Brauerei (die sich inzwischen der Oettinger-Konzern einverleibt hatte), aber sie kümmerte sich nicht mehr darum. Verkäuf-lich war es kaum, weil vom Berg her zu viel Feuchtigkeit in das alte Schank- und Braugebäude gedrungen war. Und der Felsenkeller selber war als Lagerort zu klein und zu abgelegen. Eben dies hatte Lonkenberg schon vor rund drei Jahren als Vorteil begriffen.
Er nahm den Schotterweg, der oberhalb des Felsenkellers unmittelbar am letzten Geschoß des verrammelten Wirtshauses vorbei führte. Bergan lag der Schloßwald. Hier vertrat sich Lonkenberg öfter die Beine, sodaß kein Anwohner Argwohn schöpfen konnte. Auf den Weg gingen die steilen Treppen und die Hintertore der Berggärten. Die AnwohnerInnen fuhren gelegentlich mit ihren Autos und Anhängern vor, um Brennholz oder Dünger abzuladen oder Reisig fort zu schaffen. Somit wäre es auch nicht verdächtig, wenn Beule mit dem frisiertem Auto einträfe und im toten Winkel des Wirtshausoberstocks für 30 Sekunden anhielte, um Stauffen seiner neuen Villa zuzuführen. Von unten ging das selbstverständlich nicht. Zum einen war das Tor des Biergartens verschlossen, zum anderen hätten sie in der beidseitig bebauten Felsen-kellergasse sofort Gaffer gehabt. Vom Schotterweg her war das Schankgebäude nicht betretbar gewesen. Da es die ganze Breite des Brauereigrundstücks einnahm, stellte es eine günstige Sperre dar. Den Einstieg durch eins der verrammelten Fenster hatte sich Lonkenberg verschafft, als er noch Filmemacher gewesen und immer auf reizvolle Drehorte erpicht war. Zum Glück hatten sich seine filmischen Pläne hinsichtlich des Felsenkellers zerschla-gen. Dann hatten die Kürzorgien der Fernsehredaktionen eingesetzt. Inzwischen hatte ihm das sozialreformerische Wirken jenes Kabinetts, in dem Stauffen Vizekanzler war, Hartz IV beschert. Jetzt war die Stunde von Lonkenbergs nichtfilmischen Plänen gekommen.
Er hatte den Einstieg natürlich getarnt. Er sah sich um, entfernte vier gezielt gesetzte Schrauben, schwang sich ins Gebäude, setzte die Fensterverschalung wieder ein und stieg so lautlos wie möglich nach unten. Damals hatte er mit Frohlocken festgestellt, der Felsenkeller ließ sich nicht nur vom Biergarten, sondern auch vom Haus her betreten. Im Gegensatz zur Außentür war die Innentür nicht verschlossen gewesen. Er tauchte in den nahezu finsteren und feuchtkalten Keller. Mit einem schwarzem Tuch, das er neben etwas Werkzeug aus seiner Jacke zog, verhängte er ein kleines Fenster aus Glasbausteinen, das neben der Außentür lag. Anschließend holte er seine Stablampe aus ihrem Versteck, tauschte den Akku aus und sah sich im Keller um. Der wirkte wie immer. Das ehemals weiß gekalkte Tonnengewölbe war durch mehrere verrostete Stahlpfeiler abgestützt. Einige verstaubte Fässer, Bier-kastenstapel und Paletten störten nicht. Seine Notdurft konnte Stauffen unter Aufsicht im Schankgebäude verrichten. Beim Drücken konnte er tüchtig auf seinen Knebel beißen. Wasserspülung mußte er entbehren. Das Schankgebäude würde auch zwei Stühle und den Verhörtisch liefern können. Zum Schlafen würde er Stauffen seine Isomatte und sogar seinen wertvollen Armeeschlafsack leihen; beides konnte der füllige Lebe-mann auf zwei Paletten ausbreiten. Im übrigen wäre ein Kanister mit Trinkwasser wichtig. Mehr fiel Lonkenberg im Moment nicht ein.
