Mittwoch, 8. Juni 2016
Zwergrepubliken
Geschrieben 2014


In meinem jüngsten Buchmanuskript über Mordopfer mußte ich unter vielen anderen, die ihr Leben bewußt aufs Spiel setzten, den bulgarischen Lehrer und Partisan Nikola Karew aussparen. Obwohl er bereits mit 25 Jahren Präsi-dent der Republik Kruševo geworden war, ist im Internet, zumindest für Nicht-Balkanesen, kaum etwas über ihn zu erfahren. Ein Foto zeigt das Profil eines bärtigen Adlers, um das ihn sogar Lenin oder Trotzki beneidet hätte. Allerdings bestand Karews Republik nur für 10 Tage. Sie wurde am 2. August 1903 errichtet, nachdem 750 Kämp-ferInnen im Rahmen des damaligen anti-osmanischen Aufstandes Kruševo, eine Kleinstadt im Südosten Mazedoniens, „befreit“ hatten. Am 13. August kehrten die Truppen des Sultans zurück, um der Posse ein Ende zu bereiten – vermutlich ein blutiges.

Als Kader der bulgarischen Sozialdemokratie hatte Karew ein sozialistisches und internationalistisches Programm verfochten, das sich dann auch im Manifest von Kruševo niederschlug. Im Rat der Republik saßen je 20 Vertreter-Innen der Bulgaren, Griechen und Rumänen. Wie sich versteht, hatte die Republik sofort gewichtige Ämter vergeben – Hristo Kjurchiev etwa wurde für die 10 Tage Außenminister. Präsident Karew konnte nach der Zertrümmerung der Republik Richtung Bulgarien entkommen. Wieder Partisanenführer, wurde er zwei Jahre darauf, inzwischen 27, unweit der mazedonischen Kleinstadt Rajčani im Gefecht von einer osmanischen Kugel tödlich getroffen. Zur Strafe für die Kurzlebigkeit der von ihm geführten Republik setzte man ihm in Kočani ein weißes, klotziges Denkmal, das wahrscheinlich schon zahlreiche Angriffe von sowjetischen Panzern überlebt hat.

Gewiß wimmelt die Weltgeschichte von mehr oder weniger kurzlebigen Republiken oder Kommunen, sodaß sich Mazedonien nicht zu schämen braucht. Während die in Süddeutschland gelegene Badische Republik 1848 unge-fähr sechs Wochen durchhielt, kam die Pariser Kommune von 1871 auf immerhin neun Wochen. Die Ungarische Räterepublik von 1919 bestand sogar vier Monate. Die verwandte Münchener Räterepublik brachte es dagegen, im selben Jahr, lediglich auf vier Wochen. Was Kruševo betrifft, wurde es im Herbst 1944 von der pimontischen Kleinstadt Alba (Norditalien) überflügelt, die für 23 Tage eine Republik sah. Dann kehrten die von den Deutschen unterstützten „Schwarzhemden“ Mussolinis wieder. Diese Posse wird kongenial von einem der damals beteiligten Partisanen, Beppe Finoglio, in seiner Erzählung Die dreiundzwanzig Tage von Alba geschildert. Einmarsch der Partisanen der Langhe: „Da hängte sich jemand ans Seil der Großen Glocke der Kathedrale, andere an die Seile der Glocken der anderen acht Kirchen von Alba, und es war, als würden Bronzesplitter über die Stadt herabregnen. Die Leute, unbeweglich oder im Gehen, zogen den Kopf zwischen die Schultern und wirkten wie Betrunkene oder wie jemand, der Angst hat, gekitzelt zu werden.“ Der italienische Schriftsteller wurde trotz Demobilisierung nicht viel älter als Karew; er starb 1963 mit 40 an Lungenkrebs.

Meinen eigenen Republiken Konräteslust und Panglos (Band 17) wäre womöglich mehr Langlebigkeit beschieden, falls sie jemand zur Kenntnis nähme. Konräteslust liegt in Thüringen, Panglos im Mittelmeer. Damit bietet es sich an, ersatzweise Robert Merles 1962 veröffentlichten Roman Die Insel zu loben, der schätzungsweise schon von mindestens einer Million Menschen gelesen worden ist. Ich beziehe mich auf die Ostberliner Übersetzung Eduard Zaks aus dem Aufbau-Verlag, 4. Auflage 1970. Der linksorientierte französische Romancier Merle konnte den Erfolg seiner vielen Werke ziemlich ausgiebig genießen, starb er doch erst 2004 mit 95 Jahren. Mit seiner fesselnden, anschaulichen, trotz allem Detailreichtum nie ausufernden Darstellung des Klassenkampfes unter den rund zwei Dutzend Besiedlern der Insel knüpfte er an die berühmte Meuterei auf der Bounty von 1789 an. Eine Restbesatzung des britischen Seglers läßt sich im Verein mit Eingeborenen aus Tahiti auf der kleinen, damals kaum bekannten Südseeinsel Pitcairn nieder. Zwar erfindet Merle die kommenden Auseinandersetzungen auf der Insel, von denen wenig überliefert ist, doch im Grundsatz hält er sich an die historischen Vorgaben. Das bedeutet freilich auch, daß er, was die beteiligten britischen Seeleute angeht, an betrübliche Charaktere gebunden ist, mit denen sich kein vernünftiger Anarchist auch nur im Traum am Aufbau einer freien Zwergrepublik versuchen würde. Sie taugten allenfalls für Piratenschiffe.

