Mittwoch, 8. Juni 2016
Mißmut an der Unstrut
ziegen, 17:02h
Geschrieben 2013
Die Unstrut, bei Naumburg in die Saale mündend, hieß ursprünglich strōdu, dann onestrudis, was ungefähr „Fluß im Sumpfdickicht“ bedeutete. An diesem Flüßchen liegt auch Mühlhausen. Ich durchstreifte Mühlhausen für einen halben Oktobertag in Begleitung einer süddeutschen Freundin, die einmal eine ehemalige Hansestadt kennen lernen wollte, die nicht am Meer, sondern eben an der thüringischen Unstrut liegt. Die Freundin hatte wenig zu meckern, nachdem der Mühlhäuser Bahnhof überwunden war, der keine Augenweide ist. Die Mühlhäuser Altstadt wirkt geschlossen, gleichwohl nicht beengt, auch schlicht, da man sich Aufgedonnertes verkniff. Sie wird von der Unstrut nur gestreift, aber von mehreren Bächen durch-quert, weshalb allein im engeren Stadtgebiet noch um 1800 rund 20 Mühlen betrieben werden konnten. Das ist vorbei. Auch die üppige EinwohnerInnenzahl von 1988 ist Vergangenheit: die Bevölkerung der gesamten Stadt schrumpfte dank des berüchtigten Aufschwungs Ost von 43.000 auf 33.000, also binnen 25 Jahren um rund 25 Prozent. Dafür bekam sie eine Stadtsparkasse. Das robuste, an einen Offroader oder einen Drohnenschutz-bunker erinnernde Eckgebäude rammt sich dem Touristen beim Betreten des ausgesprochen großzügigen und eigentlich hübschen Mühlhäuser Untermarkts als einziger, allerdings grell angestrichener Neubau ins Auge. So kann auch über dieses vielgeschundene Untermarkt-Pflaster der Euro rollen, aus der Tasche des „Mini-Jobbers“ direkt in die Großbank.
Zum Ersatz für die Mühlen wimmelt die Altstadt nach wie vor von Kirchen, eine mächtiger als die andere. Im Prunk-stück, der aus heimischem hellem Travertin (ein poröser Kalkstein) errichteten fünfschiffigen gotischen Marien-kirche, muß jeder Genickstarre bekommen, der den Weg der Pfeiler zu Gott verfolgen möchte. Der Weg zu den Fürsten – und zum Schafott war etwas kürzer. Am Fuße dieser Pfeiler und zum Teil beeindruckend bunt verglasten hohen Fenster wiegelte Pfarrer Thomas Müntzer um 1525 die Mühlhäuser BürgerInnen und Bauern auf. Nach seiner Enthauptung vor den Toren der Stadt hatte es diese ebenfalls zu büßen; man sprach ihr unter anderem den Rang der „freien Reichsstadt“ ab. Heute ist Müntzers letzte Kirche eine Gedenkstätte – es finden in ihr erfreulicher-weise weder Bigottes- noch Biogottesdienste statt. Es wäre auch zu lächerlich, wenn sich in diesen Hallen, die für den Aufmarsch von 2.000 Hellebarden- oder Billardstock-trägerInnen gut wären, sieben oder neun Fromme verlören. Dennoch muß sich der ungläubige, jedoch mit Kunstgeschmack gesegnete Besucher der Gedenkstätte einen Dorn im Auge dieser sonst erholsam schlichten Kirche gefallen lassen: der klotzige Altar, eher ein üppig beschnitzter Unterstand für die Tiere aus dem Stall zu Bethlehem, beißt sich furchtbar mit den farbenprächtigen Chorfenstern, die er bald zur Hälfte verdeckt. Er bringt sie um ihr großartige Wirkung, sollte also zerschrotet und verheizt oder zumindest verlegt werden.
Müntzer war im Jahr seiner Ermordung um 36 gewesen. Seine am Rande des Schlachtfeldes (bei Frankenhausen) von Landsknechten vergewaltigte Ehefrau Ottilie wurde selbstverständlich aus der Stadt verbannt. Vermutlich schlug sie sich gen Osten zu Verwandten durch. Zu jener Zeit war Mühlhausen mit knapp 10.000 Einwohnern, nach Erfurt, die zweitgrößte Stadt Thüringens. In ungefähr 50 Jahren ist sie vermutlich erneut auf diesem Niveau angelangt, dann wird Basis- und Rätedemokratie gemacht. Wir puhlen den Teer aus den Straßenbahnschienen (Umstellung auf Busbetrieb 1969, mitten im angeblichen Sozialismus!) und nehmen auch die Eisenbahnstrecken nach Ebeleben und Treffurt wieder in Betrieb, damit uns die Welt besuchen kann.
