Mittwoch, 25. Juli 2012
Flußmusik Teil 2
ziegen, 21:07h
Der nächste Tag hielt zunächst Verdruß für mich bereit, gewährte mir aber im Laufe des Nachmittags einen uner-warteten Lichtblick. Kaum im Büro, eröffnete mir der Chef, ich müsse mich im Fall Mikulinez leider vorüber-gehend unterbrechen, weil dem Rechtsanwalt und Notar Marini – er sei vermutlich italienischer Abstammung – ein paar wertvolle Gemälde abhanden gekommen seien. Wie ich wüßte, sei mein Kollege Birac heute wegen der Beerdigung seines Großvaters außer Dienst. Deshalb müßte ich ran. Ich möge mich mit Zvonimir sogleich an den Tatort begeben.
Es lohnte kaum, davon zu sprechen. Bekanntlich verdienen gewisse Leute mit ihrer Redseligkeit, die sich durch eine mit Schlupflöchern durchsetzte Macchia von Paragraphen zu schlängeln versteht, ein Heidengeld. Marini, um 50 und bei jeder Hitze im Maßanzug, residierte sowohl geschäft-lich wie privat in einer alten Villa unweit des Bahnhofs, der in Zamir nördlich des Hafens lag. Er hatte die Zimmer-wände, soweit sie nicht getäfelt waren, mit Bildern gepflastert, die, einem Katalog zufolge, den mir seine Chefsekretärin vorlegte, von Tizian bis Rabuzin reichten. Jetzt waren sie weg, weil er in der Elektronikbranche auf die falsche Firma gesetzt hatte. Die nächtlichen Diebe hatten die Alarmanlage mattgelegt. Wie es der Zufall so wollte, war Marini selber auf einem Empfang unserer Bürgermeisterin gewesen, sodaß ihm die Chance genom-men worden war, die Einbrecher mit Hilfe der gekreuzten Hellebarden in die Flucht zu schlagen, die mir in der Eingangshalle seiner Villa aufgefallen waren. Obwohl sie ebenfalls an der weißgetünchten Wand hingen, also nicht etwa im Regenschirmbehälter staken, hatten die Diebe sie verschmäht.
Ich beneidete wieder einmal Zvonimir, der sich ja so gut wie nie mit seinen lästigen Artgenossen herumzuschlagen hatte. Während er Sensoren abstaubte, mit seinem Strom-prüfer in Schaltkästen stocherte und jeden Zentimeter der in Kopfhöhe verlaufenden Brüstungen aus 500 Jahre altem Eichenholz nach Fingerabdrücken oder Barthaaren absuchte, mußte ich mir die Prahlereien Marinis und die naseweisen Ratschläge seines Personals anhören. Wie sich versteht, prahlte der Herr Notar nicht wie ein Eseltreiber. Nein, er hatte eine erstaunlich ausgefeilte Technik entwickelt, mit der er seine umwerfenden Eigenschaften, Besitztitel, Verbindungen ins Gespräch einfließen ließ, als rühre er nur den Zucker in seinem Kaffee um. Übrigens war der Kaffee ganz vorzüglich. Schon allein mit solch einem Kaffee konnte man so manchen Esel aus dem Polizeipräsidium bestechen.
Kurz nach 14 Uhr hatte ich die Reihen der Zeugen durch-gehechelt. Da auch Zvonimir meinte, jetzt habe er die Schnauze von dieser erlauchten Irrenanstalt voll, luden wir seine Koffer und Geräte in den Kleinbus und trollten uns. Vor mir lag die berauschende Aussicht, einen Untersu-chungsbericht zu verfassen, Datenbanken zu durchwühlen, Museumsdirektoren zu beleidigen und die ach so kost-baren Gemälde Marinis in die Fahndung zu geben. Doch in Höhe des Hafens fiel mir etwas ein, das mir einen kleinen Aufschub gewähren konnte. Schließlich hatte ich noch keine Mittagspause gehabt. Ich fragte Zvonimir, ob er so nett sein könnte, einen Schlenker um den Dom zu machen, um mich am Waisenhausplatz abzusetzen. Er erwiderte, ich hätte ihn zwar in diesen öden Diebstahlsfall verwickelt, aber bekanntlich sei er nicht nachtragend. So bog er an der Ampel vorm Hafenkasino links ab Richtung Dom.
Mein Plan war es, mich in der Stadtbücherei nach einem bestimmten Buch zu erkundigen und mich dann, ob mit oder ohne Buch, in jedem Falle aber mit einem Fleisch-spieß und einer Eistüte bewaffnet, unter die schatten- und duftspendenden Robinien auf dem Waisenhausplatz zu setzen. Ich hatte Fritz gegenüber erwähnt, Schwierigkeiten mit meiner Bettlektüre zu haben. Weit davon entfernt, mich für die Anzüglichkeit dieser Bemerkung zu rügen, empfahl er mir daraufhin ein Sachbuch über das Flößen, das geradezu fesselnd geschrieben sei. Er arbeitete ja auf einem Floß. Das Buch stamme von einem Deutschen, sei aber schon mehrfach übersetzt worden, darunter in unsere Landessprache. Er besitze es nicht, habe aber Vedrana, Dejicas beste Freundin, davon überzeugen können, es in den Bestand der Zamirer Stadtbücherei aufzunehmen, und dort stehe es nun – sofern es nicht gerade ausgeliehen sei.
Und genau das war der Fall. Das Buch – es hieß laut Katalog Arnold Mulewitsch: Die Kunst des Flößens. Kulturgeschichte eines überflüssigen Handwerks – war gerade verliehen. Es wäre ein echter Grund für einen erneuten Absturz meiner Laune gewesen, aber wenn auch nicht das Buch, so war doch immerhin Vedrana da.
Ich hatte sie schon lange nicht mehr von so nahe gesehen. Bevor ich mich bemerkbar machte, beobachtete ich, von zahlreichen Buchrückenreihen geschützt, die allerdings einige Schießscharten boten, wie sie einem etwa 8jährigen Jungen, der irgendein anderes Buch mißtrauisch beäugte, eben dieses Werk erklärte, wobei sie ihm sogar ermun-ternd über die kurzgeschorene Rübe strich! Sie selbst hatte schwarzbraunes Haar, das ihren bloßen Nacken kitzelte. Sie trug ein ärmelloses geblümtes Fähnchen, von dem ich mir recht gut vorstellen konnte, wie es beim Tändeln durch die Wiesen (die wir in Zamir gar nicht hatten) weit ausschwang. Ihr Busen war sehr wahrscheinlich noch üppiger als der von ihrer besten Freundin, aber da sie im ganzen stämmiger gebaut war, fiel es nicht weiter auf. Ich mußte mich sehr zügeln. Mit ihrer wenig gebräunten, über weite Strecken sichtbaren Haut erinnerte sie an ein Butterfaß, in das ich am liebsten gleich einen Hechtsprung gemacht hätte.
Ich war noch nie in der Zamirer Stadtbücherei gewesen. Die ältere Dame, die mir am Empfangstresen die nieder-schmetternde Eröffnung hinsichtlich des gewünschten Werkes über das Flößen gemacht hatte, war, wie ich später erfuhr, offiziell die Leiterin der Bibliothek, aber in Wahr-heit wurde sie wohl eher – ich meine die Bibliothek – von Vedrana geschmissen. Als diese mitbekam, welcher hohe Staatsbeamte gerade ihre Arbeitsstätte beehrte, huschte ein halb verlegenes, halb spöttisches Lächeln an ihrer kräftigen Nase vorbei, bevor sie mir entgegen schritt. Ich erklärte ihr sowohl die Sache mit dem Buch wie mit der Mittagspause. Es zeigte sich sofort, wie patent sie war.
„Frau Simunovic, spricht etwas dagegen, wenn ich mich mit Danilo einen Augenblick auf den Waisenhausplatz setze?“
„Ach woher“, sagte sie, ohne überhaupt aufzublicken.
Vedrana zwinkerte und verschwand in einem Nebenraum. Als sie Sekunden später wieder daraus auftauchte, schwang sie eine Thermoskanne und zwei Henkelbecher in ihren Händen. Ich hielt ihr die Tür zur Vortreppe auf.
Die Thermoskanne enthielt Pfefferminztee mit Zitrone, der sich, weil er noch dampfte, recht harmonisch mit dem Duft der Robinien verband, die uns in der Tat vorzüglich beschatteten. Die knorrigen Bäume säumten den beinahe wimpelförmigen Platz, der bergab Richtung Bucht auslief, an den Längsseiten. Das hübsche, gelbgetünchte ehemalige Waisenhaus mit den blinkenden Schieferziegeln nahm fast den ganzen oberen Schenkel des Platzes ein. Der Sandstein des Brunnens, der in der Platzmitte ohne jedes Kinder-geschrei vor sich hinplätscherte, war schon von Jahrhun-derten angeschwärzt. Ich hatte meinen halb verkohlten Fleischspieß verdrückt; nun konnten wir uns endlich meinem Waffel-Eis widmen, das bereits, wie das Abwasser des Brunnens, den Platz hinunterzulaufen drohte. Vedrana hatte das Eis solange gehalten, dabei freilich schon unter koketten Seitenblicken an den schrumpfenden hellgrünen und rosafarbigen Bällchen genascht. Wir sprachen wenig, da wir ja immerhin mit Essen beschäftigt waren, oder eben mit dem Werfen von mehr oder weniger verstohlenen Seitenblicken.