Nachdem er die Möbel herbeigeschafft hatte, verließ er den etwas unheimlichen Ort auf demselbem Weg, den er gekommen war. Allerdings spähte und horchte er, bevor er ausstieg, durch einen Spalt im Dach, ob die Luft rein sei. Das war der Fall. So ging er zu Beule, der im »Ghetto« wohnte, und eröffnete ihm, in einigen Wochen sei er womöglich reicher als der Hauptaktionär von Multicar, wo Schweißer Beule bald nach der »Wende« gefeuert worden war. Denn davon waren Lonkenberg und Beule, seitdem sie das Felsenkellerding besprochen und mit verschie-denen Kandidaten durchgespielt hatten, gleichermaßen felsenfest überzeugt: für ihren Star Stauffen würde die ÖPD wohl oder übel zahlen.
&
Beule, fast 50, hatte die klassische Rausschmeißerfigur: Wampe, Orang-Utan-Arme, Glatze – aber ein schütteres, rotes Kinnbärtchen wie Ho-Chi-Minh. Ein Arzt, der ihn gegen Vogelgrippe hätte impfen wollen, hätte vor lauter Tätowierungen keine Einstichstelle mehr gefunden. Aber wahrscheinlich hätte ihn Beule schon vorher in den Schwitzkasten genommen, um die Bestechungsgelder der Pharmamafia aus Onkel Doktor zu pressen. Lonkenberg hatte Beule vor Jahren auf Anhieb völlig richtig eingeschätzt, hatte er doch in Beules Schweinsäuglein nicht eine Spur Falschheit entdeckt. Er war die Gutmütigkeit und die Treue in Person. Seinem fast 14jährigem asthmatischem und humpelndem Köter, eine wuchtige, dunkelbraun gefleckte Teigrolle, würde er das Gnadenbrot auch nach weiteren 14 Jahren noch auf dem Hocker neben der Couch servieren. In Menschenjahre umgerechnet, war Beules Köter schon fast 90. Die Couch war sein Körbchen. Dort röchelte und furzte er, daß jeder Besuch bei Beule eine wahre Wonne war. Da Beule im sechsten Stock seines Plattenbaus wohnte, hatte man sich allerdings schon hinreichend akklimatisiert, denn das ganze Treppenhaus war auch nicht ohne. Das soll nicht gegen die BewohnerInnen des »Ghettos« gehen, die wie Lonkenberg und nach seinem Rausschmiß auch Beule in der Regel auf Hartz IV gesetzt waren. Pferchte man Stauffen in seinem blauem Nadelstreifenanzug oder selbst seine Gegenspielerin Sahra Wagenknecht, die Prinzessin aus dem Osten, bei Aldi-Kost in Betonschachteln ein, stänke es in diesen auch.
Als Schweißer war Beule das Opfer jener Privatisierungen und Rationalisierungen geworden, die im Osten die berüchtigten »blühenden Landschaften« einziehen ließen – auf den großformatigen Farbfernsehschirmen, die es nun gab. Inzwischen stellte Multicar in Zusammenarbeit mit der bekannten westdeutschen Rüstungsschmiede Krauss-Maffai Wegmann auch den »Mungo« für die Friedens-arbeit der Bundeswehr in Afghanistan oder Somalia her. Zu Vorwende-Zeiten hatte das die Fabrik nicht nötig gehabt: mangels Kriegführung des Unrechtsstaates DDR. Beules Gutmütigkeit hatte da ihre Grenzen, wo jemand so blöd war, den milliardenschweren »Raubzug Ost« des westdeutschen Kapitals mit Lügen und Verleumdungen zu rechtfertigen, die er just den erwähnten Bildschirmen entnommen hatte. Lonkenberg hatte es einmal in einer Kneipe persönlich miterlebt. Der betreffende Schnösel von der örtlichen SPD war mit einer geschwollenen Wange abgezogen, die er so schnell nicht mehr vor irgendeine Kamera hielt. Er zeigte sie wohlweislich auch keinem Polizei- oder Justizbeamten, war doch Beule als Vorsitzender des Vorderlader-Schützenvereins für mindestens 300 Truhner Wählerstimmen gut.
