Mittwoch, 1. Januar 2014
Doktor Shiwago
Geschrieben 2013


Man glaube nicht, als bekennender Anarchist machte ich die großen Kaliber des Literaturkanons grundsätzlich schlecht. 1957 kam Verleger Gottfried Bermann-Fischer zu Ohren, sein italienischer Kollege Feltrinelli habe von Boris Pasternak in Moskau die Rechte an dessen jüngster umfangreicher Prosaarbeit erworben. Nun war der Chef des renommierten Verlages S. Fischer nicht des Russi-schen mächtig, konnte das Manuskript also weder lesen noch prüfen – gleichwohl kaufte er Feltrinelli auf der Stelle die Rechte für eine deutschsprachige Ausgabe des Doktor Shiwago ab. Es war, nach Thomas Manns Buddenbrooks, Bermann-Fischers ertragreichster Fischzug, wie er (1967) in seinen Erinnerungen Bedroht – Bewahrt feststellt. Er kalkulierte die erste Auflage auf 20.000 Exemplare, doch tatsächlich liefen dann im Herbst 1958 die Druckmaschi-nen heiß: er setzte allein bis zur Jahreswende 400.000 Exemplare von dem ungefähr 700 Seiten starken Schinken ab.

„Man mag darüber diskutieren“, räumt der Verleger ein, „ob der Roman ein literarisches Meisterwerk ist oder nicht, wieweit die Konstruktion des Buches den Anforderungen moderner Literatur entspricht – eines bleibt: Millionen von Menschen waren erschüttert. Es hatte sich etwas Wunderbares ereignet. Wie das winzige Radium-Partikel im Laboratorium der Madame Curie im Dunkel leuchtete, so erhellte die Aura dieses Buches das Dunkel, das über dem unbekannten Lande Rußland lag, und trug zu einer menschlichen Annäherung bei, deren politische Auswir-kungen nicht unterschätzt werden sollten.“

Man sieht auf der einen Seite, der gelernte Arzt Bermann-Fischer ist von der befremdlichen Brech- oder Verkompli-zierungssucht „moderner“ Autoren nicht unbeleckt, andererseits gibt er das entscheidende Stichwort, nämlich Aura. Ein Buch muß ein betörendes, uns einhüllendes Klima haben. Die erwähnten Trümmerhaufen haben es selbstverständlich nicht, weil deren SchöpferInnen jede entfaltungswillige Aura, sobald sie aus den Zeilen hervorlugt, sofort mit Machetenhieben zerfetzen. Das entbindet sie günstigerweise von der Notwendigkeit, die Aura auszuspinnen – ein mühsames Geschäft, das auch nicht unbedingt jedem liegt. Vielleicht fehlt manchem noch nicht einmal das literarische Zeug dazu, sondern „nur“ das menschliche. Bermann-Fischer schließt aus seiner Korrespondenz mit Pasternak, der bald darauf, 1960, mit 70 gestorbene Russe müsse eine „kindliche Seele“ gewesen sein. Der Verleger selbst brachte es übrigens auf 98. In Ilja Ehrenburgs Erinnerungen kommt Pasternak nicht ganz so gut weg. Zwar hält Ehrenburg seinen Landsmann und Kollegen für einen großen Poeten, doch ansonsten sei er ein unpolitischer und beschränkter Zeitgenosse gewesen, was sich auch im mangelhaften Durchblick des Doktor Shiwago beweise. Der ich-bezogene Pasternak habe im Grunde nur sich selbst gekannt. Daß scharfe Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis nicht der schlechteste Nährboden für Literatur und Aura-Wachstum sind, hatten Ehrenburg die vielen französischen Schrift-stellerInnen, die er kannte, Louis Guilloux, André Gide, Eugène Dabit beispielsweise, anscheinend nie verraten.

Pasternaks Epos aus den Revolutionswirren um 1917 zeichnet sich von vorne bis hinten durch Anschaulichkeit und Alltagsnähe aus. Der Mediziner Jura Shiwago ist nicht in erster Linie Akademiker und Ästhet, vielmehr kämpft er wie jeder normale Russe mit einem qualmendem Ofen oder taucht umgekehrt seine brennenden geschwollenen Füße in einen Bach, der ihm Linderung bringt. Unnormale Russen gibt es freilich auch; insbesondere schießen sie jäh wie Fliegenpilze in den revolutionären „roten“ Reihen als sogenannte Kommissare auf, die immer wissen, wo es lang geht, weil sie lediglich die eine politische Linie kennen, das Menschheitsheil im Jahrhundertmaßstab. Diesem zuliebe gehen sie bedenkenlos über Leichen. In Strelnikow, wie sich Laras „in den Krieg“ ausgebüxter Gatte Pawel nennt, hat Pasternak freilich auch das Widersprüchliche mancher Kommissars-Typen gezeichnet. Einst ließ Strelnikow von seinem Kommandeurswaggon im Militärzug aus ganze „feindliche“ Dörfer in Schutt und Asche legen; am Ende, nach einem nächtlichen Gespräch mit seinem halben Nebenbuhler und Gegenspieler Shiwago, tritt er aus dem verschneiten heruntergekommenen Gutshaus in Warykino und erschießt sich.