Nachdem die Waffel zermalmt und mit Pfefferminztee begossen worden war, wollte Vedrana wissen, wie ich auf das Buch vom Flößen verfallen sei. Sie hatte eine eher helle, aber einschmeichelnde Stimme, obwohl sie, wie Dejica mir einmal versichert hatte, nicht singen konnte. Sie war Ende 20 und gelernte Buchhändlerin.
Ich erzählte ihr von meiner etwas heiklen Bekanntschaft mit Fritz. Sie riß ihre graugrün gesprenkelten Augen auf, nahm ihre Hand vor den Mund und kicherte in sich hinein, weil sie vielleicht die Mittagsruhe der AnwohnerInnen oder der Türkentauben auf den Dachfirsten nicht stören wollte. Es schien eine Neuigkeit für sie zu sein. Sie habe Dejica vor zwei Tagen das letzte Mal gesehen und gesprochen. Das konnte stimmen: vor zwei Tagen waren sie nachmittags Hand in Hand durch die Jüdengasse geschlendert.
Wer kannte sich schon in den Frauen aus? Neben Liubina, dem Messer aus Dubrovnik, fiel mir jetzt diese Zippi Dingsbums wieder ein, die Fritz erwähnt hatte. Ich fragte Vedrana, ob es in Israel eine so ähnlich heißende wichtige Dame gebe, möglicherweise eine Politikerin.
Ihre Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Tzipi Livni, ja. Sie zählte zu den Scharfmachern beim jüngsten Überfall der Israelis auf den Gazastreifen. Damals war sie Außenministerin. Sie sieht aus wie ein Engel, hat aber Haare auf den Zähnen. Vorher hatte sie für den berüch-tigten Mossad gearbeitet, Agentin. Wer weiß, wieviele PalästinenserInnen sie auf dem Gewissen hat, darunter nicht wenige Kinder. Aber vermutlich hat sie keins.“
„Was hat sie nicht?“
„Ein Gewissen.“
„Aber sie sieht gut aus?“
Sie zuckte ihre Achseln und musterte mein Gesicht recht kritisch. „Viele Männer dürften sie hübsch finden, ja. Und natürlich läuft sie nicht in so Lumpen herum wie ich.“
Selbstverständlich war mir sofort klar, daß sie auf ein Dementi lauerte. Aber ich beschränkte mich darauf, ihr geblümtes Kleidchen mit einem wohlgefälligen Blick nur eben zu streifen. Dann räusperte ich mich und erzählte ihr von Marinis Maßanzug und dem Kostüm seiner Chef-sekretärin, das wahrscheinlich selbst vor den Augen des Schahs von Persien Gnade gefunden hätte. Sie nickte grimmig und schien meine Abscheu teilen zu können. Da brach meine Disziplin zusammen. Ich ließ meinen Kopf an ihre bloße Schulter sinken, schloß die Augen und seufzte:
„Ach, Vedrana, die Welt ist beschissen. Die größten Arschlöcher und VerbrecherInnen bleiben ungestraft, solange sie sich nur in ihrem outfit nichts zu schulden kommen lassen. Vor Leuten wie uns oder gar Kescher ekeln sie sich.“
Dazu sagte sie nichts. Aber plötzlich spürte ich, wie sich ihre Hand auf meine Hand legte, um sie leise zu streicheln. Das hielt so an. Die Sekunden dehnten sich, die Minuten dehnten sich. Ich wagte meine Augen nicht zu öffnen. Über den Platz klapperten ein paar Schuhabsätze, vom Hafen her tutete ein Fahrgastschiff. Doch dann verschwand Vedranas Hand so jäh, wie sie gekommen war. Sie wand sich unter meinem Kopf weg, wodurch er auf die Bank-lehne glitt, sprang auf und sagte hastig:
„Ich muß wieder hinein, Danilo, ich kann Frau Simunovics Großzügigkeit nicht überreizen!“
Schon griff sie sich ihre Kanne und die Tassen, bot mir ein etwas verschämtes Abschiedslächeln und ging mit schnellem Schritt zur Bücherei zurück, ohne sich noch einmal umzusehen.
Die nächsten Stunden verbrachte ich in meinem Büro mit dem Fall Marini. Drohte ich die Computermaus durch Verwünschungen zu erschrecken, sah ich rasch auf den Ziegenmarkt hinaus, der sich sofort in den Waisenhaus-platz verwandelte. Um 19 Uhr 30 hatte ich den Eindruck, für heute genug getan zu haben. Ich verschwand im Keller, wo wir ein Duschbad hatten, und verließ das Präsidium anschließend, um schnurstracks zum Haus der Weißen zu gehen. Das waren keine fünf Minuten. Den Thekendienst hatte dieses Mal wieder Boris. Ich nahm einen Imbiß, trank einen Capuccino und setzte Boris über den neuen Charakter ins Bild, den inzwischen meine Beziehungen zum Snookersport und zum Clubhaus gewonnen hatten. Er gab mir mein Queue heraus und schlug mir als Gegner einen jungen Mann vor, der wie mein Polizeikollege Ante hieß. Kaum hatte ich mein Anliegen vorgebracht, baute dieser Ante die Kugeln auf, denn er hatte bis dahin nur mit Weiß und Schwarz trainiert. Er war weitaus schwächer als Fritz, und wir verstanden uns prächtig. Mein neues Queue schien sich über Nacht bei einigen anderen Queues in der Waffenkammer schlau gemacht zu haben. Nach rund zwei Stunden stand es 2:2. Im fünften Frame schraubte ich mein Highest Break auf 16. Ich verlor den Frame auf Pink, aber das machte nichts. Ich beglückwünschte Ante und verabschiedete mich.
Als ich die Fenster meiner Wohnung öffnete, war es schon nach elf. Unter mir wohnte eine schwerhörige Witwe. Das hatte seine Vor- und Nachteile. War ich gelegentlich tagsüber zu Haus, mußte ich ihr Fernsehprogramm mitverfolgen; abends dagegen konnte ich meine Musik voll aufdrehen, weil sie schlief wie ein Stein. Jetzt suchte ich nach einem bestimmten Stück, das ich mir einmal vor bald 15 Jahren auf CD gebrannt hatte. Ich hatte es ewig nicht mehr gehört. Ich setzte mich wie am Vorabend mit einer Flasche Bier auf den Balkon und wählte das Stück mit meiner Fernbedienung an.
Es war ein Schmachtfetzen. Immerhin war er nicht überladen, sondern so spärlich-geschickt arrangiert, daß ich auch nach 15 Jahren kein Sodbrennen davon bekam. Eine hohe, etwas durchdringende Frauenstimme jammerte zu funkigen Klängen, jeder Mensch brauche doch einen anderen Menschen, der ihn liebe. Das war alles. Mit diesem Stück, das You Might Need Somebody hieß, hatte Shola Ama, wie sie sich nannte, damals einen Hit gelandet. Es war ihr einziger geblieben. Womöglich war ich heutzutage zwischen San Francisco und Budapest der einzige Mensch, der sich noch an diesen Hit erinnerte. Aus schlechtem Gewissen über meinen schlechten Geschmack schob ich nach einigen Minuten Andachtszeit eine Cake-Platte ein und wählte dann vom Balkon aus John McCreas Version des Guitar Man an. Das war natürlich etwas anderes. Bei diesen beiden Stücken beließ ich es für heute.
Wieviele Leute mochten in dieser Minute, da unter mir die Katzen durch die Gärten und Hinterhöfe schnürten, welt-weit auf ihre Gitarren einschlagen? 250.000 mindestens. Sie alle träumten von ihrer Ausnahmestellung. Aber fast alle von ihnen würden den Weg Shola Amas gehen, näm-lich in die Müllcontainer der großen Musikproduktions-firmen. Der Kapitalismus lebte vom Eintagsfliegenge-schäft. Sichere Banken wie Eric Clapton, Dave Brubeck, Randy Newmann, die seit Jahrzehnten gute Arbeiten ablieferten, waren rar.
Allerdings wußte ich nicht, ob Brubeck noch lebte. Wenn ja, mußte er inzwischen um die 90 sein. Als junger Polizist, gerade in jener kurzen Hochzeit von Shola Ama, erlebte ich ihn einmal hier in Zamir. Da schlurfte er bereits am Stock auf die Bühne unseres Schauspielhauses, wo ihn ein beleibter Saxophonist und zwei jüngere Leute an Contra-baß und Schlagzeug sowie ein Konzertflügel erwarteten. Er lächelte freundlich und nahm auf dem Klavierhocker Platz, als habe er seinen Stock jäh verschluckt. Doch dann legte er los. Man hätte glauben mögen, die langen Finger des Greises wären ringsum an den Emporen zerschellt und den Leuten, darunter mir, in Gestalt von Kalk in die Schöße gerieselt, aber er hielt sein Tempo anderthalb Stunden durch und verließ den Saal so schlurfend, wie er ihn betreten hatte. Das Mädchen an meiner Seite war hinge-rissen – mehr von ihm als von mir. Zwei Wochen später „ging sie“ mit einem anderen.
