Freitag, 10. August 2012
Favoritensterben Teil 2

16

Meine Wetten darauf, bei dieser raschen Lösung des Falles könne es sich nur um eine ziemlich lächerliche Sommer-lochente handeln, stiegen in dem Maße meines abschüs-sigen Fußweges zur Zuckerdose. Gewiß konnte ich die Angelegenheit nicht wirklich beurteilen, bevor ich nicht die Berichte Antuns, das Geständnis Keschers und diverse Untersuchungsbefunde studiert hatte. Meine Wetten fußten auf halbprofessioneller psychologischer Einschät-zung a) des Charakters von Kescher, b) des Gemütszu-standes meines Kollegen Antun und der Kripo Zamir überhaupt. Sie wollten der „Öffentlichkeit“ mit Macht einen Täter präsentieren. Sie wollten Erfolg. Das galt insbesondere für Antun, der in meinen Augen ein blasser Streber war, der sich in seinem Talent ohnehin unterbe-wertet fühlte und der sich spätestens zu seinem 55. Lebensjahr zum Kriminalrat befördert zu sehen wünschte. Daran, wie er die nächtliche „Vernehmung“ mit Kescher geführt haben mochte, wollte ich gar nicht denken; es lief zu sehr auf die Praktiken hinaus, die ich aus Maigret-Romanen kannte. Das soll nicht heißen, ich argwöhnte, er hätte das Geständnis aus dem übermüdeten und beistandslosen Beschuldigten herausgeprügelt, das nicht. Eher hatte er es aus Kescher gekitzelt. Der Pfandflaschen-angler hatte ja in der Tat nicht mehr alle Tassen im Schrank – oder vielmehr, noch nie gehabt, aber solche Verwirrten müssen deshalb nicht unbedingt weniger eitel als Antun selber sein. Wahrscheinlich fand es Kescher klasse, jäh ein riesiges Interesse auf sich zu ziehen und plötzlich einen prominenten Sportler auf dem Gewissen zu haben, von dem es sogar hieß, er sei sehr gebildet gewesen. Wenn aber nicht, hatte er sich gut und gerne immerhin gesagt: dieser Sommer ist wieder verdammt heiß, die Pfandflaschen rieseln trotzdem immer dünner in die Container, da ergattere ich mir lieber ein schattiges und bequemes Plätzchen im Spliter Kittchen.

Als ich die Zuckerdose kurz vor 10 betrat, waren meine Wetten bei 88:12 gegen Kescher beziehungsweise Antun angelangt. Fritz saß schon auf unseren reservierten Plätzen oder jedenfalls auf einem davon. Auf seiner Linken schlossen sich Marica und noch ein paar LigaspielerInnen von Zeder Zamir an, die nicht in Urlaub weilten. Wir begrüßten uns mit leisen Stimmen. Obwohl die Zuckerdose brechend voll war – nach diesem Mord vielleicht kein Wunder und für Zamirsteigtauf und die Verbandsbosse geradezu eine Offenbarung – herrschte schon beinahe Stille in dem steilen Rund. Ein vergrößertes Porträt von Leukenfels war auf einem jener Sessel aufgestellt, die bei jedem Snookertisch, immer paarweise, die „Spielerbank“ bildeten. Wie sich versteht, waren von den acht Sesseln sieben leer. Leukenfels' Platz war mit Blumen geschmückt. Schlag 10 traten etliche Snookerspieler und alle Schieds-richterInnen des Turniers aus den Kabinengängen. Ich staunte. Offenbar hatten Zamirsteigtauf und die Turnier-leitung alle noch beteiligten und noch nicht abgereisten Profis – unter denen sich ja leider keine Damen befanden – für dieses einfallsreiche kleine Ritual verpflichtet. Auch Robertson, Mark Allen, der dicke Lee, und selbstver-ständlich Kevin Slighton waren dabei. Sie stellten sich in ihrer bekannten, in der Regel schwarzweißen Berufsklei-dung nebeneinander derart zwischen den vier, im Quadrat angeordneten Snookertischen auf, daß sich, durch die Akteure, ein Kreuz ergab. Jeder, die SchiedsrichterInnen eingeschlossen, hielt sein Queue kerzengerade zwischen Schuhspitzen und Kinn. Die Sache wirkte ausgesprochen feierlich.

Kurz nach dieser Aufstellung ergriff ein silberhaariger Herr das Wort am Mikrofon, der vermutlich dem Präsidium des Weltsnookerverbandes angehörte. Erfreulicherweise machte er es kurz. Er sprach in Englisch, wurde aber von einer Kroatin übersetzt. Mit Heinz Leukenfels habe ein vorbildlicher Kamerad und dazu glänzender Snookerspie-ler ein jähes, erschütterndes Ende gefunden. Das Geden-ken an ihn sei jedoch unauslöschbar. Wer diese Ansicht teile, möge es nun für drei Minuten durch Schweigen bekräftigen.

Soweit ich es aus feuchten Augenwinkeln sah, waren Heinz und ich nicht die einzigen, die mit ihren Tränen kämpften. Die Spannung im Raum war sehr hoch, ohne daß sie den peinlichen Zug besessen hätte, den man von Staatsbe-gräbnissen her kennt. Plötzlich fiel mir, trotz meiner Betroffenheit, Mister Brucinelli auf, den ich ja flüchtig kannte. Er saß, wie wir, auf den unteren Vorzugsplätzen, nur weiter links. Er konnte von seinem Platz aus seinem Schützling Slighton recht gut in die Augen sehen – und er hatte es auch, vielleicht nur für den Bruchteil einer Sekunde, getan. Dann schlug der in der Reihe aufgestellte Slighton seine Augen wieder nieder. Das aber hatte auf mich wie ertappt gewirkt, während ich von Brucinellis Augen den Eindruck von Triumph, vielleicht auch Hohn und Verachtung, empfangen hatte. Inzwischen war das Gesicht des Managers schon längst wieder zu dem leisen, arroganten Lächeln zurückgekehrt, das es vermutlich immer zeigte, wahrscheinlich auch im Schlaf. Ich hätte gern noch länger über Brucinelli nachgedacht, der mir in den vergangenen Tagen nahezu entfallen war, doch dann erklärte der Silberhaarige das Gedenken für beendet, worauf sich das in der Manege gebildete Kreuz aus Snookerassen und Schiedsrichtern wieder auflöste. Auch das wurde aufmerksam von im ganzen vier Fernseh-kameras verfolgt. Gleich darauf erklärte ein jüngerer, schwarzhaariger Mann, der wie Ronald Reagan um 30 aussah, dem Publikum, das Viertelfinale der erstmals ausgetragenen Balkan Open Zamir werde in wenigen Minuten beginnen, er stelle zunächst einmal die SchiedsrichterInnen vor ...

Selbstverständlich kannte ich diesen Confroncier bereits. Er war mir im Augenblick derart zuwider, daß mich spontan der Drang überkam, dem Turniergeschehen oder besser gesagt, dem bloßen Zuschauen zu entfliehen, um selbst wieder aktiv zu werden. Ich sagte es Fritz, wobei ich auf den jenseits gelegenen Durchgang zum Haus der Weißen nickte. Ich fügte hinzu, vielleicht sei gerade ein aktives Gedenken an Heinz Leukenfels geeignet, uns die Konzentrationsfähigkeit am Snookertisch wieder zu schenken. Er lächelte etwas spöttisch, wog sein Haupt – und erhob sich auch schon. So gingen wir hinüber.

Es war eine gute Idee gewesen. Wir spielten in unserem nur mäßig besetzten Vereinsheim mit Feuereifer Snooker, und nach anderthalb Stunden lag ich sogar erst mit 2:3 zurück, obwohl mir Fritz lediglich 10 Punkte Vorgabe gewährt hatte. Im sechsten Frame gelang mir ab der vorletzten Roten ein Break bis zu Pink, wodurch ich genau gleich gezogen hatte. Allerdings lag die Pink, im Gegensatz zur Schwarzen, nicht auf ihrem Spot, vielmehr fast an der Bande. Ich schaffte es, meine Aufregung zu bemeistern und sie mit einem Stoß über Bande in eine Mitteltasche zu befördern. Die Schwarze war dann kein Problem mehr, und der blonde Fritz machte Augen, die fast so groß wie die Blaue waren.

Ich rollte mein Queue von der Bande weg und gestattete mir einen Schlag mit der rechten Faust in meine linke gewölbte Hand, auf daß sich meine Anspannung löse. Dabei blickte ich Fritz natürlich selbstgefällig an. Er nickte lächelnd und forderte mich damit zu weiteren Bekun-dungen des Triumphes heraus. Ich verkündete:

„Ich habe einem Erstligisten ein Remis abgezwungen!“

„Ja, ja“, spottete Fritz und holte die Schwarze wieder aus der Ecktasche, „wahrscheinlich hast du auch schon den Tod überwunden, damit du zu Heinz Leukenfels in die Unsterblichkeit eingehen kannst ... Willst du jetzt wirklich kneifen? Schon Schluß machen?“

Ich nickte zur Wanduhr, die kurz nach 12 zeigte. „Ich muß ja ohnehin bald los, wegen Frau Trögner. Laß uns noch einen Pastiz auf Heinz trinken und etwas plaudern, dann verschwinde ich.“

Da Fritz einsichtig war, gaben wir Boris unsere Queues zurück, baten um die beiden Pastiz und setzten uns unweit der Bar an einen kleinen, runden Tisch. Der gesamte Barbereich lag auf einem Podest, also leicht erhöht. Im Saal trainierten nur ein paar Vereinsmitglieder und dazu Ding Junhui, der ja leider spielfrei hatte. Ich nickte in Richtung des chinesischen Champs und sagte:

„Vielleicht sieht ihm Heinz jetzt zu – vielleicht sogar ohne Groll.“

Fritz sah mich zweifelnd an. „Ist das dein Ernst?“

„Ja. Ich bin katholisch erzogen.“

Fritz zeigte mir ein Vögelchen. „Du bist ein Vollidiot. Du bist genau so ein Vollidiot wie Hanibal Lucić, von dem ich dir kürzlich ein paar Verse vorgelesen habe. In einem anderen Sonett verwirft er das Ersehnen des Todes, weil der Tod ja doch nur neues Leid und weitere Tücken für einen bereit halte. Erzähle mir einmal, woher er das weiß! Wart ihr schon einmal tot? Habt ihr mit Jesus telefoniert? Oder mit Heinz Leukenfels, weil der noch frische Ein-drücke vom Leben nach dem Tode liefern kann? Wobei es selbstverständlich wurscht ist, ob ihr meint, da oben in den Wolken gut oder schlecht zu sitzen.“

„Wo liegt der Fehler, deiner Ansicht nach?“

„Darin, sich überhaupt ein Urteil über eine andere Form der Existenz oder Nichtexistenz als unserer eigenen, uns bekannten anzumaßen. Schließlich sind wir in unserer Existenform befangen.“

Er blickte sich suchend um und deutete auf eine Schad-stelle in der Scheuerleiste zwischen den Türen zu den Toiletten. „Angenommen, da guckt eine Maus heraus. Was würdest du von ihr halten, wenn sie sich schief lachte, weil wir hier in diesen schönen Stahlrohrsesseln nicht auf dem Kopf sondern auf dem Arsch sitzen? In ihrem Reich sitzen oder stehen immer alle auf dem Kopf, besonders die Maulwürfe.“

Ich klappte leicht nach vorn, zum Tisch, und hielt mir den Bauch, weil ich zu sehr glucksen mußte. Das Bild gefiel mir.