Da Beule trotz fehlender Kriegsschauplätze als junger Bursche bei der NVA gewesen war, konnte er natürlich schießen. Wie er ausgerechnet auf die vorsintflutlichen Vorderlader kam, würde hier zu weit führen. Es war halt sein Hobby. Wurde es ernst – und daran, daß es so weit war, zweifelte er nach Lonkenbergs heutigem Besuch nicht mehr – konnte er aus einem sicheren Versteck zwei gutgeölte Maschinenpistolen hervorzaubern, die er einmal preisgünstig aus russischen Beständen ergattert hatte. Der Plan für ihren Einsatz war in groben Zügen nach 20 Minuten und etwas Wodka zum Schwarzen Tee geschmiedet. Nach allen Erfahrungen – die ihnen das Fernsehen vermittelt hatte – wurde Stauffens Jogging-Troß lediglich in Stadtgebieten von motorisierten Polizisten begleitet. Stauffens Gesundheit zuliebe führte aber ein Teil der zumeist sechs Kilometer langen Route stets durch Felder, Wiesen oder Wälder. So war es laut Jennifer auch für Truhn geplant. Und auf diesen Abschnitten fuhr dem Troß lediglich ein mit zwei Beamten besetztes Polizeiauto in gehörigem Abstand voran. Zweck der Übung war natürlich, ihn rechtzeitig vor unliebsamen Überraschungen zu bewahren. Eben diese wollten sie den Bullen allerdings bereiten. Es galt nur noch, bei einem Lokaltermin die für den Überfall am besten geeignete Stelle zu bestimmen: sie mußte vor unerwünschten Zuschauern sicher sein.
Am Beginn des Überfalls hatte eine Falle zu stehen. Eine Radfahrerin war gestürzt; ihr Begleiter beugte sich gerade über sie. Die Bullen halten an. Einer von ihnen steigt aus, um nach dem Rechten zu sehen. Jetzt tauchen Beules Mühlhausener Haudegen A und B mit den Maschinen-pistolen auf, um die beiden Bullen kampfunfähig zu machen und in den Kofferraum ihres Wagens zu verfrachten. Dabei werden die Bullen mit Handschellen, Knebeln und Augenbinden versehen wie später auch Stauffen. Bei dieser Aktion können A und B noch vermummt auftreten. Ihre Namen würde selbst Lonkenberg nie erfahren. Das gleiche galt übrigens für den angeblich »todsicheren« Dreh, den sich das Trio schon vor Zeiten für die Übergabe eines Lösegeldes ausgedacht hatte. Je weniger Lonkenberg von dieser schnöden Seite der Mission erfuhr, umso besser. Das Geld interessierte ihn ohnehin erst in zweiter Linie. Er hatte sich lediglich 10 Prozent ausbedungen; den Rest konnten Beule und seine Leute behalten.
Der entscheidende Einfall war Lonkenberg auf dem Anmarschweg zu Beule gekommen. A und B würden unter ihrer Vermummung bereits in sommerlicher Polizeitracht stecken. Die Mützen lieferten die beiden Nasen im Kofferraum. Da A und B nicht aus dieser Gegend stammten, war es völlig unwahrscheinlich, daß ihnen die Kripo durch Zeugenaussagen auf die Spur käme. Standesgemäß uniformiert, würden sie den Polizeiwagen auf der Stelle wenden, zu dem herantrabenden Troß preschen, scharf bremsen und Stauffen zurufen: »Kommen Sie schnell, Herr Minister, die haben da vorn ne Falle aufgestellt, wir bringen Sie lieber in Sicherheit! Die Herren von der Personenbewachung leiten den Troß unterdessen zurück in die Stadt!« Stauffen in den Wagen ziehen, die Leibwächter dagegen von diesem fernhalten, ist eins. Schon braust das Polizeifahrzeug ebenfalls Richtung Stadt. Wie sich versteht, biegt es rechtzeitig ab und läuft eine Garage an, in der umgesattelt werden kann. Von dort aus geht es auf Umwegen zum Felsenkeller. Die beiden Bullen werden unterwegs mit verbundenen Augen und gefesselten Händen ausgesetzt. Den Empfangschef für Stauffen macht selbstverständlich Lonkenberg.