Ich gähnte, brachte meine leere Flasche Bier in die Küche und verschwand im Bad. Beim Zähneputzen freute ich mich bereits aufs Bett. Zwar erwartete mich kein vielversprechendes Buch, aber die Geschichte, wie sich Danilo M. um eine neue Bettlektüre bemüht, war ja auch nicht schlecht.
Der Kollege Birac hatte die Beerdigung seines Großvaters heil überstanden, und so durfte ich den Fall Marini anderntags auf ihn abwälzen. Er las meinen Bericht, sprach 10 Minuten mit mir darüber und scheuchte mich mit einer Handbewegung aus seinem Büro. Ich ging sofort in mein eigenes Büro zurück und rief bei Liubina Suker an. Fritz hatte mir drei Telefonnummern von ihr gegeben. Ich erreichte sie auf der Festnetznummer ihrer Arbeitsstelle. Selbstverständlich wußte sie, wer ich war. Zudem war sie viel zu schlau, um Erstaunen oder gar Ärger über meinen Wunsch zu zeigen, sie zu sprechen. Sie wies mich nur darauf hin, sie sei eine vielbeschäftigte Frau, zumal heute Freitag sei. Wenn es mir so wichtig wäre, müßte ich mich bei ihr vorbei bemühen, vielleicht – ich sah sie mehr auf ihre Fingernägel als in ihren Terminkalender blicken – 10 Uhr 15 bis 10 Uhr 30?
Ich sagte zu. Im Moment war es 9. Ich drehte meinen Schreibtischsessel, legte meine Füße auf die Fensterbank und sammelte, während ich über die jenseits des Ziegen-markts gelegenen Dachfirste starrte, Stichworte für die geplante Unterredung, die ich mir brav in mein Notizbuch schrieb. Erfahrungsgemäß blickte ich äußerst selten in dieses Notizbuch. Aber durch das Notieren prägten sich die Punkte ein.
Nach einer halben Stunde rief ich Fritz an, weil ich Lust dazu hatte. Er war zu Hause, wie er sagte. Ich erzählte ihm von meinem Mißerfolg mit dem Buch übers Flößen. Statt mich zu trösten, zeigte er sich erfreut darüber, daß sich außer uns beiden noch ein dritter Mitbürger für dieses doch eher ausgefallene Werk interessiere. Im übrigen könne er mir zur Überbrückung irgend etwas anderes leihen. Er habe ohnehin den Gedanken gehabt, mich einmal in sein bescheidenes Häuschen einzuladen. Ob ich nicht heute abend schon zum Essen kommen wolle? Er fahre gleich hinaus nach Bujeka, mit dem Bus der Band, eben „zum Flößen“, aber laut Fahrplan träfen sie mit Speelmanns Floß gegen 18 Uhr wieder in Zamir ein, und dann habe er frei. Ob ich gegen acht bei ihm aufkreuzen wolle?
„Ja, gern! Aber finde ich das ohne Spürhund?“
Er beruhigte mich und gab mir eine Wegbeschreibung, die mir im Anschluß an das Telefongespräch von meinem Stadtplan als ziemlich korrekt und nachvollziehbar bestä-tigt wurde. Dann wurde es Zeit, zum Büro der Zamirer Grünen aufzubrechen.
Es lag in der Altstadt, übrigens gar nicht so weit von der Polsterei Vlasic entfernt. Das Geld für die deftige Miete hatten sie also, die Grünen. Genauer gesagt, lag das Büro über einem Porzellangeschäft in der Sankt-Laurentius-Gasse. Vom Treppenhaus aus stand man gleich im Hauptzimmer. Während ein schnauzbärtiger Mann in meinem Alter ebendort an seinem Computer sitzen blieb, von dem aus er auch das Telefon bedienen konnte, bat mich Liubina Suker in einen Nebenraum, der an einem kleinen Flur lag. Dieser Raum hatte einen runden Konferenztisch zu bieten. Die Fenster gingen auf die Gasse. Jenseits des Flures schien freilich noch ein Büroraum zu liegen, zudem eine schmale, offene Küche. Auf meine entsprechende Frage erklärte mir Suker, das Zimmer neben der Küche sei ihr „Chefbüro“, wo sie weniger abgelenkt sei. Ob sie mir einen Kaffee anbieten könne? Ich lehnte dankend ab. Sie ging trotzdem zur Küche, um sich selbst eine Tasse zu holen. Sie war eine kleine, drahtige, hübsche Person. Man konnte sich gut vorstellen, wie sie auf dem Kleiderschrank Vlasic hockte und ungehalten an seinem Schlips ruckelte, weil er sich wieder einmal zu störrisch zeigte. Sie kam zurück und schloß die Tür zum Flur hinter sich. Als sie mir dann mit ihrer dampfenden Tasse am Konferenztisch gegenübersaß, sträubte sich ihr roter Schopf – Fritz hatte ihn für echt erklärt – wirkungs-voll vor der Rauhfasertapete des Zimmers, die tatsächlich grün gestrichen war. Sie lächelte herausfordernd.
„Sie müssen entschuldigen, Frau Suker: die Polizei kommt nicht umhin, alle Personen zu befragen, die mit der verunglückten Frau Mikulinez näher zu tun hatten. Wie gut kannten Sie sie?“
„So gut wie gar nicht, nimmt man Brankos Erzählungen einmal aus. Aber sie war immer nett zu mir, wenn ich hin und wieder einmal oben war, um ihr Haar zu richten.“
„Ihr Haar zu richten?“
„Ich bin von Hause aus Frisöse.“
Ich staunte – wenn ich es mir auch nicht anmerken ließ. Vielmehr nickte ich: „Und sonst waren sie unten, also bei ihrem Freund?“
Sie sah mich mitleidig an. „Sind Sie nicht öfter bei Ihrer Freundin?“
Ich lächelte und legte meinen Zeigefinger an meine Lippen: „Dienstgeheimnis!“
Sie trommelte mit ihren gut gepflegten Fingernägeln auf die Tischplatte, Nußbaum furniert, schätzte ich.
„Und am Dienstag, dem Unglückstag, waren Sie nicht oben bei Frau Mikulinez?“
„Richtig.“
„Und wo waren Sie stattdessen?“
Sie zog unwirsch ihr Näschen kraus. „Was soll das heißen? Leben wir hier noch im Ostblock?“
Ich hob bedauernd die Hände. „Ich kenne Sie ja nicht, Frau Suker, muß mich folglich vergewissern, daß Ihre Angaben der Wahrheit entsprechen. Wo waren Sie also?“
Sie nickte hinter sich, wo nach meinen Berechnungen der Schnauzbart an seinem Computer saß, um die Kosten für einen neuen, vollklimatisierten Wahlkampfbus zu überschlagen. „Hier. Dafür werde ich schließlich bezahlt.“
„Wüßten Sie jemanden, der das bestätigen könnte?“
Sie wiederholte ihr Nicken. „Na, Ciril vielleicht. Er war ja gleichfalls hier.“
Ich erhob mich prompt, bat sie um einen Moment Geduld und ging nach nebenan. Ich mußte warten, bis Ciril einem jungen Mann mit Rucksack eine bestimmte Broschüre herausgesucht hatte. Nach dem Verschwinden des Jungwählers erklärte ich:
„Wir haben in Frau Suker eine wichtige Zeugin in einem Kriminalfall, den wir uns gerade zu lösen bemühen. Deshalb müßten wir wissen, wo sie sich am Dienstag zwischen 9 und 10 Uhr vormittags aufgehalten hat.“
„Na – hier!“
Er gab mir arglos, wenn auch etwas gelangweilt, nähere Auskunft. Das Büro öffne ja um neun. Liubina habe erst mittags Termine außer Haus gehabt. Sie habe sogar schon vor neun in ihrem Zimmer am Computer gesessen, weil sie einen wichtigen Vertrag mit einer Marketingfirma zu prüfen hatte. Ach ja, und um 9.30 habe es die Sitzung des Hafenausschusses gegeben, im Konferenzzimmer. Ich wüßte ja sicherlich: der Hafenumbau ... Die Ausschuß-mitglieder hätten natürlich Liubina ebenfalls gesehen.