Auch an Shiwago ist allerdings etwas typisch, nämlich insofern, als wieder einmal ein Mann zwischen zwei Frauen steht, Lara und Tonja, zwischen denen er sich nicht wirklich entscheiden kann. Aber all diese Konflikte sind keineswegs mit dem Einfaltspinsel gemalt. In Warykino von den revolutionären Rächern umzingelt, kann Shiwago Lara nur durch die Versicherung zur Flucht mit Koma-rowskis Pferdegespann überreden, er käme mit dem anderen Pferdegespann gleich nach. So rettet er seine Liebste durch einen Vertrauensbruch, hatte er doch niemals vor, sich wie der schmierige Komarowski in die Mongolei zu flüchten. Tonja, offiziell Shiwagos Gattin, wurde inzwischen nach Frankreich verbannt. Shiwago schlägt sich nach Moskau durch, wo er noch für ein paar Jahre ziemlich isoliert als Arzt und Schriftsteller lebt. Dann bricht er tot auf der verschneiten Straße zusammen, Herzanfall.

In der SU erschien das überragende Buch erst 1987, 30 Jahre nach der italienischen Veröffentlichung. Sein von Offiziellen oft gerügter Autor hatte sich nach dem Krieg notgedrungen vor allem als Übersetzer ernährt. Nach dem Nobelpreis (1958), den Pasternak unter Druck gehorsam wieder zurückgab, wurde er gleichwohl aus dem Schrift-stellerverband ausgeschlossen. 1960 erlag er einem Herzinfarkt und noch anderen Krankheiten.

Vielleicht war das entscheidende Pfund, mit dem Paster-nak hatte wuchern können, in der Tat die Herzlichkeit. Man muß ja nicht unbedingt seine christlich-frömmle-rische Neigung teilen, um mit Shiwagos Onkel Wedenjapin (in der Übersetzung Thomas Reschkes von 1991) die Nächstenliebe zu beschwören – „diese höchste Form von Lebensenergie, die das menschliche Herz erfüllt und nach Hingabe und Verschwendung verlangt.“ Strelnikow konnte sich dieses Verlangen nicht gestatten, und Leute wie Ehrenburg besitzen es möglicherweise gar nicht erst. Es fällt nebenbei auf, daß Stalin den verbindungs- und windungsreichen Auslandskorrespondenten Ehrenburg trotz vieler „Verfehlungen“ nie ernsthaft anzutasten wagte. Aber ich will nicht ablenken. Nach der Wiederlektüre des Shiwago beschleicht mich der Verdacht, ich selber könnte gleichfalls an dieser breiten Strelnikow-Ehrenburgschen Blockade des Herzens leiden.

Jedenfalls dürfte das Phänomen zu üppiger oder zu spärlicher Herzenswärme auch für die alte, vielerörterte Klemme Reform oder Revolution? verantwortlich sein. Radikale wie ich verdammen „Sozialklempnerei“, weil sie die Errichtung freiheitlicher und gerechter gesellschaft-licher Verhältnisse garantiert verhindert. Bei jeder Eröffnung einer neuen „Tafel“, an der unsere Hartz-IV-EmpfängerInnen abgespeist werden, reiben sich Arbeits-ministerin Ursula von der Leyen und Finanzminister Schäuble die Hände, weil sie auf diese Weise Millionen „sparen“, die sie umgehend europäischen Agrarkonzernen in den Rachen schmeißen können, als „Subventionen“, wegen der Bedürftigkeit dieser Unternehmen. Ja mehr noch, die jüngeren „rotgrünen“ sogenannten Sozialrefor-men haben nicht nur eine gesellschaftliche Radikalkur verhindert – sie haben den Kapitalismus saniert. Man sehe sich allein die damalige Steuergesetzgebung an. Nach Berechnungen Werner Seppmanns (2013) gingen dadurch, zugunsten des Kapitals und zulasten möglicher Sozial-ausgaben, rund 50 Milliarden Euro Staatseinnahmen verloren. Aber ein herzenswarmer Mensch muß sich solcher Argumentation verschließen. Sie erreicht ihn nicht. Er kann nicht anders, als zu lieben, zu helfen, Not zu lindern, sobald sie sich blicken läßt. Für ihn ist nicht das herrschende System zynisch, vielmehr meine Argumentation.
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