Fritz grinste und nickte. Nach einer Weile winkte er ab. „Offenbar habe ich ebenfalls so eine katholische Ader. Gestern abend, nachdem ich von der Pizzeria am Waisenhausplatz heimgekehrt war, suchte ich mir in meiner Trauer über Heinz' Unglück eine CD mit Kantaten heraus. Ich entschied mich, von vagen Erinnerungen her, für Leos Janaceks Vaterunser. Es haute mich ziemlich um. Die Kantate ist keine 15 Minuten lang. Er schuf sie um 1900, und zwar für gemischten Chor, Tenor solo, Orgel und Harfe. Dabei wirkt sie eigentlich gar nicht im üblichen Sinne fromm, wenn ich es recht bedenke. Es heißt, er habe sie auf einige Gemälde ländlichen oder bäuerlichen Inhalts eines polnischen Malers geschrieben. Sie scheint in der Tat Heugarben, Schwalben, Bauernhochzeiten – und Bauern-begräbnisse zu atmen. Die Landleute nehmen ihr Geschick demütig hin, wie es eben ist: widersprüchlich; heute niederschmetternd, morgen beflügelnd; rätselhaft ...“

Ich schwieg und nickte. Nach einer Weile sah ich erschrocken zur Uhr. Ich stand auf, klopfte Fritz auf die Schulter, winkte Boris mit dem Zeigefinger zu und verließ den Salon durch den Haupteingang.


17

Iris Trögner sah dem Foto, das sie mir geschickt hatte, einigermaßen ähnlich. Sie steckte in einem kurzen Hosen-kleid von der Farbe ihrer fransigen Haare – Walnußbraun vielleicht, worunter ich ein bleiches Braun verstehe. Ihre Beine wirkten schon kräftiger braun, konnten aber keineswegs unförmig genannt werden.

Ich hatte gestern abend noch im Internet nachgeschaut, wo eigentlich Wuppertal lag, und dabei war ich auch auf Walnußbäume gestoßen. Anscheinend standen sie in Deutschland vor jeder Scheune. Was mich verunsicherte, war der Rucksack, der über Frau Trögners Schultern lugte. Die Schultern waren etwas eckig, so ähnlich wie bei Marica. Ich hätte eher einen piekfeinen Trolley-Koffer mit Rollen und Griff erwartet, wie man es von modernen Geschäftsfrauen gewohnt ist. Nun gut, ich hatte es ja beschworen, das Bäuerliche ...

Ich stand an der einzigen Treppe, die dieser Bahnsteig aufwies. Als mich Trögner erspäht hatte, lächelte sie leicht. Dann gaben wir uns die Hand. Ich nickte dienstbeflissen über ihre Schultern: ob ich ihr den Rucksack abnehmen könnte. Ach woher, er sei nicht schwer. Sie lachte sogar herausfordernd, während sie nicht aufhörte, mich unverhohlen zu mustern. Ich versuchte, es nicht persönlich zu nehmen. Es war ja kein Verbrechen, noch nie einen kroatischen Kriminalbeamten gesehen zu haben.

Nach einigen Worten über die Fahrt und das Wetter schlug ich vor, sie zum Taxenstand zu bringen, weil sie sich vermutlich erst einmal im Hotel erfrischen und ausruhen wollte. Sie erwiderte mit krauser Nase:

„Muß das sein? Das Taxi? Ich bilde mir ein, Heinz hätte erzählt, das Hotel läge mitten in der Altstadt. Vielleicht könnte man laufen? Ich habe ja sowieso die ganze Zeit gesessen.“

„Selbstverständlich!“ beeilte ich mich zu sagen. „Es sind vielleicht 15 Minuten.“

„Aber dann wäre es günstig, Sie könnten mich führen ..! Hätten Sie Zeit?“

Ich nickte. „Das mache ich gerne. Ich habe heute sogar frei – freilich nicht wegen Ihnen, was Sie hoffentlich nicht kränkt. Ich hatte mir von langer Hand für das heutige Viertelfinale des Turniers freigenommen. Inzwischen ist mir das Zuschauen allerdings verleidet worden.“

Ihr etwas frivoles Lächeln war geschwunden. Sie sah mich aus großen, überwiegend grauen Augen an – verwundert, vielleicht sogar erschrocken. Dann schüttelte sie ihren Kopf und sagte leise und bitter:

„Ja, das Turnier ... Ich hätte es um ein Haar vergessen ... Da rede ich von Heinz, als sei er nur mal eben zum Bäcker gegangen ... Schlimm ...“

Sie sah mich hilflos an. „Und er ist wirklich tot? Ein Irrtum ist ausgeschlossen?“

Meine Güte – jetzt lag die Hilflosigkeit auch auf meiner Seite. Ich schien sie zum zweiten Mal auf dem Bahnsteig zu empfangen, nur war sie jetzt eine ganz andere Frau. Schon wurden ihr großen Augen feucht. Sie begann zu schluch-zen. Ein Anfall, ein Rückfall vielleicht! dachte ich. Sie tastete mit ihren Händen nach dem Geländer der Treppe, an der wir nach wie vor standen, und während sie sich festhielt, tropften ihre Tränen auf die polierten Granit-fliesen der Treppenumrandung. Der Bahnsteig hatte sich inzwischen weitgehend geleert. Sie tat mir plötzlich unendlich leid. Aber was konnte ich für sie tun?

Ich faßte sie vorsichtig an den bebenden Schultern, um ihr vielleicht etwas Trost zu geben. Daraufhin ließ sie das Geländer los und schmiegte sich wie ein verängstigtes kleines Mädchen an mich. Ich streichelte ihre mageren Schultern, soweit ihr Rucksack es zuließ. Allmählich beruhigte sie sich.

Es waren vielleicht fünf Minuten vergangen, als sie sich von mir löste, aus ihrem Hosenkleid ein Papiertaschentuch hervorkramte und sich das Gesicht abwischte. Dann sah sie mich mit einem etwas verlegenen Lächeln an und sagte:

„Jetzt müssen wir gehen.“


18

Im Hotel hatte nicht die Chefin, sondern ein junger Mann Dienst. Vielleicht war es ihr Sohn. Er hielt bereits eine Nachricht für Iris Trögner bereit, von Antun. Mein Kollege wollte sie um 16 Uhr abholen, um mit ihr ins Leichen-schauhaus zu fahren. Das war ja leider unumgänglich. Andererseits würde diese Aktion die Gefährtin von Leukenfels gnadenlos davon überzeugen, daß sie ihn verloren hatte. Eine gewisse Neigung zur Schizophrenie meinte ich schon an ihr zu beobachten. Vielleicht war es auch Sprunghaftigkeit, oder Verdrängungskunst. Zum Beispiel hatte sie just an dem Hut- und Mützengeschäft in Vlasics ehemaliger Polsterei inne gehalten, um sich mit den Kopfbedeckungen allerlei Unfug vorzustellen und mir im übrigen von Abschreckungswaffen zu erzählen, die im Deutschen „Vogelscheuchen“ heißen. Ich revanchierte mich lieber nicht mit der Erzählung, auch in dem Haus, vor dem sie gerade stehe, habe es, vor einem Jahr, einen Mord gegeben. Dann brachte ich sie im Steinbock auf ihr Zimmer, weil ich den Weg ja sowieso schon kannte, aber da wurde sie wieder bleich und bleicher und sank auf einen Stuhl und schüttelte ihren Kopf, während ihre großen grauen Augen durch die hübsche Bauernstube irrten. Ich beeilte mich sie allein zu lassen und ging nach unten, um mich schon einmal ins Restaurant des Hotels zu setzen. Wir hatten uns darauf geeinigt, hier gemeinsam zu Mittag zu essen.

Auch das kleine Restaurant war schlicht gehalten. Vor allem fehlte der ganze Blumenkrempel, der mich meistens aufregte. Zudem lief kein Radio. Es gab ein Grüppchen aus Gästen, die Italienisch sprachen, das war ja blumig genug. Ich befreite mich endlich von meiner Jacke und hängte sie über eine Stuhllehne in Fensternähe. Die Stühle waren gepolstert und einfarbig grau bezogen. Ich bestellte ein Glas mit gewöhnlichem Leitungswasser und trank es fast in einem Zug aus. Da die Traubengasse sehr eng war, lagen die Fenstertische im Schatten. Doch die Oberlichter standen auf und mischten das allgemeine Stadtgemurmel in die italienischen Vokabeln. Schräg gegenüber lockte eine kleine Weinhandlung, die Trögner ebenfalls mit Interesse gemustert hatte. Nun sah ich den hübschen, schmiede-eisernen Halter, der über dem Schaufenster aus der Hauswand ragte. An seinem Ende schaukelte eine offenbar bewegliche Weinflasche. Im Augenblick zeigte der Flaschenhals nicht auf mich. Nun wehte zwar in der Gasse bestenfalls ein laues Lüftchen, trotzdem fiel mich die Vorstellung an, eine Videokamera schwenke ihr Objektiv, um es erbarmungslos auf mich zu richten. Und irgendwo blickten der Kriminalkommissar Antun oder der Snookerspieler Leukenfels oder gar Vedrana auf den Bildschirm. Was würden sie da wohl von mir denken?