„Aber Frau Suker nahm nicht an der Sitzung teil?“
„Richtig.“
„Und Sie selbst?“
„Ich schon.“ Er nickte auf die Eingangstür und erklärte: „Wir haben vorübergehend abgeschlossen und das Telefon in Liubinas Büro umgestellt.“
Ich nickte. „Und die anderen Türen – die vom Konferenz-zimmer und von Frau Sukers Büro – standen die auf?“
Jetzt wurde er doch ein wenig ungehalten, wie ich dem Wackeln seines Schnauzbartes entnahm. „Ja, wenn das so wichtig ist ... Sie waren natürlich zu. Man will ja in Ruhe arbeiten.“
„Wann wurde die Sitzung beendet, wenn ich das noch fragen darf?“
Er überlegte. „20 nach 10, würde ich sagen. Josip mußte ins Krankenhaus, weil seine Frau gerade ein Kind bekommen hatte. Ja, richtig: Liubina trug ihm noch Grüße an seine Frau auf.“
„Das heißt, als der Ausschuß auseinanderging, war Frau Suker nicht mehr in ihrem Zimmer?“
„Richtig.“ Er nickte auf einen Stahlschrank: „Sie stand hier, weil sie bestimmte Unterlagen suchte.“
Ich dankte Ciril und zog mich aus dem Hauptraum zurück. Mein Gott! seufzte ich dabei innerlich: Wenn es hart auf hart kommt, mußt du jedes Ausschußmitglied einzeln vorladen und 50 Minuten Gewäsch mit ihm durchkauen! Ich betrat das Konferenzzimmer. Da ich die Tür nicht geschlossen hatte, erübrigte es sich, Frau Suker solida-rische Grüße von ihrem Parteigenossen auszurichten. Sie stand am Fenster, wandte sich bei meinem Eintreten um und schenkte mir einen giftigen Blick. Man läßt Damen nicht warten. Es war umso schlimmer, als ich gar nichts mehr von ihr wollte.
„Ich glaube, daß ich Sie vorläufig nicht mehr weiter belästigen muß, Frau Suker. Nur das eine noch. Ich muß Sie bitten, uns zu benachrichtigen, falls Sie in der nächsten Zeit beabsichtigen, zu verreisen oder umzuziehen. Hier ist meine Karte.“
Ich legte sie auf den Tisch. Liubina hatte ihr Wut gezähmt. Sie sagte fast kokett: „Glauben Sie wirklich im Ernst daran, ich könnte mit dem bedauerlichen Sturz von Frau Mikulinez etwas zu tun haben?“
Schon verdarb ich es mir wieder mit ihr. Ich lächelte und erwiderte: „Ja – warum denn nicht?“
Sie raffte meine Karte vom Tisch, pflügte über den Flur und warf die Tür ihres Zimmers hinter sich zu.
Ich lugte um die Flurecke in den Hauptraum. Ciril sah mich jetzt doch etwas ungnädig an, weil ich seine Chefin verärgert hatte, die er wahrscheinlich nicht nur wegen ihres schwungvollen Einsatzes für Lokalpolitik und Lokalsport bewunderte. Davon, worum es im einzelnen ging, hatte er meines Erachtens keine Ahnung. Es interessierte ihn auch nicht. Wenn diesem Langweiler eins abging, dann Neugier. Ich sagte:
„Dürfte ich eben noch einmal Ihre Toilette benutzen, Ciril, ehe ich mich dünn mache?“
„Selbstverständlich“, sagte er und starrte wieder auf seinen Bildschirm. „Hinten links.“
Das hatte ich mir bereits gedacht. Günstigerweise lag die Toilette – die sich in einem schönen Duschbad befand – der schmalen, offenen Küche gegenüber. Die Küche zeigte, statt eines Fensters, eine verglaste Tür, die auf einen Balkon hinauszuführen schien. Ich sah Blumenkästen mit allerlei Nelken und Farnen. Ich betätigte die Toiletten-spülung und wandte mich wieder zum Hauptraum. Doch in Höhe des Konferenzzimmers tauchte ich blitzschnell zu dem runden Tisch, schlug Sukers Kaffeetasse, die gottsei-dank immer noch auf ihm stand, möglichst behutsam in ein Papiertaschentuch ein und ließ sie in eine Außentasche meiner hellen Leinenjacke gleiten. Schon kreuzte ich wieder vor dem Empfangstresen des Büros auf.
„Könnten Sie mir bitte die Namen und Anschriften der Ausschußmitglieder heraussuchen, Ciril, die von Ihnen selber eingeschlossen?“
Er tat es, und dann ließ ich ihn endlich in Ruhe.
Um einen Verdächtigten erkennungsdienstlich behandeln zu können – also auch seine Fingerabdrücke abzunehmen – bedarf es in der Regel der Einleitung eines Ermittlungs-verfahrens, wozu es wiederum unumgänglich ist, ihn in den Status des Beschuldigten zu erheben. Durch dies alles riecht er natürlich Lunte. Man könnte einwenden, Suker sei ja sowieso klar gewesen, daß wir sie auf dem Kieker hatten, aber die zeitraubende Umständlichkeit der ganzen Prozedur kam noch hinzu. Man muß die Beschuldigte erst vorladen, womöglich mit Judogriffen zu Boden werfen und so weiter. Es war einfacher, die Tasse mitzunehmen. Zvonimir hatte schon Fingerabdrücke von der Fahrertür eines Porsches abgenommen, während ich auf der anderen Wagenseite mit dem Besitzer des Porsches stand, um ihn mit Fragen nach seinem Alibi zu nerven. Keine Woche später konnten wir nachweisen: die Fingerabdrücke von der Porschetür stimmten mit denen auf der Tatwaffe überein. Es waren natürlich die Fingerabdrücke des Porschebesitzers.
Die Schaufenster des Porzellangeschäfts nahmen auch noch einen Teil der Hausdurchfahrt ein. In dieser lag der Eingang zum Treppenhaus. Als ich nun dort wieder aus dem Haus hervorkam, begab ich mich zum Ende der Durchfahrt, um einen Blick in den Hinterhof zu werfen. Er hatte neben einigen geparkten Autos sogar einen Grün-streifen mit Gartenstühlen zu bieten. Außerdem gab es am Haus eine schmale Holztreppe, die zu den Blumenkästen mit den Nelken und Farnen hinaufführte: auf die Galerie des grünen Parteibüros. Bekanntlich war diese Galerie von oben her durch die verglaste Küchentür zu betreten. Das Porzellangeschäft dagegen hatte nur eine Tür zum Hof aus Stahl, und die beiderseits gelegenen vergitterten Fenster sahen nach Lagerraum, Toilette und so weiter aus. Ich ließ die Szenerie einen Augenblick auf mich wirken. Dann sah ich auf meine Uhr: es war kurz vor 11. Ich verließ das Grundstück und schob mich auf der sonnenhellen, gutbesuchten Sankt-Laurentius-Gasse, von Gesprächs- und Gelächterfetzen umweht, recht gedankenversunken an den Schaufenstern und Hundehaufen Richtung Domgasse vorbei.
Es wäre vielleicht witzig gewesen, wenn mich aus einem dieser Schaufenster ein Plakat mit Schnauzbart Ciril angelächelt hätte, der sich gerade für die Stadtverord-netenversammlung oder wenigstens den Gesundheits-ausschuß des Vorbereitungstreffens zum 20. Jahrestag der Bürgerinitiative Hundefreies Domviertel empfahl. Aber den Gefallen tat mir der Zufall nicht. Vielmehr erblickte ich im Schaufenster einer Musikalienhandlung ein mir wohlbekanntes Plakat der vierköpfigen Musikgruppe Dux 4. Der Vordergrund wurde im wesentlichen von einer Marimba eingenommen, unter der sich freilich, Kinn auf den angezogenen Knien, ein Glanzlicht der Adriaküste verbarg. Mir wurde weh ums Herz. Dejica guckte ausnehmend keck, und wer zudem ihre niedrige Position auf dem Plakat und den Schwung ihrer Waden bedachte, die ja keineswegs kerzengrade waren, sodaß sie dem Betrachter trotz der aneinander gepreßten Knie gewisse dunkle Durchblicke gewährten – man hätte ihr oder der ganzen Bande Verführung von Minderjährigen vorwerfen können. Über dem Lockenkopf des Contrabassisten stand fett der Gruppenname, in den er gleichsam mit seiner Linken hineingriff. Der Untertitel Tango aus aller Welt quoll aus dem Ohr des Oboisten. Dem Trommler dagegen hatten sie nichts angetan. Wie dem Terminzettel des Plakats zu entnehmen war, trat das Quartett in zwei Wochen auf unserer Seebühne auf. Das war ohne Zweifel ein Aufstieg. Auf den Rängen vor der in einem Hafen-becken gelegenen Seebühne hatten immerhin 6.000 ZuschauerInnen Platz. Brubeck hatte nicht auf der Seebühne gespielt. Allerdings war es damals Winter gewesen. Und dieser Triumph Dejicas sollte nun ohne mich stattfinden?
Ich riß mich los und summte Teile aus Newmans Mama told me not to come, während ich den Kaufseligen auswich, die mir in der Domgasse entgegenkamen. Der Contrabassist hatte das schmissige Stück nicht übel auf die Gruppenbesetzung getrimmt. Er hatte die Spliter Musik-akademie absolviert, Fach Komposition eingeschlossen, und pflegte alle Dux-4-Stücke zu schreiben oder zu arrangieren. Die Gruppe spielte ausschließlich Instrumen-talmusik. Dem Tango stand sie in der Tat nahe, aber Dejica erklärte mir einmal, zwischen New Orleans und Klezmer fände sich wahrscheinlich kein Musikstil, den Grübchen – das war der Contrabassist – nicht verwurstet hätte. Es gibt nichts Neues auf der Welt, zitierte sie sogleich Grübchens Lieblingspredigt, die wiederum von John Mayall stammte. Man erfinde, indem man nachahme. Irgendwann habe man sich so viele Stile und Kniffe angeeignet, daß man nicht mehr wie ein anderer Musiker oder eine andere Band klinge. Ich sagte zu allem Ja und Amen, weil ich sie schließlich abgöttisch liebte.