»Kann ich mich darauf verlassen, daß der frisierte Wagen nicht gesucht und erkannt wird?«
Beule rieb sich den linken Unterarm, als wolle er dessen Tätowierung ausradieren, und brummte beleidigt: »Na klaro – der kommt direkt aus der Autolackiererei!«
»Gut«, erwiderte Lonkenberg und hieb seinen Bundes-genossen im Aufstehen auf die mächtige Schulter, »dann schaue ich mir jetzt mal die Strecke an.«
&
Lonkenberg fand die für den Überfall günstigste Stelle ohne große Mühen und fuhr auf seinem Fahrrad voller Genugtuung und Erwartung nach Hause zurück. Er würde sich eine Pizza holen und bei ihrem Verzehr schon einmal die Worte genießen, die er Stauffen im Felsenkeller zu servieren gedachte.
Dummerweise stellte er aber beim Auspacken der Pizza sein Küchenradio an. Eine Moderatorin von Antenne Thüringen teilte mit, wegen der kurzfristigen Verlegung der G-8-Gipfelkonferenz müsse der für Truhn vorgesehene Wahlkampftermin Außenminister Stauffens leider ausfallen.
Daraufhin landete die Pizza mit einem gewaltigem Fluch auf dem Küchenradio.
°
°
Lonkenberg verkniff die Augen, las die 7-Zeilen-Meldung auf der Titelseite des Lokalblatts mit rasch zunehmender Spannung und ließ seine flache Hand darauf fallen. »Na endlich!« murmelte er.
Wie sich versteht, war die Meldung, der Wahlkampfbus des joggenden Außenministers von der ÖPD berühre auch das Städtchen Truhn, mit einem genauso großen Porträt-foto des hamsterbackigen Stauffen garniert – und auf diesem war Lonkenbergs Hand gelandet.
Ob Lonkenberg sein ehemaliges Idol aus den antiautori-tären Zeiten auch in natura ohrfeigen würde, mußte sich zeigen. Eigentlich hielt er nichts von der weltweit beliebten Taktik, der Zweck heilige die Mittel. Gewalt hatte noch nie zur Abschaffung von Gewalt geführt. Der Zweck würde in diesem Fall sein, Stauffen zu einigen Erklärungen darüber zu bewegen, warum er vom drahtigem Steinewerfer im Häuserkampf zu einem Hängebackenschwein mutiert sei und wie lange er noch auf seinem imperialistischem Ministerposten zu thronen gedenke. Dagegen interessierte Lonkenberg das Lösegeld wenig. Er nahm es als unver-zichtbaren Köder in Kauf, denn für die Moral hätten Beules Kumpanen noch nicht einmal den kleinen Finger gerührt.
Lonkenberg schlürfte einen Schluck Kaffee und begann um seinen Küchentisch zu wandern, um die jetzt erforder-lichen Schritte zu überdenken. Zunächst benötigte er natürlich den genauen Verlauf der vorgesehenen Joggingstrecke. Das konnte kein Problem sein, da die Schwester der Geliebten Lonkenbergs auf dem Ordnungsamt beschäftigt war. Zu ihr würde er zuerst gehen. Erst nach dieser Auskunft hatte es Sinn zu erwägen, wo und wie Stauffen mit Hilfe von Beule aus dem Verkehr zu ziehen sei. Die Zahl von Stauffens Leibwächtern war vergleichsweise unerheblich, pflegte er doch bei seinen Wahlkampfläufen stets in einem Troß von Parteianhän-gern aus den betreffenden Ortsgruppen zu joggen. Es würde einer List bedürfen. Nach dem Gang zum Rathaus empfahl sich ein Abstecher zum Felsenkeller. Es galt zu überprüfen, ob noch alles in Ordnung war. Außerdem hatte er Stauffens Verlies notdürftig zu möbilieren und mit Vorräten zu versehen. Um zu verhindern, von dem notorischem Schürzenjäger erkannt zu werden, reichte sicherlich die schwarze Kapuze aus, die Lonkenberg einmal für den Fundus einer Kurzfilmproduktion besorgt hatte. Das Akustische war auch kein Problem. Stauffen hatte ihn, den drei Jahre jüngeren Schülerrebellen aus Homberg an der Efze, damals bestenfalls flüchtig wahrgenommen. Lonkenbergs Stimme hatte er auf keinen Fall im Ohr. Die aber würde Lonkenbergs Hauptwaffe darstellen. Lonkenbergs ätzendes Verhör würde dem verfetteten Genossen eine Abmagerungskur verschaffen, durch die sich das Joggen hinfort erübrigen würde.