Im Brauhaus Zum Löwen am Kornmarkt hat man freilich herausgefunden, wie die Talfahrt in den Anarchismus womöglich noch zu stoppen sei. Man hat die Pißbecken im Männer-WC modernisiert. Die Becken unterhalten den Pissenden jetzt mit einem Film, der auf einem im oberen Rand eingelassenen Monitor abgespielt wird. Der Film zeigt Unterwasseraufnahmen aus den Meeren der Welt. Da weiß man doch wenigstens, worein die Steuer- und Fördergelder fließen.
Was ich auf dem Mühlhäuser Männer-Klo vermißte, war der Verbandskasten für Notfälle, der kleine weiße Hänge-schrank mit dem roten Kreuz darauf. Am 10. Oktober berichtet der britische Guardian über eine jüngste, 68 Seiten starke Studie des Internationalen Roten Kreuzes, wonach Europa aufgrund seiner „Sparpolitik“ finsteren Zeiten entgegengeht. Diese „Sparpolitik“ mästet die wenigen Reichen und drückt den Rest ins Elend. Die Studie brandmarkt voran die erschreckende Zunahme der Massenarbeitslosigkeit, zumal unter Jugendlichen und älteren Menschen. Beträchtliche Teile der Mittelklasse seien bereits in Armut abgesunken. In 22 der untersuchten Staaten habe sich die Anzahl der von Rot-Kreuz-Lebens-mittelhilfe abhängigen Menschen zwischen 2009 und 2012 um 75 Prozent erhöht. „More people are getting poor, the poor are getting poorer.“ Dazu trägt auch der gewaltige, die Arbeitslosenstatistiken verbrämende Anstieg „prekärer“ Erwerbstätigkeit bei, sodaß selbst wohlhabende Staaten wie Luxemburg, Dänemark und Deutschland in den Strudel der Verarmung und damit der Entmutigung und zugleich Radikalisierung der Verarmten gerissen werden. Diese Entwicklung wurde in Deutschland maßgeblich von der „rotgrünen“ Regierung Schröder/Fischer (um 2000) angekurbelt, wie allerdings nicht die Rote-Kreuz-Studie betont.
Von anderer Seite höre ich, in den hochverschuldeten USA stünden die Aussichten nicht besser. Sobald das gigan-tische System staatlicher Alimentierung von vielen Millionen verarmten Bürgern zusammenbräche, wohl schon in Kürze, griffen jede Wette Hunderttausende von diesen Millionen in ihre Waffenschränke und träten um 12 Uhr mittags auf die Straße, die zum Rathaus führt ... Cowgirl Connie >Reeves muß es gottseidank nicht mehr erleben.
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Die Unstrut, bei Naumburg in die Saale mündend, hieß ursprünglich strōdu, dann onestrudis, was ungefähr „Fluß im Sumpfdickicht“ bedeutete. An diesem Flüßchen liegt auch Mühlhausen. Ich durchstreifte Mühlhausen für einen halben Oktobertag in Begleitung einer süddeutschen Freundin, die einmal eine ehemalige Hansestadt kennen lernen wollte, die nicht am Meer, sondern eben an der thüringischen Unstrut liegt. Die Freundin hatte wenig zu meckern, nachdem der Mühlhäuser Bahnhof überwunden war, der keine Augenweide ist. Die Mühlhäuser Altstadt wirkt geschlossen, gleichwohl nicht beengt, auch schlicht, da man sich Aufgedonnertes verkniff. Sie wird von der Unstrut nur gestreift, aber von mehreren Bächen durch-quert, weshalb allein im engeren Stadtgebiet noch um 1800 rund 20 Mühlen betrieben werden konnten. Das ist vorbei. Auch die üppige EinwohnerInnenzahl von 1988 ist Vergangenheit: die Bevölkerung der gesamten Stadt schrumpfte dank des berüchtigten Aufschwungs Ost von 43.000 auf 33.000, also binnen 25 Jahren um rund 25 Prozent. Dafür bekam sie eine Stadtsparkasse. Das robuste, an einen Offroader oder einen Drohnenschutz-bunker erinnernde Eckgebäude rammt sich dem Touristen beim Betreten des ausgesprochen großzügigen und eigentlich hübschen Mühlhäuser Untermarkts als einziger, allerdings grell angestrichener Neubau ins Auge. So kann auch über dieses vielgeschundene Untermarkt-Pflaster der Euro rollen, aus der Tasche des „Mini-Jobbers“ direkt in die Großbank.