Bei der Taverne Admiral angekommen, genehmigte ich mir einen Capuccino. Der Kellner, der ihn mir auf die Gasse brachte, war derselbe, der am Dienstag vormittag im Dienst gewesen und nach dem Balkonunglück bereits von mir befragt worden war. Mit entsprechendem Lächeln eines Eingeweihten hatte er mich begrüßt. Jetzt zahlte ich, wobei ich großzügig aufrundete, hielt ihn jedoch am Westenzipfel zurück und zeigte ihm meine gewölbte Innenhand, in der ein Farbfoto klemmte:
„Haben Sie diese Frau am Dienstag vormittag bestimmt nicht gesehen? Von hier aus? Überlegen Sie bitte ganz genau!“
Er kraulte sich ausgiebig in seinen langen, schwarzen Koteletten, während er mal auf das Foto, mal auf das Haus gegenüber starrte. Aber schließlich schüttelte er den Kopf:
„Ich wüßte nicht, Herr Kommissar. Ich kenne das Mäuschen natürlich, aber am Dienstag vormittag – nein. Nichts zu machen.“
Ich dankte ihm und steckte das Foto wieder ein, ehe ich nach meiner Tasse griff. Er hob bedauernd die Arme und ging zu einem Nachbartisch. An diesem hatten sich zwei englisch sprechende ältere Damen niedergelassen, die wahrscheinlich selbst bei fehlendem Geländer nicht auf Frau Mikulinez' Balkon gepaßt hätten, so fett waren sie. Ich überlegte, was sich wohl Branko Vlasic denken würde, wenn er unten auf der Gasse einen Strolch sitzen sähe, der fremden Leuten das Foto seiner Freundin zeigte. Es war ein Ausschnitt aus dem Mannschaftsfoto von Zeder Zamir, das sich erfreulicherweise auch im Internet gefunden hatte. Zvonimir bearbeitete es und druckte mir das Ergebnis aus.
JägerInnen wissen es: ein Fuchsbau hat immer mehrere Ausgänge. Ich überquerte die Gasse, tauchte in die Durch-fahrt und dann in den Hof. Mein Blick glitt über die umlaufende Mauer. Selbstverständlich besaß sie nirgend-wo eine Tür; eine solche wäre mir schon früher aufgefallen. Die Feuerleiter kam auch nicht als Anmarsch- oder Fluchtweg in Frage, weil die Gefahr viel zu groß war, von der benachbarten Vollbusigen gesehen und versohlt zu werden. Die Mauer überragte mich im Schnitt um einen halben Meter. Einer kleinen Person konnte es durchaus gelingen, sich in ihrem Schutz zu der Badewanne mit den Tomaten zu schleichen, ohne vom linken Nachbarhof aus bemerkt zu werden. Vom rechten Nachbarhof drohte keine Gefahr, weil das fensterlose Stallgebäude dem Wohnhaus die Sicht versperrte. Der ansteigende, schmale Hof verjüngte sich zur rückwärtigen Mauer hin, über der sich, in sehr geringem Abstand, die Felsen erhoben. Der Hof war ungefähr 20 Meter lang. Die Badewanne stand unmittelbar an der rückwärtigen Mauer, denn so nutzte sie noch den letzten Sonnenstrahl für die kostbaren Tomaten aus. Das Wohnhaus der Frau Mikulinez lag ja im Westen. Die Badewanne nahm fast die ganze Breite des Hofes ein. Ein sportlicher Mensch konnte sie als Treppe benutzen, um sich mit Hilfe einer Kiefer, die zur Linken vor den Felsen stand, auf die Krone der Mauer zu stemmen. Wahrscheinlich konnte ihm die Kiefer auch helfen, sich jenseits der Mauer wieder hinabzulassen. Selbst wenn er in diesem Moment des Überstiegs von vorn her beobachtet werden sollte: zu erkennen wäre er kaum.
Nun hätte es mich natürlich interessiert, wie es auf der anderen Seite der Mauer aussah. Wer wußte schon, ob man nicht in einem Ölfaß oder zumindest im aufge-sperrten Rachen eines Dobermanns landete, sobald man sich aus der Kiefer fallen ließ. Aber ich konnte es leider nicht darauf ankommen lassen. Nicht, daß mir mein heller Sommeranzug zu schade gewesen wäre – vielmehr hatte ich die winzige Chance zu beachten, hier könnten sich womöglich Spuren des gesuchten Mörders finden. Wenn ja, wären sie durch meine Probe unter Umständen beschädigt oder vernichtet worden.
Ich zog mein Handy und unterhielt mich mit meinem Chef, während die Tomaten in der Sonne funkelten und sich Vlasic, auf der anderen Hofseite, hinter seinen Gardinen unter Umständen schwarz ärgerte. Dagegen war nichts zu machen. Die geplante Untersuchung ließ sich schließlich nicht klammheimlich nach Mitternacht durchführen. Ob Fluchtgefahr bestand, wagte ich ohnehin zu bezweifeln.
Der Chef befürwortete meinen Plan und sagte sogar, Zvonimir sei sofort abkömmlich. Ich möge mich nicht von der Stelle rühren.
Leider konnte ich mich auch nicht auf dem Rand der Badewanne niederlassen, aus den erwähnten Gründen. So ging ich zu den Mülltonnen, die an der Rückwand des benachbarten Stallgebäudes standen. Neben Handy, Kamera und Notizbuch führte ich stets einen Stadtplan mit mir. Es war nur ein gefaltetes Blatt. Ich breitete es auf den Mülltonnen aus und studierte das Domviertel.
Die Höfe auf der Ostseite der Domgasse stießen in der Tat überwiegend vor die Felsen, nur in unterschiedlichem Abstand. Offizielle Wege schien es da nicht zu geben. Aber immerhin führte nicht weit von hier ein Stichweg durch die Höfe, der die Felswildnis mit der Domgasse verband. Vielleicht war er eine Errungenschaft der sehr kampfes-lustigen Zamirer Hundelobby. Keine 20 Meter von der Stelle, wo er in die Domgasse mündete, ging auf der Westseite die Sankt-Laurentius-Gasse ab. Ich prägte mir die Angelegenheit ein.
Als ich den Plan wieder in meiner Jacke verstaut hatte, war Zvonimir leider immer noch nicht da. Ich schwang mich auf die Mülltonne, die mir am stabilsten schien, ließ die Beine baumeln und gab mir redlich Mühe, nicht an meine gestrige Mittagspause zu denken, die ich in Gesellschaft von Pfefferminztee und einer mich scheu liebkosenden Hand verbracht hatte. Oder überschätzte ich die Scheu? Weil sie sich so jäh losgerissen hatte? Nun ja, sie war im Dienst gewesen (wie ich), das durfte man nicht vergessen. Was hätte sie anders machen sollen? Hätte sie mir jubelnd gestehen sollen, schon immer in ihrer engen Freundschaft mit der Frontfrau von Dux 4 habe sie deren bei der Polizei beschäftigten Liebhaber heimlich glühend verehrt, und jetzt sei es wirklich an der Zeit, dieser öden Bibliothek den Rücken zu kehren und Frau Kommissarin zu werden? Das war alles Unfug. Ich hatte von dieser Glut nie etwas bemerkt – und jetzt hatte ich schon wieder vor soge-nannten bürgerlichen Ansprüchen, die mich in Fesseln schlügen, Angst, sobald mich auch nur eine weibliche Fingerkuppe wie ein Windhauch streifte. Es war absurd. Denn in Wahrheit sehnte ich mich ja nach einem Unter-schlupf, den mir die Künstlerin Dejica nie hatte bieten können. Sie waren ein ungleiches Paar, Dejica und Vedrana, sie ergänzten sich hervorragend. Warum bildeten sie nicht ein Liebespaar?
Vielleicht sollte ich Fritz warnen, wenn ich ihn heute abend sah. Vielleicht sollte ich einmal schildern, wie Dejica – ich hörte Motorengeräusch, die Durchfahrt verdunkelte sich. Ich mußte meinen außerdienstlichen Gedankengang unterbrechen: Zvonimir traf ein.