Lonkenberg hatte sich bei seinen Tischumrundungen einen Pfirsich aus der Schale gegriffen ohne dazu zu kommen, auch hineinzubeißen. Jetzt merkte er, daß ihm Pfirsichsaft auf die sockenlosen Füße tropfte, weil er die Frucht mit Stauffens Charakterstärke verwechselt und in der Faust entsprechend zusammengedrückt hatte. Er ließ den Matsch in die Küchenspüle fallen, säuberte sich und zog Socken und Schuhe an. Im Felsenkeller war es nämlich verdammt kühl.
Der Felsenkeller hatte einem ganzem Viertel am Fuße des Schloßbergs den Namen gegeben. Im engeren Sinne bezog sich der Name auf einen ehemals beliebten Biergarten, der wie ein Schlauch zwischen den Altstadthäuschen klemmte. Der Schlauch war von einem an den Hang gebauten stattlichen Fachwerkgebäude gekrönt, das seit langem verfiel. Es war dereinst das Schank- und Braugebäude gewesen, hatten die BetreiberInnen doch eigenhändig gebraut. Ihr Bier wurde weithin gerühmt. Es lagerte in besagtem Felsenkeller, über dem das Gebäude errichtet worden war. Nach dem Krieg, als unter »sozialistischem« Ruder zentral in Gotha gebraut wurde, kam das Schankgeschäft am Felsenkeller zum Erliegen. Offiziell gehörte das Grundstück nach wie vor der Gothaer Brauerei (die sich inzwischen der Oettinger-Konzern einverleibt hatte), aber sie kümmerte sich nicht mehr darum. Verkäuf-lich war es kaum, weil vom Berg her zu viel Feuchtigkeit in das alte Schank- und Braugebäude gedrungen war. Und der Felsenkeller selber war als Lagerort zu klein und zu abgelegen. Eben dies hatte Lonkenberg schon vor rund drei Jahren als Vorteil begriffen.
Er nahm den Schotterweg, der oberhalb des Felsenkellers unmittelbar am letzten Geschoß des verrammelten Wirtshauses vorbei führte. Bergan lag der Schloßwald. Hier vertrat sich Lonkenberg öfter die Beine, sodaß kein Anwohner Argwohn schöpfen konnte. Auf den Weg gingen die steilen Treppen und die Hintertore der Berggärten. Die AnwohnerInnen fuhren gelegentlich mit ihren Autos und Anhängern vor, um Brennholz oder Dünger abzuladen oder Reisig fort zu schaffen. Somit wäre es auch nicht verdächtig, wenn Beule mit dem frisiertem Auto einträfe und im toten Winkel des Wirtshausoberstocks für 30 Sekunden anhielte, um Stauffen seiner neuen Villa zuzuführen. Von unten ging das selbstverständlich nicht. Zum einen war das Tor des Biergartens verschlossen, zum anderen hätten sie in der beidseitig bebauten Felsen-kellergasse sofort Gaffer gehabt. Vom Schotterweg her war das Schankgebäude nicht betretbar gewesen. Da es die ganze Breite des Brauereigrundstücks einnahm, stellte es eine günstige Sperre dar. Den Einstieg durch eins der verrammelten Fenster hatte sich Lonkenberg verschafft, als er noch Filmemacher gewesen und immer auf reizvolle Drehorte erpicht war. Zum Glück hatten sich seine filmischen Pläne hinsichtlich des Felsenkellers zerschla-gen. Dann hatten die Kürzorgien der Fernsehredaktionen eingesetzt. Inzwischen hatte ihm das sozialreformerische Wirken jenes Kabinetts, in dem Stauffen Vizekanzler war, Hartz IV beschert. Jetzt war die Stunde von Lonkenbergs nichtfilmischen Plänen gekommen.