Iris Trögner kam schon nach wenigen Minuten. Sie wirkte gefaßt. Aber sie hatte sich nicht umgezogen. Sie erklärte auch gleich, sie wolle erst nach dem Essen duschen, für die Fahrt „zu Heinz“. Ich nickte nur. Eine drollige, eine makabere Ausdrucksweise.

Wir aßen etwas Leichtes. Auch Trögner trank vorerst nur Leitungswasser. Wir sprachen über die Stadt, dann über die Kriminalpolizei der Stadt. Sie wollte wissen, wie ich zu meinem Beruf gekommen sei und ob er mich erfülle. „Ja“, versuchte ich mit einem müden Scherz abzuwiegeln, „vor allem mit Ärger.“ Aber sie ließ nicht locker, und so entrang sie mir bald das Geständnis, mit meinem Beruf schon seit längerem nicht mehr sonderlich glücklich zu sein. Das verblüffte sie wenig. Wir bestellten Kaffee.

„Und Sie?“ fragte ich zurück.

Sie war mit ihrem Beruf zufrieden. Sie war freischaffende Grafikerin. Sie hatte das studiert, in Berlin, hatte allerdings erst vor rund 10 Jahren „ihre Marktlücke“ entdeckt, nämlich Weinetiketten.

„Ach“, sagte ich und winkte mit dem Daumen aus dem Fenster.

Sie lachte. „Richtig. Aber Sie dürfen sich das nicht so hausbacken vorstellen, wie es da drüben im Schaufenster liegt. Erfreulicherweise habe ich in Deutschland, Frank-reich, Italien, Spanien und Portugal jeweils Stammkunden, Weingüter also, die auf anspruchsvoll gestaltete Etiketten Wert legen, oft auch durchaus mit Pfiff. Manche Serien von mir werden schon als Cartoons gehandelt. Da diese Wein-güter auch für jeden Weinjahrgang neue, auf den Wein maßgeschneiderte Etiketten haben möchten, kann ich nicht übel von diesen Arbeiten leben.“

„Bis Portugal? Alle Achtung ... Und wie sind Sie zu dieser eher ungewöhnlichen Spezialisierung gekommen?“

„Durch eine Studienfreundin, Ruth van Ginnecken. Ich bin ihr deshalb auch sehr dankbar. Wir sehen uns sogar regelmäßig, obwohl sie in Kassel wohnt. Naja, das sind von Wuppertal 200 Kilometer. Wir kommen beide aus der Meisterklasse von F. W. Bernstein. Ruth ist natürlich viel bekannter als ich.“

Ich nickte. Sämtliche Namen sagten mir wieder gar nichts: Kassel, Ginnecken, Bernstein. „Und wie sind Sie an Heinz Leukenfels geraten, wenn ich fragen darf?“

Sie schien mir die Frage nicht krumm zu nehmen, dachte jedoch eine Weile nach – als ob sie angenehmen Erinne-rungen nachhinge. Schließlich faßte sie nüchtern zusammen:

„In Wuppertal. Snooker war damals schon mein Aus-gleichssport, und eines Tages bekam ich mit, daß die erste Mannschaft des BSV erstaunlichen Zuwachs bekommen hatte – diesen 'alten' Mann, der wie eine Feder um den Tisch segelte, obwohl er ja wahrhaftig kein Strich in der Landschaft war.“

Ich schmunzelte. Eine hübsche Liebeserklärung. Ich wagte es auch, bei dem Thema „Heinz“ zu bleiben. Über die unerfreulichen Umstände seines Todes, soweit sie der Kripo Zamir bekannt waren, hatten wir uns bereits auf dem Herweg unterhalten. Jetzt erzählte ich ihr von Heinz' Spiel gegen Luca Brecel und von jenem Essen zu dritt in der Ruine, wo die Autogrammjägerin aufgetaucht war.

Sie hörte schweigend zu – und dankbar, wenn ich mir nichts einbildete. Die ItalienerInnen waren inzwischen gegangen. Die junge Frau, die uns bedient hatte, wienerte die Theke, wodurch sie hin und wieder ein leises Quietschen verursachte. Schließlich hakte ich nach:

„Aber Sie waren nicht mit Heinz verheiratet?“

Sie nickte. „Richtig. Das wollten wir beide nicht ... Kennen Sie die Malerin Paula Modersohn-Becker? Na, macht nichts. Sie notierte einmal, nach ihren Erfahrungen mache die Ehe nicht glücklicher. Sie nähre die große Illusion, es könne eine 'Schwesterseele' geben, von der man sich ganz verstanden fühle – nur um sie dann umso niederschmet-ternder platzen zu lassen, die Illusion. Allerdings waren ihre Erfahrungen nicht sonderlich lang, denn sie mußte schon mit 31 sterben.“

Sie sah mich prüfend an, aber ich ließ mir nicht anmerken, ob ich Paulas Ansicht teilte oder nicht. Dann wurde ihr Blick spöttisch:

„Trotzdem bin ich Heinz' Erbin, um es gleich zu sagen. Sie sind ja Kriminalbeamter und werden sich vermutlich auch für diese Seite eines Todesfalls interessieren. Ich habe Heinz' Testament vorsichtshalber mitgebracht, falls Sie Beweise brauchen. Im übrigen werde ich mich selbstver-ständlich auch um die Bestattung kümmern. Aber viel-leicht könnten Sie mir dabei, als Einheimischer, unter die Arme greifen?“

Ich verstülpte meine Lippen und nickte. Ihre Offenherzig-keit gefiel mir. Ich packte die Gelegenheit beim Schopf:

„Erwähnte Heinz Bekanntschaften, die er in Zamir unter Umständen gemacht hatte? Sie telefonierten ja wohl öfter mit ihm, während er hier war.“

„Ja, das taten wir. Aber Bekanntschaften erwähnte er nicht. Dachten Sie an weibliche Bekanntschaften?“

„Ich dachte an überhaupt nichts“, log ich, obwohl ich möglicherweise wie ein ertappter Schuljunge vor ihr saß. „Wann hatten Sie das letzte Gespräch mit Heinz?“

„Am Mittwoch so um 17 Uhr herum. Er hatte gerade die Begegnung mit Allen gewonnen. Das hatte er mir sagen wollen. Er war natürlich guter Laune.“

„Das ist alles sehr verständlich“, nickte ich. „Erwähnte er auch, was er für den Abend noch vorhabe? Vermutlich wird Sie das mein Kollege Antun nachher ebenfalls fragen. Schließlich könnte es für unsere Ermittlungen bedeutsam sein.“

„Nein, darüber haben wir gar nicht gesprochen. Es war auch nur ein kurzes Gespräch, keine zwei Minuten, schätze ich.“

Ich dankte ihr für die Auskünfte. Bald darauf verabschie-deten wir uns voneinander, weil sie ja noch duschen wollte. Wir vereinbarten ein Telefongespräch für den frühen Abend, um uns vielleicht noch besprechen oder gar treffen zu können. Das Essen ließ sie von der jungen Frau anschreiben, denn sie hatte mich eingeladen. Ich konnte mir nicht den bösen Gedanken verkneifen: nun ja, jetzt hat sie's ja.


19

Wie es aussah, hatte die mittägliche Pressekonferenz, die mein Chef erwogen hatte, stattgefunden. Ich war noch einmal zu Jossip gegangen, weil ich vergessen hatte zu fragen, ob er die Nationalität der schwarzgelockten Begleiterin Leukenfels' abschätzen könne. Er tippte auf „mittelmeerisch“, genauer mochte er sich nicht festlegen. Ich wollte schon wieder verschwinden, als in seinem Radio die 16-Uhr-Nachrichten kamen. Wir verfolgten sie beide mit Interesse, wobei Jossip freilich weiter emsig Kunden bediente.

Demnach war im Fall Leukenfels ein erwerbsloser 39jähriger Mann „aus dem Zamirer Sozialhilfemilieu“ als dringend der Tat Verdächtiger festgenommen worden. Er habe die Tat bereits gestanden. Kriminalkommissar Antun Birac von der Zamirer Polizei halte sein Geständnis für glaubwürdig, obgleich sowohl der Verbleib der Stichwaffe, die dem Opfer vom Rücken her ins Herz fuhr, wie auch der Beute bislang noch nicht zufriedenstellend geklärt werden konnte. Der 39jährige, so der Rundfunksprecher, hatte angegeben, er sei dem Tourist von der Hauptstraße Höhe Laurentiusgasse aus nachgeschlichen, als er in ihm den bekannten deutschen Sportler erkannte. Die Tatwaffe habe er am Tatort ins Hafenbecken geworfen, wo sie Taucher bislang vergeblich suchten. Als Beute nannte er eine Brieftasche mit einigen tausend Kuna und eine wertvolle Armbanduhr, die er beide, aus Angst vor Entdeckung, erst einmal „sicher versteckt“ habe. Dieses Versteck wolle er nicht preisgeben. Der Schluß der Nachricht lautete:

„Die Vernehmungen des Tatverdächtigen würden auch übers Wochenende fortgesetzt, versicherte Birac am Mittag auf einer Pressekonferenz. Dasselbe gilt übrigens auch für das Snookerweltranglistenturnier in der Zamirer, vom Volksmund so getauften Billardarena 'Zuckerdose'. Am Vormittag fand dort zunächst eine würdevolle Gedenkfeier zu Ehren des getöteten Sportlers statt. Inzwischen werden die Begegnungen des Viertelfinales ausgetragen. Heinz Leukenfels zählte zu den Favoriten auf den Turniersieg, wie auch der englische Spieler Kevin Slighton, der im Moment, bei einem Modus best of nine, gegen seinen Landsmann Mark Selby mit 4:2 in Führung liegt.“

Gottseidank war Jossip gerade wieder mit Kunden beschäftigt. Ich grüßte ihn mit Handzeichen und tauchte in den Touristenstrom Richtung Dom. Wie sich versteht, hätte mich der liebe Schulkamerad andernfalls in eine Erörterung der Rundfunknachricht verwickelt, wobei es wahrscheinlich nicht ohne Verwünschungen des vom Sprecher so getauften „Sozialhilfemilieus“ abgegangen wäre.

