Mittwoch, 8. Juni 2016
Schloß Escheberg
Geschrieben 2014


Zu den betörendsten Flecken Europas gehört die abgeschiedene, von einem Bach durchrieselte umwaldete Senke, in der Schloß und Gut Escheberg liegen. Der Bach mündet in das Flüßchen Warme. Man wird mein Urteil nicht zu ernst nehmen, da das nordhessische, von Kassel bis Liebenau an der Diemel reichende Tal der Warme unlöslich mit meiner Kindheit und von daher auch mit etlichen Texten aus meiner „Feder“ verbunden ist, deren Güte ich möglicherweise überschätze.

Über die Arbeiten eines zeitweiligen Herrn des geprie-senen Anwesens, vor allem Übersetzungen (Calderon, Lope de Vega, Shakespeare), Novellen und Gedichte, kann ich mir kein Urteil erlauben: Ernst Friedrich Georg Otto von der Malsburg mit vollem Namen. Schumann vertonte 1849 eine Romanze vom Gänsebuben, die dieser Ernst von der Malsburg nach einem anonymen spanischen Text übersetzt oder verfaßt hatte, für Chor (op. 145 Nr.5). Nennen wir den Autor im Folgenden kurz wie die Burg, die sich dereinst ein paar Flintenschüsse weiter westlich auf einer Kuppe erhob, von der man bei klarem Wetter noch heute bis zur Diemel blicken kann. Malsburg, geboren 1786, verlor früh seinen Vater, kränkelte oft und verschlang die Bücher der väterlichen Bibliothek. Nach einem Studium der Rechtswissenschaft in Marburg ist er ab 1806 im Kasseler Justizwesen tätig. Daß diesem schon ein Jahr darauf der sogenannte König von Westfalen, ein Bruder Napoleons namens Jérôme, vor die Nase gesetzt wurde, war Malsburg vermutlich eher angenehm. Seine politischen Vorstellungen waren seiner Herkunft zum Trotz republikanisch gefärbt. Prompt schickt ihn Jérôme 1808 als Gesandten des „Königreichs“ nach München, später nach Wien. In all diesen Jahren führt Malsburg innige Briefwechsel – vor allem mit verschiedenen Frauen, was den Wiener Sigmund Freud wahrscheinlich nicht verblüfft hätte, weil Malsburg eine starke „Mutterbindung“ aus seiner Kinderstube mitgebracht haben soll. In den mir zugänglichen Quellen ist freilich nie von Ehen, Verlo-bungen oder auch nur Küssen die Rede.

Nach dem Tod seiner Mutter 1813, der sich zufällig mit der Auflösung des „Königreichs Westfalen“ deckt, kehrt Malsburg nach Escheberg zurück und arbeitet erneut als Jurist, nun wieder für Kurhessen, dabei zuletzt im Rang eines Regierungsrates oder gar Kammerherrn. Er zählt auch zu der 1815 gebildeten vierköpfigen Kommission, die im Dezember des Jahres einen zumindest teilweise demokratisch geprägten Verfassungsentwurf für das Fürstentum vorlegt. Daneben ist er in dieser Zeit, nur von verschiedenen diplomatischen Missionen unterbrochen, in eine auf Kassel und Escheberg konzentrierte rege biedermeierliche Zirkelarbeit eingespannt, an der fast alles beteiligt ist, was in der romantischen Kulturszene Rang und Namen hat, darunter der Maler Moritz von Schwind, der Geiger und Komponist Louis Spohr und die Brüder Grimm. Sein eigener, jüngerer Bruder Karl-Otto unter-stützt ihn dabei und führt das damit verbundene Förderungswerk fort. So beherbergte und verköstigte das Schloß in jenen freundseligen Jahren ständig Urlaubs- oder Arbeitsgäste. Emanuel Geibel soll die ersten Verse seines Gedichtes „Der Mai ist gekommen“ just in den Wäldern um Escheberg „empfangen“ haben. Es wurde 1842 in Kassel veröffentlicht.

Das erlebte Ernst nicht mehr mit, erlag er doch bereits knapp 20 Jahre vorher, mit 38 Jahren, einem „Nerven-fieber“, wie es überall wenig aufschlußreich heißt. Joseph Kürschner versichert (1884), es habe sich „plötzlich und unerwartet“ eingestellt. Vielleicht hatte der fiebernde Ernst von der Malsburg am 20. September 1824 insofern Glück, als von einer der mächtigen Eschen oder Blutbuchen im Park her ein Trauerschnäpper, der die Brutzeit verschlafen hatte, seine etwas verquollen klingenden Glöckchen anschlug. Die Bäume gruppieren sich um einen Teich, den ich mir oft als Anblick von der Terrasse eines kollektiv betriebenen Snookersalons gewünscht habe. Es sollte nicht sein. Die Von der Malsburgs, die Schloß, Orangerie und Gutshof nach wie vor privat nutzen, genehmigten oder förderten lieber einen 18-Loch-Golfplatz, der sich seit 1994 vom Park zu den Waldrändern hinaufzieht. Sobald der Mai gekommen ist, schlagen da die Porsche- und Maserati-Fahrer aus.

Bei dieser Gelegenheit ist vielleicht eine Erinnerung an die beliebten romantischen Märchen erlaubt, die sich um das Thema Genie und Geld ranken, um mit dem Titel eines ernüchternden Buches zu sprechen, das Karl Corino 1987 in Nördlingen herausgab. Nach den Märchen ist der romantische „Dichter“ stets ein bedauernswerter Kerl, der seine Höhenflüge ärmlichsten und auch sonst widrigen Bedingungen abzuringen hat. Nach Corino dagegen war er oft schlitzohrig genug, um lediglich den Eindruck von Armut, Bedrängnis und jederzeit drohender Schuldhaft zu wecken, um umso eher auf recht großem Fuße leben zu können, so etwa E. T. A. Hoffmann, Ludwig Tieck, Heinrich Heine. Kammergerichtsrat Hoffmann läßt nur die edelsten Weine durch die nie von Strauchdieben bedrohte Kehle rinnen; das „Pumpgenie“ Tieck hält sich einen Leibdiener und weitere Hausangestellte, die u.a. seine zuletzt 16.000 Bände umfassende Bibliothek abzustauben haben; „Zeitablehnungsgenie“ Heine (so er selber auf Goethe gemünzt) hätte seine berüchtigte Pariser „Matratzengruft“ mühelos lückenlos mit eigenhändig verfaßten Erpresserbriefen, Pensionsbescheinigungen und Aktien tapezieren können. Aber sie alle wurden als arme Schlucker hingestellt. Wie ich andernorts zeige, hatten interessierte Publizisten auch schon den „klassischen“ Mozart in diesen Mitleid erheischenden abgewetzten Romantel eingehüllt.
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