Er hatte den Einstieg natürlich getarnt. Er sah sich um, entfernte vier gezielt gesetzte Schrauben, schwang sich ins Gebäude, setzte die Fensterverschalung wieder ein und stieg so lautlos wie möglich nach unten. Damals hatte er mit Frohlocken festgestellt, der Felsenkeller ließ sich nicht nur vom Biergarten, sondern auch vom Haus her betreten. Im Gegensatz zur Außentür war die Innentür nicht verschlossen gewesen. Er tauchte in den nahezu finsteren und feuchtkalten Keller. Mit einem schwarzem Tuch, das er neben etwas Werkzeug aus seiner Jacke zog, verhängte er ein kleines Fenster aus Glasbausteinen, das neben der Außentür lag. Anschließend holte er seine Stablampe aus ihrem Versteck, tauschte den Akku aus und sah sich im Keller um. Der wirkte wie immer. Das ehemals weiß gekalkte Tonnengewölbe war durch mehrere verrostete Stahlpfeiler abgestützt. Einige verstaubte Fässer, Bier-kastenstapel und Paletten störten nicht. Seine Notdurft konnte Stauffen unter Aufsicht im Schankgebäude verrichten. Beim Drücken konnte er tüchtig auf seinen Knebel beißen. Wasserspülung mußte er entbehren. Das Schankgebäude würde auch zwei Stühle und den Verhörtisch liefern können. Zum Schlafen würde er Stauffen seine Isomatte und sogar seinen wertvollen Armeeschlafsack leihen; beides konnte der füllige Lebe-mann auf zwei Paletten ausbreiten. Im übrigen wäre ein Kanister mit Trinkwasser wichtig. Mehr fiel Lonkenberg im Moment nicht ein.
Nachdem er die Möbel herbeigeschafft hatte, verließ er den etwas unheimlichen Ort auf demselbem Weg, den er gekommen war. Allerdings spähte und horchte er, bevor er ausstieg, durch einen Spalt im Dach, ob die Luft rein sei. Das war der Fall. So ging er zu Beule, der im »Ghetto« wohnte, und eröffnete ihm, in einigen Wochen sei er womöglich reicher als der Hauptaktionär von Multicar, wo Schweißer Beule bald nach der »Wende« gefeuert worden war. Denn davon waren Lonkenberg und Beule, seitdem sie das Felsenkellerding besprochen und mit verschie-denen Kandidaten durchgespielt hatten, gleichermaßen felsenfest überzeugt: für ihren Star Stauffen würde die ÖPD wohl oder übel zahlen.