Der von Felsen und Sträuchern durchsetzte Hang hinter den Höfen war recht unwegsam, aber von einem halbwegs trainiertem Polizisten doch zu bewältigen. Nur das geräuschlose Anpirschen gewährte er mir nicht, weil überall trockene Zweige, Kiefer- oder Pinienzapfen und verrostete Bierdosen lagen. Das heißt, Zvonimir wußte um kurz vor eins genau, wer ihn von der anderen Seite der Hofmauer aus „unvermutet“ bei der Arbeit störte. Ohne ihn sehen zu können, sagte ich:
„Und – wie ist die Lage? Wie heißt der Täter?“
„Sehr witzig“, gab er zurück. „Sylvija Gotovina vielleicht.“
Ich grinste. Das war unsere Bürgermeisterin. Er konnte sie nicht leiden. Ich sagte:
„Was mich angeht, ist mir leider nichts untergekommen, keine verlorene Geldbörse, kein zerbrochener nordic-walking-Stock und so weiter. Hier, wo ich gerade stehe, sehe ich auch nichts.“
„Ich habe bislang ein Papiertaschentuch und vielleicht ein paar brauchbare Fingerabdrücke gefunden, auf den Ziegeln der Mauerkrone.“
„Wie lange brauchst du noch?“
„Keine Viertelstunde.“
„Gut, dann sprinte ich jetzt zurück, ich will mal die Anmarschzeit messen. Ich bin in einer Viertelstunde bei dir.“
Er brummte nur.
Meine Armbanduhr besaß eine Stoppvorrichtung, die ich nun auslöste. Dann ging ich zügig, aber keineswegs überhastet, wieder zum Stichweg zurück und über diesen bis zum Parteibüro der Grünen in der Laurentius-Gasse. Ergebnis: Knapp sechs Minuten.
Auf dem Rückweg zur Domgasse vermied ich es, der Marimbaspielerin auf dem Plakat in die Augen zu blicken. Das fiel mir nicht schwer, weil ich dauernd Liubina Suker vor mir sah. Völlig unabhängig von der Frage, wer nun Frau Mikulinez tatsächlich in den Tod gestürzt habe, falls es kein Selbstmord war – eine Karriere bei Zeder Zamir konnte ich mir abschminken. Denn Liubina Suker haßte mich. Schon ein harmloses Trainingsspiel zwischen mir und ihr war undenkbar. So hatte ich keinerlei Aussichten auf einen Platz in der Ersten Mannschaft – es sei denn, ich brächte das Messer aus Dubrovnik demnächst ins Gefängnis. Ich traute ihr sogar zu, sich tätlich an einem ausgebildeten Polizisten zu vergreifen; womöglich wäre ich deshalb gut beraten, wieder einmal in meinen Bürosafe zu greifen, um meine Dienstwaffe hervorzuholen.
Auf der anderen Seite war mir durchaus klar, dies alles könne purem Wunschdenken und verborgenen Vorurteilen entspringen. Vielleicht hatte auch ich Liubina Suker nicht leiden können – schon auf Anhieb nicht, als ich sie nur auf dem Mannschaftsfoto erblickt hatte. Da steckt keiner drin. Ich habe mich schon in Dingen, bei denen ich vor Gericht auf meine Lauterkeit fünf Eide geschworen hätte, bei Vorurteilen ertappt. Man kann sich als Kriminalbeamter immer nur wieder ermahnen, nicht zu vorschnell, einseitig, betriebsblind zu urteilen und zu verfahren. Aber in diesem Fall hatte ich die mageren Alternativen zu der von mir bevorzugten Theorie schon mehrmals umgewendet, ohne auf den Geschmack zu kommen. Eine Tötung im Affekt, etwa durch Einbrecher oder durch Vlasics dürre Nichte, war sehr unwahrscheinlich. Das Haus mußte das entscheidende Motiv sein. Vlasic wußte sehr wahrschein-lich, er würde es erben, aber genauso sicher konnte er sich sein, dies würden sich auch andere sagen. So dumm war er nicht. Der erste Verdacht würde auf ihn fallen. Deshalb benötigte er ein echtes Alibi – und er hatte es ja auch. Daran war nicht zu rütteln. Blieb also eigentlich nur Suker, deren Alibi wir im Augenblick zu durchlöchern suchten. Ihre Motive wiederum konnten wir nicht kennen. Vielleicht träumte sie davon, in Frau Mikulinez' Haus, anstelle der Polsterei, eine schicke Nachtbar oder das neue Büro der Orangenen einzurichten, von denen natürlich sie die Spitzenkandidatin wäre. Aber sie hatte keineswegs die Gewähr, von Kleiderschrank Vlasic ewig auf Händen getragen zu werden. Vielleicht gelang es ihr, Vlasic das Haus juristisch unanfechtbar abzuluchsen, aber dann würde er auspacken. Da hätte sie schon wieder jemanden zu beseitigen. Wenn ich es genau bedachte, war Suker zwar sicherlich kaltblütig, aber keine große Strategin. So schätzte ich sie ein. Sie handelte impulsiv, immer aus den jeweiligen Erfordernissen heraus. Sie tat es, weil sie sich selber – ihre Fähigkeiten, ihre Schlauheit, ihre Schlag-fertigkeit – maßlos überschätzte. Sie war eitler als Marini.
So ähnlich trug ich es auch meinem Chef vor, nachdem ich mit Zvonimir wieder ins Präsidium gefahren war. Ich saß ihm in seinem Büro im Besucherstuhl an seinem Schreibtisch gegenüber. Er dachte bald eine Minute über meinen Vortrag nach, während er mit einem Teelöffel die Krümel der bereits vertilgten Käsetorte hin und her schob, als könne er sie dadurch, wie nordeuropäische Kinder es im Winter mit Schneebällen tun, zu fetten Rädern oder wahren Felsbrocken aus Käsetorte auffüttern. Schließlich sagte er:
„Demnach hälst du die Fluchtgefahr für gering? Vlasic will die rote oder grüne Maus nicht im Stich lassen, und diese selber ist viel zu klug, aber vor allem viel zu selbstgefällig, um sich durch Abhauen eine Blöße zu geben und Hohn und Spott zuzuziehen. Ist es so?“
„Ganz genau“, sagte ich und staunte wieder einmal über seine unschulmeisterliche Art und zudem über seinen Scharfsinn. Er ließ seine Leute denken und reden und legte ihnen dann auch noch die Schlußfolgerungen in den Mund.
„Prosinecki hat sich nämlich um Mittag bei mir erkundigt, ob Fluchtgefahr bestünde und ob Haftbefehle winkten. Sie möchte natürlich wie immer, daß die Sache so schnell wie möglich vor Gericht kommt. Ich bilde mir allerdings ein gehört zu haben, der ehemalige Gatte der verstorbenen Frau Mikulinez, der höhere Postbeamte also, sei sogar um zwei oder drei Ecken mit Prosineckis Vater verwandt gewesen.“
Ich lächelte. Prosinecki, eine gepflegte Dame um 40, war die Staatsanwältin. Ob sie deutlich geringer als Suker karrieresüchtig sei, konnte man, wenn man sie näher kannte, stark bezweifeln. Ich erwiderte:
„Da haut keiner ab! Nicht in diesem Fall.“
Buchstäblich genommen, sollte ich mich in dieser Vorhersage freilich täuschen.
Wie es aussah, hatte sich Sportskameradin Liubina von meinem Besuch im Parteibüro nicht aus ihrem Trainings-konzept bringen lassen. Als ich kurz nach 16 Uhr das Haus der Weißen betrat, ging sie an Tisch Sieben wie ein vollautomatisches Klappmesser über der Längsbande auf und nieder, um die Roten, die sie auf der Spot-Linie aufgefädelt hatte, in Blitzesschnelle allesamt in die Taschen zu schießen. Für mich blutigen Laien war es fast unglaublich. Die Weiße stand immer goldrichtig, und Suker traf jeden Ball. Es war aber auch für mich als Kriminalkommissar kaum glaublich, wußte sie doch genau, daß ich ihr vom nächstgelegenen Pfeiler aus zuschaute. Sie streifte mich nur mit einem mitleidigen Lächeln, holte die Roten aus den Taschen, fädelte sie wieder auf – und vernichtete sie so gekonnt und so hurtig wie zuvor. Wie kam man nur zu solch einer Nervenstärke? Sobald ich sie im Kittchen hatte, wollte ich sie einmal nach ihrer Kinderstube fragen.
Während ich mir von Zamirsteigtauf mein Queue, einen Satz Kugeln und einen Campari mit Bananensaft geben ließ und mich mit dem ganzen Krempel zu Tisch 12 begab, fiel mir angesichts des rotbeschopften Klappmessers Zarko Petans hübscher Aphorismus ein, mit leerem Kopf nicke es sich leichter. Sie hatte ja auch erwähnt, gelernte Frisöse zu sein. Vielleicht war ein Mensch, als Faustregel genommen, tatsächlich umso anpassungsfähiger und skrupelloser, je dümmer er war. Oder je ungebildeter, wie man vielleicht besser sagte. Einblicke in die tieferen Zusammenhänge des menschlichen Miteinanders weckten doch allerlei Bedenken. Man ahnte, alle Menschen seien ähnlich unvollkommen beschaffen und nahm sich deshalb nicht mehr ganz so wichtig. Gewiß war die Klugheit der Hohlköpfe nicht zu bestreiten, den wohlrasierten Schädel von Notar Marini eingeschlossen, aber wahrscheinlich handelte es sich mehr um das Geschick, alle Leute und Gegebenheiten vor den eigenen Karren zu spannen. In der Klugheit der Hohlköpfe triumphierte der Eigennutz. Dazu hätte mein Chef vermutlich gesagt: Völlig richtig, aber zäume dieses Pferd einmal von hinten auf, dann stimmt es nicht mehr! Mit anderen Worten: Ein Übergewicht an gebildeten Köpfen stellt noch lange keine Garantie für den Triumph des Gemeinwohls dar. Das war übrigens auch Dejicas Ansicht, obwohl sie es niemals so geschliffen ausgedrückt hätte. Von der ganzen „Weltverbesserei“, wie sie es nannte, hielt sie nichts. Jeder kehre vor seiner eigenen Tür, das war ihr Wahlspruch. Vielleicht träfen sich die Besen dann auf der Gassenmitte. Sie dachte immer in Bildern, und deshalb machte sie Musik.