Ich hatte mich entschlossen, meine Spurensuche vom Vorabend kurzerhand fortzusetzen, weil ich mich in der Zeit, da sich Iris Trögner in Antuns Krallen befand, ja ohnehin irgendwie beschäftigen mußte. Nur wollte und konnte ich jetzt gezielter vorgehen. Es wäre zu zermürbend und dazu wenig aussichtsreich gewesen, beispielsweise die Kellner der nächsten 20 Altstadtlokale nach Leukenfels plus Begleiterin zu befragen. Stattdessen ging ich gleich zum Hafen hinunter, um zu untersuchen, welche Anmarschmöglichkeiten ein aus der Altstadt kommender Mensch besäße, der sich die an Dock 5 gelegenen Yachten anzuschauen gedenke. Schon das war entmutigend genug. Es gab mindestens ein Dutzend, und um das festzustellen, benötigte ich allein eine halbe Stunde. Dann überlegte ich mir von der erhöhten Warte des Hafenkasinos aus, wo Kreuzungspunkte seien und an welchen von diesen Punkten Personen stationiert waren oder gewesen waren, denen ein Mann wie Leukenfels vielleicht aufgefallen war. Ich verließ die Plattform des Kasinos wieder und ging zu einem Geschäftshaus, das Ecke Hauptstraße/Laurentius-gasse stand. Leider war es eine belebte Stelle – sicherlich auch am Mittwochabend. Und die VerkäuferInnen und Bürokräfte hinter den Fenstern, die ich zunächst von der gegenüber liegenden Seite aus musterte, warteten nicht gerade auf einen unterbeschäftigten Detektiv, der ihnen das Foto einer Leiche zeigen wollte, zumal sich der Gesuchte möglicherweise nur im künstlichen Licht der Straßen- und Schaufensterbeleuchtung präsentiert hatte, weil es, gegen 22 Uhr, schon zu dunkel gewesen war. Sie waren hier, um Geschäfte zu machen. Ich holte mir rund 20 Abfuhren und Rüffel und ging wieder auf die Westseite der Hauptstraße, wo gleich das Hafengelände begann.

Als nächsten vermeintlichen Kreuzungspunkt der Anmarschrouten steuerte ich das winzige Blechhäuschen eines Parkplatzwächters an. Allerdings saß er vor dem Häuschen, unter einem Sonnenschirm. Wahrscheinlich hatte man ihm das Häuschen hingestellt, damit er nach Sonnenuntergang wußte, wo er den Schirm zu lassen hatte. Immerhin sah ich, der Parkplatz war mit Laternen bepflanzt. Als er mir versicherte, er sei auch am Mittwoch-abend im Dienst gewesen, flackerte wieder Hoffnung in mir auf. Ich hielt ihm das Foto unter die Nase und beschrieb auch Leukenfels' Gestalt. Er musterte mich mehr als das Foto, weil ich mich immerhin als Kriminalkom-missar ausgewiesen hatte, und sagte müde:

„Ist das nicht dieser Billardfritze, den sie erstochen haben? Na, sehen Sie ... Wüßte aber nicht, daß der hier vorbei gekommen wäre.“

Ich wünschte ihm eine Gute Nacht und trollte mich weiter am Kai entlang. Zwar lief das Gelände zwischen Kai und der erhöhten Hauptstraße zum Dock 5 hin allmählich spitz zu, aber das Dumme war, die Hafenseite der Hauptstraße wies an dieser Stelle keinerlei Häuser auf. Die schöne Aussicht, auf eine im Hinterfenster einer Pizzeria liegende Toilettenfrau zu stoßen, bestand also nicht. Ganz im Gegenteil, der Streifen war von Containern, Holzstapeln und Kränen gespickt, die einem Strolch erfreulich viele Verstecke geboten hätten. Auf der Kaiseite kamen jetzt die Landeplätze verschiedener Fähr- und Rundfahrtenschiffe. Hier herrschte um diese Zeit starkes Gedränge, weil die Leute es kaum erwarten konnten, entweder auf die vor Hitze dampfende Adria hinaus zu kommen oder aber umgekehrt ihre Schwiegermutter in die Arme zu schließen, die auf der Insel Cres das gefährliche Abenteuer über-standen hatte, kleinen, schwarzen Ziegen Brocken von frischem Weißbrot ins weiche Mäulchen zu schieben. Plötzlich fiel mein Blick auf die sogenannte Mondschein-barke. Dieses Schiff war im Moment naturgemäß verwaist, doch es gab eine Tafel für Interessierte wie mich. Ich blieb vor ihr stehen.

Danach machte die Mondscheinbarke täglich um 23 Uhr los, gewährte jedoch schon ab 22 Uhr Einlaß. Vielleicht war das eine geringe Chance für mich. Aber ich würde sie erst in ungefähr vier Stunden nutzen können.


20

Als mein Handy dudelte, saß ich just auf der staubigen Lagerhallenrampe, die ich bereits kannte. In 30 Meter Entfernung schaukelten die Jachten, soweit sie nicht auf See waren. Am Telefon war die Gefährtin des Ermordeten. Von der Stimme her wirkte sie gefaßt. Nein, sie könne sich über meinen Kollegen Birac nicht beklagen. Er sei sehr rücksichtsvoll gewesen – sowohl im Leichenschauhaus wie anschließend in seinem Büro. Die Befragung habe keine 20 Minuten gedauert. Er habe im wesentlichen ihre Persona-lien aufgenommen. Er habe sich natürlich auch erkundigt, in welchem Verhältnis sie zu dem Toten gestanden habe – aber die Erbschaftsfrage habe er gar nicht angeschnitten.

„Tatsächlich nicht?“

„Ja. Ansonsten hat er noch wissen wollen, ob es möglicherweise Leute gegeben habe, die Heinz nach dem Leben hätten trachten können, Feinde also. Damit konnte ich nicht dienen. Ich sagte allerdings, sicherlich gab es unter seinen 'Sportskameraden' einige, die ihn haßten, wegen seiner offenherzigen Art und seinem kritischen Geist, aber das sei vermutlich hier, im Kollegium des Polizeipräsidiums, nicht anders ...“

Ich kicherte. „Und? Was hat er daraufhin gesagt?“

„Gar nichts. Er hat sich beeilt, nicht die Lippen zu verkneifen, sein Notizbuch zuzuklappen und mir mit freundlichem Lächeln für die ganze Mühe zu danken. Ob er mich jetzt wieder ins Hotel zurückbringen solle ..? Ich winkte ab, das sei nicht nötig, und so gaben wir uns die Hand. Auf dem Flur kam ich am Dienstzimmer eines Kriminalkommissars Danilo Matavulj vorbei. Als ich den hübschen Ziegenmarkt überquerte, blickten mir vermut-lich etliche Polizeiaugenpaare nach. Dann bin ich zum Hotel zurückgeklettert, das findet ja sozusagen jede
Ziege ...“

Ich lachte. „Und da sind Sie jetzt, im Hotel?“

„Ja, auf dem Zimmer.“

Ich zeigte mich durch Impressionen von meinem Altstadt- und Hafenrundgang erkenntlich. Selbstverständlich erwähnte ich weder mein besonderes Augenmerk für eine „mittelmeerisch“ wirkende schwarzgelockte Dame, noch den unmittelbaren Tatort, der im Augenblick vor meinen Füßen lag. Ich schimpfte auch auf Spießer wie Jossip, die immer für rassistische Parolen anfällig seien. Ich sagte:

„Im Radio hieß es, der beschuldigte Pfandflaschenangler habe angeben, in der Brieftasche seines Opfers hätten sich mehrere tausend Kuna befunden – mehr nicht. Könnte das hinkommen? Was meinen Sie?“

„Das könnte schon stimmen. Warum hätte er mit riesigen Geldbeträgen durch die Gegend laufen sollen? Für überraschende Fälle hatte er ja seine Bankkarte.“

„Die ist natürlich ebenfalls verschwunden, nehme ich einmal an. Vielleicht sollte man sie lieber sperren lassen? Haben Sie den erforderlichen Zugang?“

„Ja, darum kann ich mich kümmern. Ich habe meine Dateien auf einer Speicherkarte dabei. Einen Laptop wird es ja wohl in diesem Hotel geben.“

„Ja, denke ich auch ... Und andere Wertgegenstände? Wissen oder glauben Sie, Heinz hätte noch andere Wertgegenstände mit sich geführt? Der Rundfunksprecher erwähnte zum Beispiel eine 'wertvolle' Armbanduhr.“

„Eine Armbanduhr?“

„Ja – warum nicht? Sogar ich habe eine, und ich bin nur eine arme Kripomaus.“

„Aber Heinz hatte keine. Nie. Er haßte Armbanduhren.“

Ich hielt den Atem an. „Sind Sie sicher?“

„Na hören Sie mal – meinen Sie, ich spinne? Gucken Sie sich im Internet ein Dutzend Videos von Heinz' Turnier-begegnungen der ganzen letzten Jahre an – Sie werden nicht den Zipfel einer Armbanduhr entdecken. Haben Sie beispielsweise in der jüngsten Partie gegen Brecel, von der Sie mir erzählten, eine Uhr an Heinz' Handgelenk gesehen? ... Na also. Er besaß keine Armbanduhr.“

Ich pfiff durch die Zähne. „Das ist eine schöne Freitagabendnachricht, Frau Trögner!“

„Warum?“

„Weil es beweist, das Geständnis des Beschuldigten Kescher kam auf krummen Wegen zustande. Mit anderen Worten: vielleicht ist er gar nicht der Täter.“

„Und was läge daran? Ob Heinz nun von diesem oder von jenem Schuft umgebracht worden ist – wieder lebendig wird er so oder so nicht.“

Ihre Stimme war wohl brüchiger geworden, nur achtete ich leider nicht darauf. So entgegnete ich: „Es geht darum, einen möglichen Justizirrtum zu unterbinden, und es geht vor allem um die Wahrheit. Ich will die Person finden, die Heinz wirklich auf dem Gewissen hat. Die Person, die ihn dazu genügend haßte, wie Sie ja vorhin selber gesagt haben.“