Beule, fast 50, hatte die klassische Rausschmeißerfigur: Wampe, Orang-Utan-Arme, Glatze – aber ein schütteres, rotes Kinnbärtchen wie Ho-Chi-Minh. Ein Arzt, der ihn gegen Vogelgrippe hätte impfen wollen, hätte vor lauter Tätowierungen keine Einstichstelle mehr gefunden. Aber wahrscheinlich hätte ihn Beule schon vorher in den Schwitzkasten genommen, um die Bestechungsgelder der Pharmamafia aus Onkel Doktor zu pressen. Lonkenberg hatte Beule vor Jahren auf Anhieb völlig richtig eingeschätzt, hatte er doch in Beules Schweinsäuglein nicht eine Spur Falschheit entdeckt. Er war die Gutmütigkeit und die Treue in Person. Seinem fast 14jährigem asthmatischem und humpelndem Köter, eine wuchtige, dunkelbraun gefleckte Teigrolle, würde er das Gnadenbrot auch nach weiteren 14 Jahren noch auf dem Hocker neben der Couch servieren. In Menschenjahre umgerechnet, war Beules Köter schon fast 90. Die Couch war sein Körbchen. Dort röchelte und furzte er, daß jeder Besuch bei Beule eine wahre Wonne war. Da Beule im sechsten Stock seines Plattenbaus wohnte, hatte man sich allerdings schon hinreichend akklimatisiert, denn das ganze Treppenhaus war auch nicht ohne. Das soll nicht gegen die BewohnerInnen des »Ghettos« gehen, die wie Lonkenberg und nach seinem Rausschmiß auch Beule in der Regel auf Hartz IV gesetzt waren. Pferchte man Stauffen in seinem blauem Nadelstreifenanzug oder selbst seine Gegenspielerin Sahra Wagenknecht, die Prinzessin aus dem Osten, bei Aldi-Kost in Betonschachteln ein, stänke es in diesen auch.
Als Schweißer war Beule das Opfer jener Privatisierungen und Rationalisierungen geworden, die im Osten die berüchtigten »blühenden Landschaften« einziehen ließen – auf den großformatigen Farbfernsehschirmen, die es nun gab. Inzwischen stellte Multicar in Zusammenarbeit mit der bekannten westdeutschen Rüstungsschmiede Krauss-Maffai Wegmann auch den »Mungo« für die Friedens-arbeit der Bundeswehr in Afghanistan oder Somalia her. Zu Vorwende-Zeiten hatte das die Fabrik nicht nötig gehabt: mangels Kriegführung des Unrechtsstaates DDR. Beules Gutmütigkeit hatte da ihre Grenzen, wo jemand so blöd war, den milliardenschweren »Raubzug Ost« des westdeutschen Kapitals mit Lügen und Verleumdungen zu rechtfertigen, die er just den erwähnten Bildschirmen entnommen hatte. Lonkenberg hatte es einmal in einer Kneipe persönlich miterlebt. Der betreffende Schnösel von der örtlichen SPD war mit einer geschwollenen Wange abgezogen, die er so schnell nicht mehr vor irgendeine Kamera hielt. Er zeigte sie wohlweislich auch keinem Polizei- oder Justizbeamten, war doch Beule als Vorsitzender des Vorderlader-Schützenvereins für mindestens 300 Truhner Wählerstimmen gut.
Da Beule trotz fehlender Kriegsschauplätze als junger Bursche bei der NVA gewesen war, konnte er natürlich schießen. Wie er ausgerechnet auf die vorsintflutlichen Vorderlader kam, würde hier zu weit führen. Es war halt sein Hobby. Wurde es ernst – und daran, daß es so weit war, zweifelte er nach Lonkenbergs heutigem Besuch nicht mehr – konnte er aus einem sicheren Versteck zwei gutgeölte Maschinenpistolen hervorzaubern, die er einmal preisgünstig aus russischen Beständen ergattert hatte. Der Plan für ihren Einsatz war in groben Zügen nach 20 Minuten und etwas Wodka zum Schwarzen Tee geschmiedet. Nach allen Erfahrungen – die ihnen das Fernsehen vermittelt hatte – wurde Stauffens Jogging-Troß lediglich in Stadtgebieten von motorisierten Polizisten begleitet. Stauffens Gesundheit zuliebe führte aber ein Teil der zumeist sechs Kilometer langen Route stets durch Felder, Wiesen oder Wälder. So war es laut Jennifer auch für Truhn geplant. Und auf diesen Abschnitten fuhr dem Troß lediglich ein mit zwei Beamten besetztes Polizeiauto in gehörigem Abstand voran. Zweck der Übung war natürlich, ihn rechtzeitig vor unliebsamen Überraschungen zu bewahren. Eben diese wollten sie den Bullen allerdings bereiten. Es galt nur noch, bei einem Lokaltermin die für den Überfall am besten geeignete Stelle zu bestimmen: sie mußte vor unerwünschten Zuschauern sicher sein.