Zum Ersatz für die Mühlen wimmelt die Altstadt nach wie vor von Kirchen, eine mächtiger als die andere. Im Prunk-stück, der aus heimischem hellem Travertin (ein poröser Kalkstein) errichteten fünfschiffigen gotischen Marien-kirche, muß jeder Genickstarre bekommen, der den Weg der Pfeiler zu Gott verfolgen möchte. Der Weg zu den Fürsten – und zum Schafott war etwas kürzer. Am Fuße dieser Pfeiler und zum Teil beeindruckend bunt verglasten hohen Fenster wiegelte Pfarrer Thomas Müntzer um 1525 die Mühlhäuser BürgerInnen und Bauern auf. Nach seiner Enthauptung vor den Toren der Stadt hatte es diese ebenfalls zu büßen; man sprach ihr unter anderem den Rang der „freien Reichsstadt“ ab. Heute ist Müntzers letzte Kirche eine Gedenkstätte – es finden in ihr erfreulicher-weise weder Bigottes- noch Biogottesdienste statt. Es wäre auch zu lächerlich, wenn sich in diesen Hallen, die für den Aufmarsch von 2.000 Hellebarden- oder Billardstock-trägerInnen gut wären, sieben oder neun Fromme verlören. Dennoch muß sich der ungläubige, jedoch mit Kunstgeschmack gesegnete Besucher der Gedenkstätte einen Dorn im Auge dieser sonst erholsam schlichten Kirche gefallen lassen: der klotzige Altar, eher ein üppig beschnitzter Unterstand für die Tiere aus dem Stall zu Bethlehem, beißt sich furchtbar mit den farbenprächtigen Chorfenstern, die er bald zur Hälfte verdeckt. Er bringt sie um ihr großartige Wirkung, sollte also zerschrotet und verheizt oder zumindest verlegt werden.
Müntzer war im Jahr seiner Ermordung um 36 gewesen. Seine am Rande des Schlachtfeldes (bei Frankenhausen) von Landsknechten vergewaltigte Ehefrau Ottilie wurde selbstverständlich aus der Stadt verbannt. Vermutlich schlug sie sich gen Osten zu Verwandten durch. Zu jener Zeit war Mühlhausen mit knapp 10.000 Einwohnern, nach Erfurt, die zweitgrößte Stadt Thüringens. In ungefähr 50 Jahren ist sie vermutlich erneut auf diesem Niveau angelangt, dann wird Basis- und Rätedemokratie gemacht. Wir puhlen den Teer aus den Straßenbahnschienen (Umstellung auf Busbetrieb 1969, mitten im angeblichen Sozialismus!) und nehmen auch die Eisenbahnstrecken nach Ebeleben und Treffurt wieder in Betrieb, damit uns die Welt besuchen kann.
Im Brauhaus Zum Löwen am Kornmarkt hat man freilich herausgefunden, wie die Talfahrt in den Anarchismus womöglich noch zu stoppen sei. Man hat die Pißbecken im Männer-WC modernisiert. Die Becken unterhalten den Pissenden jetzt mit einem Film, der auf einem im oberen Rand eingelassenen Monitor abgespielt wird. Der Film zeigt Unterwasseraufnahmen aus den Meeren der Welt. Da weiß man doch wenigstens, worein die Steuer- und Fördergelder fließen.
Was ich auf dem Mühlhäuser Männer-Klo vermißte, war der Verbandskasten für Notfälle, der kleine weiße Hänge-schrank mit dem roten Kreuz darauf. Am 10. Oktober berichtet der britische Guardian über eine jüngste, 68 Seiten starke Studie des Internationalen Roten Kreuzes, wonach Europa aufgrund seiner „Sparpolitik“ finsteren Zeiten entgegengeht. Diese „Sparpolitik“ mästet die wenigen Reichen und drückt den Rest ins Elend. Die Studie brandmarkt voran die erschreckende Zunahme der Massenarbeitslosigkeit, zumal unter Jugendlichen und älteren Menschen. Beträchtliche Teile der Mittelklasse seien bereits in Armut abgesunken. In 22 der untersuchten Staaten habe sich die Anzahl der von Rot-Kreuz-Lebens-mittelhilfe abhängigen Menschen zwischen 2009 und 2012 um 75 Prozent erhöht. „More people are getting poor, the poor are getting poorer.“ Dazu trägt auch der gewaltige, die Arbeitslosenstatistiken verbrämende Anstieg „prekärer“ Erwerbstätigkeit bei, sodaß selbst wohlhabende Staaten wie Luxemburg, Dänemark und Deutschland in den Strudel der Verarmung und damit der Entmutigung und zugleich Radikalisierung der Verarmten gerissen werden. Diese Entwicklung wurde in Deutschland maßgeblich von der „rotgrünen“ Regierung Schröder/Fischer (um 2000) angekurbelt, wie allerdings nicht die Rote-Kreuz-Studie betont.
Von anderer Seite höre ich, in den hochverschuldeten USA stünden die Aussichten nicht besser. Sobald das gigan-tische System staatlicher Alimentierung von vielen Millionen verarmten Bürgern zusammenbräche, wohl schon in Kürze, griffen jede Wette Hunderttausende von diesen Millionen in ihre Waffenschränke und träten um 12 Uhr mittags auf die Straße, die zum Rathaus führt ... Cowgirl Connie >Reeves muß es gottseidank nicht mehr erleben.
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