Sie schluchzte bereits. „Ach, hören Sie doch auf ..!“

Ich schwieg betreten. In der Ferne tutete ein Fahrgastschiff so laut, so strafend, daß es womöglich noch in ihrem Hotelhinterzimmer zu hören war. Schließlich sagte ich:

„Es tut mir leid, Iris, ich bin ein rücksichtsloser Ochse. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Es klang aus dem Hörer, als wische Sie ihre Tränen ab. Dann sagte sie leise: „Am Bahnhof haben Sie mich in den Arm genommen, Danilo, das hat mir ziemlich gut getan ...“

Wäre ich in meiner Gefühlsaufwallung zu einem klaren Gedanken fähig gewesen, hätte ich mir vermutlich gesagt, es sei ja geradezu kriminell, wie ich mit einer wichtigen Zeugin verführe. So aber flüsterte ich zurück:

„Gut, Iris. Ich komme.“


21

Ich schob ihren Arm behutsam, aber nachdrücklich von meiner Brust, richtet mich auf, schwang mich auf die Bettkante und angelte nach meinen Klamotten, die dem strohgelben Teppich mehr Farbe gegeben hatten:

„Es hilft ja alles nichts, Iris. Ich muß dahin. Sonst finde ich die ganze Nacht keine Ruhe.“

Sie kitzelte mich in der Seite. „Die findest du sowieso nicht, mein Bester.“

Ich schüttelte über ihre Frechheit den Kopf und zog mich an. Plötzlich hüpfte sie, auf der anderen Seite, ebenfalls aus dem Bett. „Ich komme mit? Oder ist diese Recherche streng geheim?“

Da sie sich bereits anzog, schien sie eine Absage für unwahrscheinlich zu halten. Ich überlegte. Vielleicht war es ja sogar netter so. Schließlich konnte ich sie an der Mondscheinbarke bitten, für ein paar Minuten gefälligst außer Hörweite zu bleiben. Und wenn sie sich, nach der Leiche, auch noch mit dem Tatort konfrontieren wollte – ich konnte sie schlecht daran hindern. Sie schien ja ohnehin eine recht seltene Mischung aus Ziegenmäulern und Olivenholz zu sein.

„Also gut ..!“

Ich nickte ihr in gespielter Griesgrämigkeit zu und zog meinen Gürtel fest. Sie hatte eben ihr olivgrünes Kleidchen von den Spitzen ihrer aufgeworfenen, nicht sehr großen Brüste befreit, sodaß es in Richtung ihrer Hüften weiter-rutschen konnte. Nun kam sie lächelnd ums Bett auf mich zugeschritten und küßte mich schon wieder.


22

Es war ungefähr 22 Uhr 30, als wir am Liegeplatz der Mondscheinbarke eintrafen. Wir waren nicht die einzigen. Das kleine Schiff wirkte schon halb gefüllt, die Lampions schaukelten in einer leichten Abendbrise, und selbstver-ständlich säuselten aus den Bordlautsprechern Geigen und Flöten à la Mozarts Kleiner Nachtmusik. Dem Schiff gegenüber lagerten etliche Paletten mit Mauer- oder Pflastersteinen. Ich bat Iris, dort für einen Moment Platz zu nehmen.

Die Gangway zur Reling wurde von einem graugelockten Seebären beherrscht, den sie trotz der Wärme in eine goldbetreßte Kapitänsuniform gesteckt hatten, Schirm-mütze eingeschlossen. Er ließ sich die Eintrittskarten zeigen oder verkaufte solche und machte dazu seine geschäftsfördernden Sprüche, die nordamerikanische Touristen vermutlich für Seemannsgarn hielten. Als gerade keine Kunden kamen, stellte ich mich vor und erklärte ihm, worum es ging. Wie sich herausstellte, war er der Kapitän. Er hatte kaum auf mein Foto geblickt, als er auch schon nickte und brummelte, ja, das könne am Mittwoch gewesen sein.

„Was?“

Er tippte auf das Foto: „Der war hier.“

Gleich darauf nickte er über den Kai, zu den Paletten mit den Steinen. Iris hockte ein Stück weiter südlich; mög-licherweise hatte er sie noch nicht mit mir in Verbindung gebracht. Er fuhr fort:

„Die sind hier vorbei gekommen, ja. Er hatte eine sehens-werte Dame dabei, wissen Sie? Deshalb fiel es mir auf. Sie lehnten eine Weile da drüben an den Steinen, wobei sie sich eifrig abknutschten. Vielleicht überlegten sie auch, ob sie mit uns fahren sollten, aber das war wohl nicht das Richtige für sie, denn sie gingen dann weiter zum Yacht-hafen. Was ist denn mit dem Kerl? Hat er was verbrochen?“

Seine Unkenntnis war erfrischend genug, um meine Alarmstimmung zu beruhigen. Ich lachte im Stillen, wiegelte seine Frage ab und hakte nach:

„Also am Mittwoch? Sind Sie sicher?“

Er dachte nicht lange nach, zumal sich der Gangway von der Stadt her eine lärmende Familie näherte. „Ja. Gestern kann es auf keinen Fall gewesen sein, aber von Sonntag bis Dienstag auch nicht, denn da hatte ich keinen Dienst. Mein Sohn ist auch Kapitän, wissen Sie? Entschuldigen Sie bitte einen Moment.“

Er schob mich beiseite, damit die Familie sein Schiff en-tern konnte. Sie hatten bereits Karten. Ich ging ihn sofort wieder an:

„Um wieviel Uhr war es – ungefähr?“

Er dachte nach. „Vor halb 11, nehme ich an, denn um Halb löste mich unser Koch ab, weil ich ans Bordtelefon gerufen worden war. Ich blieb dann gleich auf der Kommando-brücke. Und nach 10 muß es ja ebenfalls gewesen sein, weil wir erst um 10 öffnen.“

„Gut. Und warum war die Begleiterin 'sehenswert', wie Sie sagten? Wie sah sie denn aus?“

Er warf seine stark behaarten Handrücken in die Luft und erwiderte halb tadelnd, halb nachsichtig: „Na, klasse eben, wie Frauen so auszusehen haben ... Einen steilen Busen hatte sie, das muß ich sagen ... Aber sonst nicht dick ... Dunkle Haare ... Ich glaube, ich habe in dem Moment an Zigeunerinnen gedacht ... Das dürfen Sie aber nicht meiner Ollen verraten!“

Ich lächelte. „Und die Kleidung? Schmuck? Tasche?“

Er überlegte erneut. „Rote Stöckelschuhe ... Das Kleid war bunt – geblümt vielleicht ... Ein weites, luftiges Kleid ... 'Tasche' sagen Sie? Nein, keine Tasche. Aber Ohrringe, ja! Richtige Ringe, verstehen Sie? Ziemlich große Klunkern. Aber die Farbe? Könnte ich nicht sagen ...“

Ich trat freiwillig zurück, weil wieder Fahrgäste kamen. Dieses Mal mußte er kassieren. Nach ungefähr zwei Minuten war er wieder ansprechbar.

„Fallen Ihnen noch weitere Einzelheiten ein?“

Er kratzte sich unterm Mützenrand und schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Im Augenblick jedenfalls nicht.“

„Richtig, Herr Kapitän!“ sagte ich und zog mein Notizbuch hervor. „Wahrscheinlich müssen wir Sie später noch einmal um eine Aussage mit Unterschrift bitten. Könnten Sie mir deshalb freundlicherweise Ihre Personalien geben?“

Er tat es ohne Murren. Ich dankte ihm und ging, das Notizbuch in der Hand, schräg über den Kai zu Iris. Ich sagte mit einem Nicken:

„Er hat ihn gesehen. Das ist für mich schon wieder ein Volltreffer, nach der Armbanduhr! Gedulde dich bitte noch einen Augenblick, ich muß mir Stichworte notieren.“

Sie nickte. Ich setzte mich ebenfalls auf die Palette mit Steinen, wenn ich auch auf einen gewissen Abstand bedacht war, und schrieb.

Wie sich fast von selber versteht, linste sie trotzdem hinein. Plötzlich hörte ich sie dicht an meinem Ohr knurren:

„Sagtest du nicht, er habe ihn gesehen?“

Ich blickte stirnrunzelnd auf – sie aber tippte mit ihrem gekrümmten Finger auf die Worte „steiler Busen!“, die ich soeben in mein Buch geschrieben hatte.


23

Gleich am Samstagmorgen – allerdings war es bereits gegen 11 – hatte ich von dem Telefon auf der Bauerntruhe aus meinen Chef angerufen und dringend um eine Audienz gebeten. Als er das Stichwort „Fall Leukenfels“ hörte, sah ich ihn die Brauen bis zu seiner Halbglatze heben. Aber er fragte nichts – er gewährte mir die Audienz. Sein Samstag sei sowieso im Eimer. Er befand sich bereits im Polizei-präsidium, weil dort eine Konferenz stattfand. Wir verab-redeten uns für 14 Uhr. Wenn ich ohnehin zu Fuß käme, könne ich ihm vielleicht von Mama Josipovic ein Stück Käsetorte und ein Kännchen Schokolade mitbringen. Das versprach ich ihm.

Wir selber – die 47 Jahre alte Weinetikettengestalterin aus Deutschland, die offenbar über Nacht meine neue Geliebte geworden war, und ich – frühstückten im Hotelrestaurant. Dieses Mal bediente die Chefin, und sie staunte nicht schlecht. Die Zusammenhänge im ganzen schienen ihr noch verschlossen zu sein, aber sie behandelte uns schon beinahe mit Herzlichkeit. Vermutlich tat ihr besonders Iris leid, die sie vielleicht für eine Verwandte oder gar Tochter des Heinz Leukenfels hielt.

Man konnte nicht behaupten, Iris hätte sich über die ero-tischen Abwege, die ich ihrem getöteten Gefährten unbe-dingt nachweisen wollte, maßlos empört. Sie hätten sich stets alle Freiheiten gelassen. Die damit verbundenen Ver-letzungen hätten sie in Kauf genommen. Daß es schließlich in einem Stich ins Herz ausarten werde, habe ja keiner ahnen können, fügte sie nicht ohne Sinn für schwarzen Humor hinzu.