Andererseits kann man vor Merle schon deshalb nur den Hut ziehen, weil er sich selbst in diese betrüblichen, ihm doch eher fremden Charaktere hervorragend einzufühlen versteht. Sowohl seine Wracks des Empires wie seine lebenslustigen PolynesierInnen aus Tahiti treten nie als Schablonen auf – man ist verführt zu glauben, Merle hätte etliche Monate unter ihnen gelebt. Selbst der hagere und verschlagene Schiffszimmermann MacLeod, der sich den Kapitänsthron anmaßt und eine „Parlamentsmehrheit“ aus Arschkriechern zusammenzimmert, hat seine Zweifel, Widersprüche und Eigenheiten. Dem Krieg mit den Polynesiern, die er nach bester rassistischer Manier zu übervorteilen und auf Knechtschaftsrang zu stutzen sucht, ist er freilich nicht gewachsen. Erst die Schwarzen töten MacLeod, während „Adamo“ Purcell seinem Kollegen Baker noch in den Arm gefallen war, als dieser den tyrannischen Zimmermann in den Sarg schicken wollte. Der eher schmächtige, dünnhäutige und lesefreudige Schiffsoffizier Adam Purcell, sozusagen erster Held des Romans, vertritt lange Zeit hartnäckig die pazifistische Linie im Klassenkampf. Im großartigen Finale des Romans, das Purcell gemeinsam mit seinem heftigsten polynesischen Widersacher bei der „Probefahrt“ in einem einmastigen Kutter gegen die durch Sturm und Gewitter entfesselte See ankämpfen sieht, gesteht er Tetahiti ein, sein christlich-pazifistisches Konzept der unbedingten Nächstenliebe und unverzichtbaren Schonung eines jeden Menschenlebens sei ein verlustreicher Irrtum gewesen. Kein Dreivierteljahr, und die Inselbesatzung war aufgrund der üblichen, von „Meinungsverschiedenheiten“, Vorur-teilen und Abneigungen befeuerten Kämpfe von 27 auf 14 Menschen geschrumpft! Wahrscheinlich hätte das durch einen rechtzeitigen, tödlichen Sturz MacLeods vermieden werden können. Wobei es in der Tat nur um Wahrschein-lichkeitsrechnungen geht, weil zuviele unwägbare Faktoren im Spiel sind, selbst auf einer solchen winzigen Insel von bestenfalls drei mal zwei Kilometern. Ein Tyrannenmord kann auch einen Dammbruch bedeuten, das ist bekannt. Ansonsten möchte ich nicht mehr näher auf die viel-diskutierte „Gewaltfrage“ eingehen, denn das habe ich bereits früher getan, siehe bei Bedarf Register.

Die pitcairnische Kriegsbilanz mit einem Verlust von rund 50 Prozent der Gesamtbevölkerung in acht Monaten wirkt auf den ersten Blick krass, doch nach meiner jahrelangen Beschäftigung mit der Weltgeschichte dürfte sie ziemlich getreulich die „globale“ Kriegsbilanz widerspiegeln. Es ist erschreckend zu sehen, daß die Weltgeschichte durch-gehend von Mord und Totschlag lebt, aber das scheint nur wenige DünnhäuterInnen wie Purcell zu erschrecken. In pazifistischer Hinsicht hat es auch bis zur Stunde nicht den geringsten Fortschritt gegeben, nur in waffentechnischer. Wie Joachim Guilliard in Ossietzky Nr. 8/2014 bemerkt, haben der Krieg in Afghanistan und der Irak-Krieg (von 2003) bislang für mindestens 100.000 beziehungsweise eine Million Tote gesorgt, und beide „Kriegsherdchen“ glühen bekanntlich munter weiter. Das sind im Grunde ungeheuerliche Zahlen. Es bleiben freilich Zahlen. Faktisch pflegen sich die Toten ja günstigerweise nie zu unübersehbaren Bergen zu häufen; sie finden sich viel-mehr angenehm über Jahre, Regionen und Nachrichten-sendungen hinweg gestreckt. So lassen sie sich ertragen.
°
°