Ich stellte mir zunächst die schlichte Aufgabe, die Weiße auf der Spot-Linie – die Liubina mit Roten gepflastert hatte – vom Anstoßkreis aus über die Kopfbande möglichst zielgenau hin- und zurücklaufen zu lassen. Sie sollte also diese (gedachte) Linie nachziehen und dabei wieder im Anstoßkreis landen. Schon das war schwer genug. Nach-dem es mir einige Male gelungen war, verlieh ich der Weißen linken oder rechten Seiteneffet, sodaß sie nach dem Zusammenprall mit der Kopfbande entweder in Nähe des Grün- oder des Gelbspots landete. Durch den Seiten-effet bekam sie an der Bande einen „Ausbruchsdrall“, lief also nicht schnurgerade, vielmehr in mehr oder weniger spitzem Winkel zur Spot-Linie ins D zurück. Keine drei Minuten, und ich hatte das rothaarige Objekt meiner kriminalistischen Begierde vergessen. Ich übte auch Zugbälle, die eine ähnliche Auswirkung wie die Bälle mit Seiteneffet hatten, nämlich den Abprallwinkel der Weißen zu verändern, in diesem Fall: zu verengen. Außerdem machen sie die Weiße schneller, verlängern also ihren Weg – es sei denn, man setzt den Unterschnitt sehr weich oder sehr hart an. Im zweiten Fall wird aus dem Zug- ein Stoppball. Dies alles war selbstverständlich kein Selbstzweck. Es waren Hilfsmittel, um die Weiße genau dort hin zu bekommen, wo man sie für den nächsten Stoß brauchte. Dem guten Spieler gelang es sogar, rote oder andersfarbige Kugeln, die er eigentlich gar nicht anspielen durfte, so zu beeinflussen, daß auch sie günstiger als vorher lagen. Snooker war wie Schach ein Spiel, in dem einer umso erfolgreicher war, je mehr Züge er vorausplanen und vorbauen konnte. SpielerInnen wie Suker dachten stets in Breaks um 20 voraus. Jetzt hatte ich doch wieder an sie gedacht. Und ich hatte mir erneut selbst widersprochen. Oder hatte ich kürzlich nicht behauptet, Liubina Suker denke immer nur an den nächsten Schritt, weil sie sich einbilde: ach, egal, was da kommen mag, das kriegen wir schon hin?!
Ich ging auf das Angebot eines Dicken um 50 ein, der mir ein kleines Match vorgeschlagen hatte, sobald ich vom Training genug hätte. Auf mein Handsignal hin hängte er seine piekfeine Anzugjacke an den Garderobenständer neben der Bar, ließ sich sein Queue geben und krempelte sich, während er auf meinen Tisch zustrebte, sogar die Ärmel seines untadelig weißen Hemdes auf, wobei er den Queukoffer, verständlicherweise, unter den Achseln eingeklemmt hielt. Da mußte ich doch unwillkürlich an meinen Schulterhalfter denken, den ich so gut wie nie zu benutzen pflegte. Wir schüttelten uns die Hände, und ab ging die Post. Wie sich herausstellte, war er Schlagzeuger, also Paukenrührer, im Zamirer Philharmonischen Orchester, und nicht erheblich stärker als ich. Wir gaben uns einige Fingerzeige und unterhielten uns ausgezeichnet. Er gewann 3:2. Mein neues Highest Break: 23.
Fritz' Aussicht war der von meinem Dachbalkon um einige Walfischlängen überlegen. Man konnte sogar die Insel Cres sehen. Wir saßen im Schatten einer alten Kastanie vor seinem Häuschen und ließen uns die Forelle schmecken, die er gebacken hatte. Weiter unten standen Olivenbäume, die noch knorriger als die Robinien auf dem Waisenhaus-platz waren. Der Dom von Zamir war zu einem Latrinen-häuschen geschrumpft. Ringsum lagen Weingärten, wobei allerdings schon bald hinter Fritz' Häuschen die Macchia überhand nahm. Immerhin hatte diese unter anderem kleine hellblau blühende Sträucher zu bieten, die ich zunächst für deutschstämmige Tannenbäumchen hielt, als Fritz sie mir von einem Zimmerfenster aus zeigte. Ihre zerkrümelten „Nadeln“ brannten gleichsam in der hellen, würzigen Soße, die er den Forellen zum Troste geschaffen hatte. Es waren Rosmarin-Sträucher. Einen Steinwurf entfernt zur Rechten sah man die trutzigen Mauern und Giebel des Weingutes, von dem Fritz diesen Streifen Land gepachtet hatte. Von dort her bezog er auch Wasser und Strom, wie er mir eben beim Schmausen berichtet hatte. Ich wollte wissen, ob er dies alles vor sieben Jahren schon so vorgefunden hätte.
„Ach woher!“ schlug er nach einer Mücke, die ihn ärgerte. „Das Häuschen war eine Ruine, die Wasserrohre nach drüben hatte ich frisch einzubuddeln, und in der Nacht besorgten es mir Kakerlaken oder Skorpione, von denen ich nicht das geringste wußte.“
Er wischte sich das Fett aus seinen blonden Bartstoppeln, zwinkerte mir zu und nickte zur Bekräftigung, damit ich ihn nicht für einen Aufschneider hielte.
„Du hast in der Ruine übernachtet?“
„Ja. Ich wollte so schnell wie möglich fertig werden und hatte die Wohnung, in der ich gemeinsam mit Ivanka gehaust hatte, sowieso schon gekündigt. Ich arbeitete wie ein Besessener. Mein Wasser holte ich damals in einem Kanister von dem Brunnen am Waisenhausplatz. Es war ein 5-Liter-Kanister, der in meinen Rucksack paßte. Kennst du den Brunnen?“
„Allerdings“, sagte ich.
Ich glaube, ich wurde sogar etwas rot dabei. Aber natürlich verlor ich kein Wörtchen über eine Vedrana, zumal er gerade seine tödlich verunglückte frühere Gefährtin erwähnt hatte. Ich sagte:
„Ich sitze da ganz gern. Trügt mich mein Gedächtnis nicht, steht an dem Brunnen freilich auf einem weißen Schild-chen Kein Trinkwasser.“
Er winkte ab. „Darauf darfst du nichts geben. Das schrei-ben sie nur hin, weil sie ihre berüchtigten Vorschriften und ihren Hygienefimmel haben. Das Wasser kommt aus der Macchia und ist tadellos. Ich habe es mindestens sechs Wochen lang getrunken – auch unabgekocht.“
Ich glaubte es ihm ja. Er sah nicht wie ein vom Tode gezeichneter Mann aus, wenn er sich so seine Stoppeln rieb. An seinem Küchenherd waren mir auch erstmals seine Bewegungen aufgefallen, nicht etwa schon früher am Snookertisch. Obwohl er groß war, zudem athletisch gebaut, pflegte er sich sozusagen unauffällig zu bewegen. Man merkte kaum, daß er sich bewegte. Seine Bewegungen waren zugleich gemessen und flüssig, als könne es nicht anders sein. Vermutlich war er nicht umsonst Tänzer geworden. Beim Kochen hatte er mir, aus dem Gespräch heraus, urplötzlich eine Pantomime vorgeführt, bei der er wie ein Dieb eine Wendeltreppe erklomm, die es in seinem Häuschen gar nicht gab. Es war verblüffend. Als ihm auf der letzten Stufe, ehe er den Türgriff erreicht hatte, ein Fehltritt unterlief, hatte ich wirklich für Sekunden Angst, er fiele die Treppe herunter und mir auf die Füße. Wie sich versteht, gehörte der Fehltritt zu der Nummer.
Da ich nichts gesagt hatte, fuhr er fort: „Am Waisenhaus-platz hatte ich einmal in jener Zeit eine Begegnung, die mir vorübergehend mehr zusetzte, als mir meine Freunde zugetraut hätten.“
Ach du liebe Zeit, dachte ich, jetzt rückt er mit Vedrana heraus! Ich ließ mir meine Befürchtung nicht anmerken und prostete ihm mit dem kühlen Weißwein, den er serviert hatte, ermunternd zu.