Jetzt erst, beim Frühstück, kam ich auf dieses Thema zurück, weil mich die vollbusige Hotelchefin sozusagen unsanft an Vedrana erinnerte. Ich äußerte meine Befürch-tung, es werde wohl recht ungemütlich werden, sobald ich Vedrana die jüngste Entwicklung offenbare, und zwar für beide Beteiligten. Ich erzählte Iris mehr von Vedrana. Sie hörte aufmerksam zu und nickte: „Wir werden sehen.“

Vielleicht beißen Männer immer wieder auf die gleichen Frauen an. Das Besondere an Iris war ihre Aufrichtigkeit – und die teilte sie mit Vedrana. Iris war offensichtlich bemüht, sowohl dem anderen wie sich selber nichts vorzumachen. In der zweiten Hinsicht hatte sie Vedrana vielleicht noch etwas voraus. Nun ja, sie war ja auch älter. Gleichwohl war sie ein wahres Sinnenbündel, und deshalb konnte es mir eigentlich niemand übel nehmen, wenn sie mich so sehr für sich einnahm. Selbst Iris eher kräftige Nase war bemerkenswert empfindlich. Im Stadtpark hatte sie ein Beet mit Thymian auf bald 30 Meter gerochen, obwohl Windstille herrschte. Den dunklen Fleck auf der Sandsteintreppe der gegenüber liegenden Weinhandlung hatte sie vor einer Viertelstunde erspäht, weil das Oberlicht über unserem Frühstückstisch aufstand: „Schwerer süßer Weißwein!“ hatte sie nach einem Schnuppern gesagt. Ich sah sie ungläubig an, erhob mich und ging schnurstracks hinüber. „Ja“, eröffnete mir der Ladeninhaber ohne nennenswerte Verblüffung, „einer Kundin ist vorhin eine Flasche Tokajer entglitten. Wie sich versteht, haben wir die Scherben sofort aufgefegt.“

Als ich zurückkehrte, reckte Iris triumphierend ihre Faust. Ich wies sie zurecht: „Das ist eine Unsitte, die ich an SnookerspielerInnen nicht sehen möchte!“

„Hätten wir bloß gewettet!“ fiel sie mir um den Hals. Die Augen der Hotelchefin waren jetzt so groß wie ihre Espressotässchen.

Übrigens hatte Iris behauptet, sie hätte auch schon am Treppengeländer auf dem Bahnsteig, als ich sie zu trösten suchte, gerochen, was sie von mir zu halten habe, nämlich viel. Ich hielt das nicht für völlig abwegig. Freilich hütete ich mich, sie zu fragen, wie es denn gerochen habe, hätte sie doch womöglich geantwortet, wie Pferd oder Maulesel oder Steinbock.

Beim Espresso einigten wir uns auf das Tagesprogramm. Ich hatte ja den Termin beim Chef, der sich womöglich bis in den Nachmittag ziehen konnte oder gar unberechenbare Sonderaufgaben für mich mit sich brachte. Iris wollte sich unterdessen um das Begräbnis kümmern. Heinz hatte eine Feuerbestattung verfügt und um ein schlichtes Grab gebeten, einerlei wo. Ich empfahl Iris einen Zamirer Bestatter, den ich persönlich kannte. Ich wußte auch, er sprach Englisch. Gegen Abend wollten wir Fritz besuchen, hatte er doch erst am Sonntag wieder Flußdienst. Auch mit ihm hatte ich bereits telefoniert. Er habe Marica zum Essen eingeladen, sagte er, und es sei ihm eine Ehre, wenn wir dazukämen. Iris war selbstverständlich gespannt auf ihn.

Es war halb zwei. „Und so willst du zu deinem Chef gehen?“ meinte Iris, während sie mit übertriebenem Stirnrunzeln an mir auf und ab blickte.

Mein kurzärmliges Hemd und mein leichter Sommeranzug aus Leinen, dazu die Socken, alles hell, waren ohne Zweifel etwas verknittert, und vielleicht rochen sie gar ein wenig so, wie ich nach Ansicht meiner Spötterin selber roch.

„Soll ich wenigstens einmal bei Heinz nach einer Krawatte gucken?“

„Ja“, winkte ich ab. „Damit ich ihn zur Not fesseln kann, wenn er mich verhauen will ..!“

Ich grüßte mit meinem nicht vorhandenen Hut und verließ sie.


24

Ich schob das Tablett aus Mama Josipovics Konditorei auf den Schreibtisch meines Chefs und nahm auf seinem kargen Besucherstuhl Platz. Er bedankte sich über-schwenglich und schnupperte erst einmal voller Vorfreude an der Tülle der Heißen Schokolade und dem Stück Käsetorte.

Mein 63jähriger Vorgesetzter konnte, wie ich in meinem Büro, aus seinen Fenstern auf den Ziegenmarkt blicken, der um diese heiße Stunde eher verwaist dalag. Der Platz wies weder Bäume noch Brunnen auf, war aber immerhin von lauter Häusern mit Arkaden umsäumt. In einem dieser Gewölbe wäre ich um ein Haar über die gestraffte Leine eines dösenden Windhunds gestolpert, so sehr hatten mich verschiedene glänzende Formulierungen des vor mir liegenden Vortrages beschäftigt. Der Köter war inzwischen weg.

Während sich mein Chef Schokolade eingoß und an-schließend die Kuchengabel vorsichtig in das edle Torten-stück einführte, nickte er mir auffordernd zu. „Also, was ist mit Leukenfels? Du hast neue Erkenntnisse?“

„So ist es. Beeilen Sie sich lieber mit der Torte, ehe ich Ihnen den Appetit verderbe.“

Er winkte mit der Kuchengabel ab. „Nur raus mit der Sprache! Die Heinis von der Konferenz wünschen mich möglichst rasch wieder zu sehen.“

Ich faßte die Aussagen des Zeitungs- und Tabakhändlers Jossip und des Kapitäns der Mondscheinbarke zusammen. Demnach spräche sehr viel dafür, daß sich Leukenfels am Tatabend in Begleitung einer Bekannten oder gar Gelieb-ten befunden hätte, und zwar von kurz nach 20 Uhr bis mindestens 22 Uhr 30.

„Wir wissen aber, um 23 Uhr war Leukenfels sehr wahr-scheinlich bereits tot. Können Sie mir verraten, was aus der Dame geworden ist, während Kescher Leukenfels belauerte und Leukenfels erstach?“

Er zeigte keine Regung, sieht man einmal vom Kauen und Herunterschlucken der Torte ab. Schließlich nickte er:

„Das wäre eine gewisse Lücke, das muß ich einräumen ... Vielleicht sollten wir uns Keschers Geständnis daraufhin noch einmal genau anschauen.“

Ich schnaubte. „Keschers Geständnis! Hören Sie auf! Hier hat es diese 'Lücke', wie Sie es nennen, und auf der anderen Seite hat es zu viel!“

„Zu viel?“

„Ja. Eine Armbanduhr zu viel. Die von Leukenfels.“

Ich gab Iris' Aussage wieder, Heinz sei nie mit Armbanduhr aufgetreten und habe überhaupt keine besessen.

„Das läßt sich ja verhältnismäßig einfach überprüfen“, ergänzte ich. „Und Sie wissen, was es heißt?“

Er schwieg. Allerdings rührte er jetzt doch ein wenig gebeutelt in seiner Schokoladentasse herum. Ich sagte:

„Es heißt, Keschers Geständnis ist ungefähr so viel wert wie ein Wahlprogramm oder wie eine Regierungserklärung zur Rettung der Wale. Das aber bedeudet wiederum, der Mann muß schleunigst auf freien Fuß gesetzt werden. Die Medien werden Prosinecki und uns zerfleischen, wenn wir das unterlassen. Das wissen Sie so gut wie ich.“

Prosinecki war unsere Staatsanwältin. Der Chef lächelte dünn und erwiderte: „Aber wenn wir es tun, werden Sie uns vermutlich ebenfalls zerfleischen. Deinem Kollegen Antun wird das bestimmt nicht behagen, Danilo.“

Ich verbot mir aufzubrausen. Ich sagte: „Ja, ja, das kennen wir. Wir möchten unser berühmtes 'Gesicht' nicht ver-lieren. Und dafür, daß wir recht behalten, daß wir uns nie irren, daß wir makellose Beamten sind, darf Kescher seine Freiheit verlieren ... Nüchtern betrachtet, ist es aber mindestens fahrlässig, in diesem Fall Leukenfels sofort von dem üblichen schnöden Raubmord auszugehen. Es gibt noch andere Mordmotive als Habgier oder Geldnot – und ein Mann wie Leukenfels hätte ein weniger schnödes Mordmotiv auch sicherlich verdient.“

Er zwinkerte halbherzig: „Eifersucht? Die Frau Trögner heuert einen albanischen Gangster an? Das ist nicht viel besser.“

Ich mußte grinsen. „Das stimmt. Obwohl bei Frau Trögner sogar Habgier in Betracht käme, ist sie doch die Allein-erbin, wie sie mir bereits eröffnete. Dem müßten wir also vorsichtshalber ebenfalls nachgehen … Allerdings hätte ich etwas Besseres. Es müßte nur noch bewiesen werden, was sich unter den gegebenen Umständen recht langwierig gestalten dürfte. Wollen Sie meine Theorie hören?“

Er sah zu der Uhr, die hinter mir an der Wand hing, setzte sich auf, schob das Tablett beiseite, faltete seine Hände auf der Schreibtischplatte und nickte. „Schieße los! Aber knapp, bitteschön, knapp!“