Am Beginn des Überfalls hatte eine Falle zu stehen. Eine Radfahrerin war gestürzt; ihr Begleiter beugte sich gerade über sie. Die Bullen halten an. Einer von ihnen steigt aus, um nach dem Rechten zu sehen. Jetzt tauchen Beules Mühlhausener Haudegen A und B mit den Maschinen-pistolen auf, um die beiden Bullen kampfunfähig zu machen und in den Kofferraum ihres Wagens zu verfrachten. Dabei werden die Bullen mit Handschellen, Knebeln und Augenbinden versehen wie später auch Stauffen. Bei dieser Aktion können A und B noch vermummt auftreten. Ihre Namen würde selbst Lonkenberg nie erfahren. Das gleiche galt übrigens für den angeblich »todsicheren« Dreh, den sich das Trio schon vor Zeiten für die Übergabe eines Lösegeldes ausgedacht hatte. Je weniger Lonkenberg von dieser schnöden Seite der Mission erfuhr, umso besser. Das Geld interessierte ihn ohnehin erst in zweiter Linie. Er hatte sich lediglich 10 Prozent ausbedungen; den Rest konnten Beule und seine Leute behalten.
Der entscheidende Einfall war Lonkenberg auf dem Anmarschweg zu Beule gekommen. A und B würden unter ihrer Vermummung bereits in sommerlicher Polizeitracht stecken. Die Mützen lieferten die beiden Nasen im Kofferraum. Da A und B nicht aus dieser Gegend stammten, war es völlig unwahrscheinlich, daß ihnen die Kripo durch Zeugenaussagen auf die Spur käme. Standesgemäß uniformiert, würden sie den Polizeiwagen auf der Stelle wenden, zu dem herantrabenden Troß preschen, scharf bremsen und Stauffen zurufen: »Kommen Sie schnell, Herr Minister, die haben da vorn ne Falle aufgestellt, wir bringen Sie lieber in Sicherheit! Die Herren von der Personenbewachung leiten den Troß unterdessen zurück in die Stadt!« Stauffen in den Wagen ziehen, die Leibwächter dagegen von diesem fernhalten, ist eins. Schon braust das Polizeifahrzeug ebenfalls Richtung Stadt. Wie sich versteht, biegt es rechtzeitig ab und läuft eine Garage an, in der umgesattelt werden kann. Von dort aus geht es auf Umwegen zum Felsenkeller. Die beiden Bullen werden unterwegs mit verbundenen Augen und gefesselten Händen ausgesetzt. Den Empfangschef für Stauffen macht selbstverständlich Lonkenberg.
»Kann ich mich darauf verlassen, daß der frisierte Wagen nicht gesucht und erkannt wird?«
Beule rieb sich den linken Unterarm, als wolle er dessen Tätowierung ausradieren, und brummte beleidigt: »Na klaro – der kommt direkt aus der Autolackiererei!«
»Gut«, erwiderte Lonkenberg und hieb seinen Bundes-genossen im Aufstehen auf die mächtige Schulter, »dann schaue ich mir jetzt mal die Strecke an.«
Lonkenberg fand die für den Überfall günstigste Stelle ohne große Mühen und fuhr auf seinem Fahrrad voller Genugtuung und Erwartung nach Hause zurück. Er würde sich eine Pizza holen und bei ihrem Verzehr schon einmal die Worte genießen, die er Stauffen im Felsenkeller zu servieren gedachte.
Dummerweise stellte er aber beim Auspacken der Pizza sein Küchenradio an. Eine Moderatorin von Antenne Thüringen teilte mit, wegen der kurzfristigen Verlegung der G-8-Gipfelkonferenz müsse der für Truhn vorgesehene Wahlkampftermin Außenminister Stauffens leider ausfallen.
Daraufhin landete die Pizza mit einem gewaltigem Fluch auf dem Küchenradio.
°
°