„In jedem Profisport gibt es das Phänomen des sogenann-ten Angstgegners. Übrigens hängt es mit dem Phänomen des Gesichtverlierens zusammen – aber ich soll mich ja kurz fassen. Für den jungen britischen Snookerprofi Kevin Slighton hieß der Angstgegner Heinz Leukenfels. Der 'alte Clown' hatte Slighton erst kürzlich aus einem Turnier geworfen und dabei auch noch vor Autogrammjägern beleidigt, wie jedenfalls Slighton es empfand. Slighton haßte Leukenfels. Und es lag selbstverständlich genauso im Interesse seines Managers Brucinelli, einer erneuten, von Leukenfels herbei geführten Blamage vorzubeugen, zumal einem Scheitern im Finale, für das die beiden Champs ja sozusagen vorgesehen waren. Schließlich geht es hier auch um viel Geld – Slightons Haß stellte durchaus mehr als ein leidenschaftlich betriebenes Hobby dar. Also bot sich eine noch engere Zusammenarbeit zwischen dem Profi und seinem Betreuer an – eine Verschwörung. Eine Andeutung davon meine ich jüngst mit eigenen Augen bei der Gedenkfeier für Leukenfels beobachtet zu haben, aber auch das führt jetzt zu weit. Was unternehmen sie also? Brucinelli hat gute Kontakte zur kroatischen Unterwelt und heuert jenen albanischen Gangster an, von dem Sie bereits etwas höhnisch gesprochen haben. Auch der Gangster ist ein Profi, was ja nicht nur der tödliche Stich bezeugt. Er bedient sich eines rassigen Lockvogels auf roten Stöckelschuhen, um Leukenfels am späten Abend in den einen oder anderen dunklen Winkel dieser Stadt zu bekommen. Das gelingt. Das Gangsterpaar täuscht einen Raubmord vor und macht sich dünne. Vermutlich ist es schon längst über alle Berge.“

Der Chef hatte seine Lippen verstülpt. Jetzt blickte er mindestens so lang, wie meine Ansprache gedauert hatte, auf den Ziegenmarkt. Ja, dachte ich, jetzt hat er unter anderem um ein Bauernopfer zu ringen, nämlich Antun. Aber er zeigte keine Regung. Sein schütteres, graues Kopfhaar war sorgfältig nach hinten frisiert. Die langen Ärmel seines hellblauen Hemdes hätte er wahrscheinlich frühstens aufgerollt, wenn es darum gegangen wäre, eine Ziege zu erdrosseln, aber dazu war er, inzwischen, zu untrainiert. Die Ärmel zeigten vergoldete Manschetten-knöpfe.

Er faßte mich ins Auge, nickte kurz, zog sein Telefon zu sich heran und sagte: „Deine Theorie ist nicht völlig unwahrscheinlich, Danilo.“ Er wählte eine Handynummer. Als jemand abnahm, sagte er:

„Kresimir Vargas. Hallo, Frau Prosinecki. Wären Sie kurz in dringender Angelegenheit zu sprechen ..? Gut, ich bin in meinem Büro.“

Er legte auf. „Sie ist bei irgendeinem Empfang. Sie ruft mich gleich zurück. Könntest du in dein Büro marschieren, um die Aussagen der neuen Zeugen niederzulegen – die du mir und Antun bislang, aus allerdings nachvollziehbaren Gründen, unredlicherweise vorenthalten hast? Ich will einmal beide Augen zudrücken, denn unsere Redlichkeit, siehe 'Geständnis', war ja in diesem Fall auch nicht gerade riesig … Also gut. Mehr brauche ich nicht von dir. Aber schreibe die Personalien hinzu. Und mache gleich ein paar Ausdrucke. Antun ist ebenfalls im Haus, übrigens mit Kescher, und ich muß ihn ja leider ins Bild setzen. Ich werde gleich mit der Prosinecki erörtern, wie wir Kescher nun, auf möglichst elegante Weise selbstverständlich, wieder loswerden. Und welchen Bären wir dieses Mal der Presse aufbinden. Und dann gehe ich in Pension.“


25

Am späten Nachmittag lernte Iris meine Dachwohnung kennen. Den Gedanken, ans Meer zu gehen, hatten wir verworfen: es war zu voll. Das konnten wir vielleicht am Montag machen. Iris benutzte meinen Computer, um geschäftliche Dinge zu regeln und einige Freunde zu benachrichtigen. Nebenbei stellte sie mir die Webseite eines deutschen Weingutes vor. Da hatten wir unseren Badeausflug bereits. Auf einem Etikett lag nämlich ein vergnügter Dicker rücklings auf einem quergestreiften Badehandtuch. Er stützte sich auf einen Arm, wobei er eine Flasche umgriff. Mit der anderen Hand stieß er mit einem bärtigen Alten an, der ihm sein Glas aus einer Wolke entgegenstreckte. Die Signatur der Künstlerin bestand lediglich aus einem großen T mit einem Pünktchen über dem senkrechten Strich. Der betreffende Mosel-Saar-Ruwer-Wein wurde als trocken bezeichnet.

Den Weg zu Fritz' Landhäuschen hinauf verbanden wir mit einem Schlenker über die Friedhöfe, auf die ich von mei-nem nach Osten gelegenen Küchenfenster blicken konnte. Der Bestatter hatte Iris auf einem Plan der Friedhöfe die Stellen angekreuzt, wo derzeit Grabstätten zu haben waren. Die meisten davon boten den Blick auf die Stadt und das Meer. Wir entschieden uns für ein Plätzchen, auf das noch so eben ein Zipfel Schatten einer Platane fiel, unter der sowieso schon eine Bank stand. Dort sitzend, hatte man die Küste zur Linken. Iris schien allerdings die Warte von Hanibal Lucić zu teilen, über die sich der Agnostiker Fritz lustig gemacht hatte. Oder die Warte von beiden. Jedenfalls bezweifelte sie, Heinz werde, wie ich geschwärmt hatte, die Aussicht „in vollen Zügen“ genießen. Ich streichelte sie wieder.

Dann kam sie auf die früh verstorbene Malerin Paula Modersohn-Becker zurück, die sie einmal in Ehesachen erwähnt hatte. Die Landsmännin habe, wie Heinz, ausdrücklich um eine schlichte Grabstätte gebeten. Laut Iris hatte sie in ihrem Tagebuch sogar ihre entsprechenden Vorstellungen zur Gestaltung recht genau beschrieben. Man hustete ihr jedoch etwas und knallte ihr ein Denkmal aufs Grab, das für Iris' Empfinden Anlaß genug wäre, das sogenannte Künstlerdorf Worpswede bei Bremen zum militärischen Sperrgebiet zu erklären, wegen der großen „Kitschgefahr“. Ein zusätzlicher Anreiz für die Sperrung wäre der ausgesprochen braune Hintergrund des Moordorfes, meinte sie. Ich nahm es ihr unbesehen ab. Modersohn-Becker war allerdings schon 1907 unter die Worpsweder Erde gekommen. Nach dieser Lehrstunde verließen wir den Friedhof.

Der Abend bei Fritz verlief durchaus angenehm, obwohl unter anderem über Mord und Totschlag diskutiert wurde. Übrigens rückte ich dabei den landläufigen Glauben zurecht, beim Totschlag sei kein Vorsatz im Spiel. Das gilt lediglich für die fahrlässige Tötung. Allerdings hält man dem anderen Totschlag, trotz der Absicht, einigermaßen verständliche, nicht verwerfliche Motive zugute, während ein Mord „aus niedrigen Beweggründen“, „heimtückisch“ oder „grausam“ zu erfolgen hat. Die Merkmale des Totschlags wirken strafmildernd. Angenommen, ich gerate mit meinem Kollegen Antun in Streit, weil er behauptet, ich hätte ihn „unmöglich“ gemacht und seine Karriere zertrümmert. Erschieße ich ihn dabei, ist es nur Totschlag. Marschiere ich dagegen in sein Büro, um ihn zu erschie-ßen, weil ich auf seinen Ruhm neidisch und auf seinen Posten scharf bin, ist es Mord.

Wir aßen im Freien, unter der alten Kastanie vor Fritz' Häuschen. Weiter unten am Hang standen seine Oliven-bäume, zur Rechten lag das Weingut, von dem er diesen Streifen Land gepachtet hatte. Marica hatte ihm beim Kochen geholfen. Das Lammfleisch war bald so zart wie Mama Josipovics Käsetorte. Marica dagegen war fast so groß wie ihr neuer Mannschaftskamerad Fritz. Die braunen Locken fielen ihr weit über die Schultern; aller-dings pflegte sie sie beim Snookerspielen turbanartig aufzustecken. Sie war in meinem Alter, Mitte 30. Im Laufe des Abends festigte sich meine Überzeugung, die Mann-schaftskameraden seien drauf und dran, ein Liebespaar zu werden. Umso besser für mein eigenes Glück.

Einmal, es war schon nach dem Essen, während Fritz Espresso machte, rief Marica im Haus der Weißen an, weil wir doch alle neugierig auf den Ausgang des Halbfinales waren. Ding hatte Lee geschlagen, Slighton jedoch den anderen Chinesen, Cao Yupeng. Somit standen sich morgen, im Finale, Slighton und Ding gegenüber. Nicht Leukenfels.

Iris war von diesem anderen Deutschen, Fritz, offensicht-lich recht angetan. Da ich ihr aber schon viel über Fritz erzählt hatte, mußte sie ihm keine Löcher in den Bauch fragen. Ich erwähnte ihre Weinetiketten. Prompt nickte Fritz hinter sich, wo das Weingut lag, und versicherte Iris, ein Wink von ihr, und er mache die Vorhut. Weniger begriffsstutzig als ich, ging Iris sofort darauf ein. Prompt erhob sich Fritz und pflügte durch die blühende Wiese zu einer Seitenpforte des Weinguts. Nach fünf Minuten erschien er in Begleitung des Winzers wieder, einem stämmigen Schnauzbart um 60. Jeder hatte eine Flasche Wein in der Hand. Nach weiteren fünf Minuten rief der Winzer über sein Handy nach seiner Frau und seinen Kindern, soweit sie im Hause waren, und nach mehr Wein. Es wurde eine nette Party, obwohl oder weil das Winzer-ehepaar nur unzulänglich Englisch sprach. Wegen möglicher geschäftlicher Vereinbarungen verabredeten sie sich mit Iris für den Montagvormittag. Deren Trauer hatten wir wohlweislich verschwiegen. Als wir nach Mitternacht zu zweit den Rückweg zu meiner Wohnung antraten, hätten wir fast wie Weinfässer den Berg hinab-rollen können. Es war zu hoffen, Heinz hätte gelacht.

Den gesamten Sonntagnachmittag und sogar noch den halben Abend verbrachten wir im Haus der Weißen: selbstverständlich beim Snookerspielen. Wir waren von-einander begeistert. Wie sich nämlich rasch herausstellte, waren wir ähnlich gut oder schlecht, wie man es nimmt. Der Kampf tobte. Iris hatte mich schon am Vorabend nach Heinz' Queue gefragt, an das ich gar nicht mehr gedacht hatte, und jetzt handhabte sie es, um mich das Fürchten zu lehren. Sie nahm es dann später mit in meine Wohnung.

Da halb Zamir nebenan in der Zuckerdose saß, um das Finale eines Weltranglistenturniers zu verfolgen, hatten wir bei unserem Schlagabtausch den Salon fast für uns allein. Streckenweise war sogar die Theke unbesetzt, sodaß wir uns eigenhändig bedienten. Wir spielten an Tisch 6 in ihrer Nähe. Einmal fiel mir beiläufig ein mir unbekanntes Gesicht hinter der halbverglasten Tür zur Küche auf, aber ich achtete nicht weiter darauf, da mir Iris gerade einen gemeinen Snooker gelegt hatte. Eine andere Störung alarmierte mich ungleich mehr. Während sich Iris die Weiße im D zurecht legte, weil ich gefoult hatte, dudelte mein Handy. Ich dachte im ersten Moment an meinen Chef, aber es war Vedrana. Iris behauptete später, ich hätte ein Gesicht wie vorm Henker gemacht. Zu meiner Er-leichterung wollte mir Vedrana nur mitteilen, sie komme erst am Dienstag zurück. Ob soweit alles in Ordnung sei? Das bejahte ich, ohne rot zu werden. Iris bestätigte es gleich darauf mit einem langen Kopfschütteln. Dann beugte sie sich über die Fußbande, um die Weiße auf die Reise zu schicken.

Gegen neun kam ein Zustrom an Menschen von der Kellertreppe her, der uns anzeigte, das Finale und die Siegerehrung seien gelaufen. Zamirsteigtauf war auch dabei. Er berichtete uns im Vorübereilen:

„Slighton! Er hat verdient gewonnen.“

Iris und ich blickten uns an, ohne diese Botschaft zu kommentieren. Dann einigten wir uns darauf, unser Match mitten im Frame abzubrechen und irgendwo essen zu gehen.


26

Der Name des Zamirer Rechtsanwalts und Notars Marini hatte bereits am Samstag von innen an die Pforte meines Gedächtnisses geklopft, während ich Vortrag bei meinem Chef hielt. Mir ging auf, daß Marini Italiener war. Deshalb forschte ich später im Internet über Slightons Manager Brucinelli nach, und dann über beide Männer – und siehe da, sie waren beide Italiener und waren zufällig beide in Mailand aufgewachsen. Ein Jahr früher, als ich in Marinis Villa einen Diebstahl von wertvollen Gemälden zu unter-suchen hatte, hätte ich diesem Umstand wahrscheinlich keine Bedeutung beigemessen, doch inzwischen hatten wir im Polizeipräsidium ein Bild von Marini selbst, das nicht ganz so seriös und geschniegelt wirkte, wie der gute Mann auftrat. Der Verbleib der Gemälde konnte bislang nicht aufgeklärt werden, und gewisse Ungereimtheiten in der Spurenlage deuteten darauf hin, Marini wisse darüber möglicherweise entschieden mehr als wir selbst. Weiter hatte er eine unrühmliche Rolle in einem Prozeß gegen Mädchenhändler gespielt. Kurz und gut, nahm man noch seinen aufwendigen Lebensstil hinzu, konnte man es unser Staatsanwältin Prosinecki nicht verdenken, wenn sie ihn kürzlich hinter vorgehaltenen Hand einen „Wolf im Maßanzug“ genannt hatte.

Ich baute darauf, wahrscheinlich sei er am Montagmorgen zumeist verkatert und somit noch nicht in seinem Büro oder jedenfalls nicht in seiner Eingangshalle, die ihm auch als Empfang und Sekretariat diente. Es war kurz nach neun, als ich die gekreuzten Hellebarden passierte. Hinter einem weit geschwungenen Tresen aus Mahagoniholz versahen zwei Damen ihren Dienst. Eine davon, die ältere, kannte mich zwar flüchtig, aber ich hoffte, sie aufgrund der frühen Stunde überrumpeln zu können. Ich kam ja sowieso nicht wegen den albernen Gemälden. Vielmehr sagte ich, nachdem ich freundlich gegrüßt, meine Jacke in einen Ledersessel geworfen und mir unternehmungslustig die Hände gerieben hatte:

„Na – ist Silvio Brucinelli schon da?“

Sie blickten sich an. Dann sah die Ältere zwischen mir und ihrer Kollegin hin und her und murmelte: „Brucinelli? Heute? Hat er denn einen Termin mit dem Chef?“

Die Jüngere blickte in einen Terminkalender und schüttelte ihren Kopf: „Nicht daß ich wüßte. Hier steht auch nichts.“

„Hm“, machte ich und hob bedauernd meine Hände, „vielleicht habe ich mich geirrt ... Und der Chef selbst?“

Das Ganze wiederholte sich. Die Jüngere blickte erneut ins Buch und sagte: „Um 14 Uhr müßte er auf jeden Fall hier sein. Da hat er eine Besprechung mit einem Klienten. Waren Sie denn mit ihm verabredet?“

Ich winkte ab und griff nach meiner Jacke. „Es eilt nicht. Ich werde ihn am Nachmittag anrufen. Entschuldigen Sie bitte meine Tollpatschigkeit!“

Ich nickte grüßend und ging.


27

20 Minuten später klopfte ich an die Bürotür meines eigenen Chefs. Ich sah sofort, er war nicht gut auf mich zu sprechen. Kaum hatte ich meinen Morgengruß entboten, knurrte er hinter seinem Schreibtisch hervor:

„Wo hast du denn gesteckt, Danilo? In deinem Zimmer jedenfalls nicht!“

„Das stimmt. Ich hatte mir die Freiheit herausgenommen, auf dem Herweg bei Rechtsanwalt Marini hereinzu-schauen. Ich wollte es Ihnen gerade erzählen.“

Er ließ seinen Handrücken schnellen. „Unfug! Erzähle mir lieber, was das hier soll!“

Damit ließ er die Hand auf eine vor ihm liegende Zeitung fallen. „Warst du der Ansicht, unser Ruf hätte noch nicht genug gelitten?“

Er drehte die Zeitung zu mir und sah mich wütend an.

Nach dem ersten Schrecken konnte ich mir nur schwer ein Grinsen verkneifen. Es war die 24 sata, unsere größte Boulevardzeitung. Iris und ich hatten es auf die Titelseite geschafft. Das Farbfoto zeigte eine befriedigt lächelnde Iris an der Seitenbande eines Snookertisches. Ich selber zauste ihr gerade das Haar, weil sie mir jenen schon erwähnten gemeinen Snooker gelegt hatte. Über dem Foto stand in recht großen Lettern: „Zamirer Kriminalkommissar vergnügt sich mit Witwe des ermordeten Snookerstars.“

Die drei oder vier Unterzeilen Text ersparte ich mir. Ich entsann mich jetzt wieder an die Figur hinter der Küchen-tür – vermutlich hatte sie einen leistungsfähigen Foto-apparat dabei gehabt. Ich drehte die Zeitung wieder zum Chef und setzte mich unaufgefordert auf den Besucherstuhl.

„Sie dürfen das nicht überbewerten! In Deutschland oder gar in Frankreich sieht man die Dinge nicht so eng. Davon abgesehen, hat Frau Trögner möglicherweise nicht uner-heblich zur Aufklärung dieses Mordes beigetragen, denn sie war es, die mich mit der Nase auf den Umstand stieß, daß Kevin Slightons Manager Silvio Brucinelli italienischer Abstammung ist.“

Das war zwar gelogen, brachte mich aber in der Ausflucht weiter, denn der Chef fragte prompt: „Na, und wenn
schon ..?“

„Marini ist ebenfalls Italiener, wie Sie wissen.“

Ich erzählte ihm von meinen Überlegungen und vom Gespräch mit Marinis Angestellten, das keine halbe Stunde zurücklag. Ich schloß:

„Demnach hatten Marini und Brucinelli in jüngster Zeit Kontakt – hier in Zamir. Es ist natürlich nicht auszu-schließen, sie wurden nur durch sportliche oder lands-mannschaftliche Bande zusammengeführt, aber im Lichte meiner Theorie, die Sie ja kennen, wäre ich auch nicht verblüfft, wenn Marini dem Landsmann nun seinerseits Kontakte zur Unterwelt vermittelt hätte. An solche Gangster muß man erst einmal herankommen, zumal, wenn man kein Kroatisch spricht, wie vermutlich Bruci-nelli. Vielleicht war ihm Marini auch bei den finanziellen Transaktionen behilflich. Das war also der Grund für meine Verspätung.“

Er sah mich eine Weile zwiespältig an. Dann faltete er die heutige 24 sata zusammen und warf sie mit Schwung in seinen Papierkorb. Er seufzte und sagte:

„Die Sache mit Marini ist immerhin ein neuer Strohhalm. Ich habe für 10 eine Sitzung der Ermittlungsgruppe anberaumt – du machst mit. Wir werden dann erörtern, wie Marini weiter anzufassen wäre. Wahrscheinlich ist er ja jetzt vorgewarnt. Andererseits war das kaum zu ver-meiden. Der Trick war nicht schlecht, Danilo.“

Damit winkte er mich mit dem Handrücken aus seinem Zimmer. Ich ging aber erst, nachdem ich die 24 sata wieder aus dem Papierkorb gezogen hatte, was er mit dem Wort „eitler Fratz!“ kommentierte.


28

Zwar wurde der Mordfall aufgeklärt, aber die Verhaftung Marinis erlebte ich nicht mehr mit. Ich ging mit Iris nach Deutschland, wo wir die Pläne des Ermordeten die Provinz betreffend aufgreifen wollten. Bald kamen Fritz und Marica nach. Mit vereinten Kräften bauten wir in einem Städtchen in Thüringen einen Snookersalon, zudem einen Club auf, der den deutschen Ligabetrieb alsbald auf allen Ebenen kräftig durcheinander schüttelte. Alles lief zu unserer besten Zufriedenheit – bis zu jenem Dienstag, den sie später den Schwarzen nannten, weil sich durch ihn die Unternehmungslustigkeit der Welt, wieder einmal, erübrigt hatte.


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Fortsetzung hier
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