„Da ich ja sowieso täglich zum Brunnen mußte, um den Kanister zu füllen, schlug ich meistens zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich stieg in meinen kurzen Hosen ins Brun-nenbecken, um mich zu erfrischen, zu säubern und auch gleich noch mein Hemd und meine Socken durchzuspülen. Ich sagte mir, das Wasser flösse ja ab. Doch etliche Blicke von Passanten oder Anwohnern waren weniger erquickend als das Brunnenwasser. Sie verachteten sowohl meine Armut wie mein unnormales Treiben. Den Vogel schoß dabei ein Junge um 13 ab, der exakt dem zeitgenössischen Typ entsprach: dicklich, pomadig, Hosenbeine drei Meter lang. Da er gerade Herbstferien hatte und am Waisenhaus-platz wohnte, ertappte er mich oft. Als er zum dritten Male stehen blieb und mich haßerfüllt fragte, ob ich mir meine Füße nicht zu Hause waschen könne, konnte ich mein mir verordnetes Schweigegebot nicht mehr einhalten. Ich habe kein Zuhause, entgegnete ich mit erzwungenem Gleich-mut. Ich schlafe unter den Dubrina-Brücken. Diese Eröffnung konnte den Bengel allerdings nur im Augenblick verunsichern. Sein Haß verfolgte mich über Wochen – auch dort drinnen beim Dielenverlegen, sogar spätabends vorm Einschlafen. Ich hätte ihm die Zähne ausschlagen können. Stattdessen fragte ich mich wie ein Sozialfür-sorger, warum der Bengel das mache.“
Er schwieg und blinzelte zu seinen Olivenbäumen, die darauf warteten, die Abendsonne aufzuspießen. Ich zuckte die Achseln:
„Er hatte Lust, dich zu terrorisieren. Du warst ihm ja ausgeliefert, weil du auf den Brunnen angewiesen warst. Und den lieben langen Tag vorm Computer zu sitzen, um Moorhühnchen abzuballern, war ihm doch zu langweilig geworden. In dir hatte er ein leibhaftiges Freiwild vor der Nase.“
Fritz nickte, sagte jedoch: „ Das genügte mir nicht als Erklärung. Ich kam zu der Einschätzung, er fühle sich angegriffen. Mein Außenseitertum stellte des Bengels Innenseitertum in Frage. Körperpflege hat in häuslichen Badezimmern stattzufinden; Papa bezahlt mir's. Jetzt wird diese Linie bezweifelt. Es droht ihm, nicht mehr richtig zu liegen – nicht mehr recht zu haben. Alles Ressentiment gedeiht im Rechthabertum. Das trifft selbstverständlich auch ZigeunerInnen, IndianerInnen oder auch die Schwulen, wenn du nur an Dejicas Mitstreiter Grübchen denkst. In der Stadt Rosarno da drüben“ – er nickte zum Meer, weil die Stadt in Italien lag – „jagen sie gerade afrikanische SaisonarbeiterInnen mit Eisenstangen, Schrotflinten oder Autos durch die Straßen, wie ich gestern im Internet gelesen habe.“
Damit hob er seinerseits das Glas, um einen kräftigen Schluck zu nehmen. Es war ein vorzüglicher Wein, soweit ich es beurteilen konnte. Er hatte ihn vom Gut nebenan bezogen. In dessen Hof war vor ein paar Minuten ein Auto angelassen worden, das sich gleich darauf Richtung Stadt entfernte, ansonsten herrschte hier oben Stille.
Ich fand Fritz' Deutung der Motive jenes Knaben am Brunnen keineswegs abwegig, was ich auch durch ein Nicken anzeigt hatte, nur hätte er vielleicht Dejica heraushalten können. Der Gedanke an sie und ihn traf mich nicht gerade wie eine Eisenstange, aber wie die Zahnstocher schon, die er auf den Tisch gestellt hatte. Ich nahm mir einen Zahnstocher und kaute auf ihm herum. Die drückende Hitze hatte nachgelassen. Die Sonne schaukelte zwischen den Oliven und kitzelte die Zikaden wach, die hier und dort schon begannen, an ihrem etwas eintönigen Gesangsteppich zu weben. Ich kannte sie natürlich nicht von meiner Dachwohnung, aber doch von einigen Ausflügen her, die ich schon unternommen hatte, etwa mit Dejica.
Fritz hob unvermutet einen Zeigefinger, spitzte die Ohren und winkte sich gleich darauf mit dem Daumen über die Schulter: „Hörst du ihn?“
„Wen denn?“
„Den Wiedehopf. Das Hupen.“
Ja, jetzt vernahm ich es: ein gedämpftes, klangvolles Hupen, wie Fritz schon gesagt hatte. Es kam aus irgendeinem Weingarten. Ich kannte diesen Vogel nur flüchtig von Bildern her.
„Das klingt ja geradezu betörend“, sagte ich erstaunt.
Er nickte. „So ist es. Leider ist er schon selten.“
Wir hörten eine Weile andächtig zu. Allerdings überlegte ich dabei auch, welchen Sinn es habe könne, jetzt das übliche Gespräch über die Frau anzuzetteln, die zwischen zwei Männern stand beziehungsweise gerade die Seiten gewechselt hatte. Sie würden sich gegenseitig bestätigen, wie klasse die Frau war und wie bedauerlich es sei, daß einer mal wieder den Kürzeren ziehen müsse. Nein, es hatte keinen Sinn. Ich sagte:
„Kennst du Vedrana?“
Er hob die Brauen. Dann musterte er mich, wobei sich sein Argwohn in Belustigung wandelte, weil ich keine Miene verzog. Er erwiderte:
„Selbstverständlich kenne ich sie, falls du Dejicas Freundin aus der Stadtbücherei meinst.“
„Ja, die meine ich. Gefällt sie dir?“
Jetzt hob er die Brauen schon wieder, sogar noch höher. Aber dann sammelte er sich und sagte mit Ernst:
„Eine ganz starke Frau! Sie hat etwas Warmherziges und Gradliniges, das findet man selten. Ich glaube, auch von Dejicas Erzählungen her, sie verstellt sich nie. Das mag auf Kosten der Koketterie und der Liebesdramatik gehen, Würfe mit wertlosen Blumenvasen eingeschlossen, doch es gibt Sicherheit. Wem kannst du heutzutage schon ver-trauen? Vedrana würde ich restlos vertrauen. Sie ist das genau Gegenteil von einer gewissen Snookerspielerin, der du gerade amtlicherseits auf den Fersen bist. Gebildet ist sie außerdem, Vedrana, meine ich. Sie hat mich sogar vor deinem Nachnamensvetter gewarnt, diesem angeblichen Glanzlicht der klassischen einheimischen Literatur. Leider kam die Warnung etwas zu spät, hatte ich doch Seine Herrlichkeit Frater Brne schon gelesen. Es gilt ja als Muß. Aber damit war dann auch Schluß.“
Eigentlich hätte ich gerne seinen Bemerkungen über Vedrana nachgehangen, die mir wie seine vorzügliche zarte und doch krustige Forelle hinuntergegangen waren, aber der Schwenk zu Simo Matavulj unterband das brutal. Der erwähnte Roman (von 1892) galt als Matavuljs Hauptwerk. Er spielte in unserem Küstenstrich und dort vorwiegend in einem auf einer Flußinsel gelegenen katholischen Kloster. Ich sagte:
„Ja, ich kann mir denken, das Werk ist nicht ganz dein Fall. Uns haben sie in der Schule auch damit gequält. Ich fand es einfach doof.“
Fritz lachte. „Sehr gut! Mehr dürfte man eigentlich nicht dazu sagen.“
Allerdings besann er sich rasch um. Er nahm plötzlich Haltung an und hieb sogar mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Das Werk ist eine Katastrophe!“ versicherte er mir. „Die Lexika behaupten, es sei angenehm volkstümlich, es sei knapp, es sei humorvoll. Aber nichts davon stimmt. Es langweilt durch ausführliche Schilderungen banaler Ereignisse und auch banaler Streiche, wie du dich vielleicht noch erinnern wirst. Ausgeprägte Merkmale des Volkscharakters wie etwa Hinterhältigkeit, Doppelmoral, Frömmigkeit, mit Bauernschläue gepaarte Strohdummheit stellt das Werk nie in Frage. So sind die Leute eben. Ihre Schlechtigkeiten werden tausendmal von ihrer Kunstfer-tigkeit im Reden, Prahlen, Lügen aufgewogen, vor der Lehrer Matavulj wiederholt seinen Hut zieht. Natürlich stellt er auch die alles beherrschende Kirche, ob katholisch oder orthodox, nie in Frage. Im Gegenteil, sie ist die große Wohltäterin des Landes. Matavulj verleiht den mehr oder weniger feisten Schmarotzern, die sich in ihren Kloster-zellen bedienen lassen und im Nebenberuf allesamt Wucherer sind, ausgefallene Spitznamen wie Backtrog, Wedelschwanz, Latte, und schon hat er sie liebenswert gemacht. Über Politik redet sein Werk schon gar nicht. Ich will Matavulj eine gewisse literarische Begabung nicht absprechen, aber sein Horizont scheint mir doch recht begrenzt. Gegen Claude Tilliers Landarzt Onkel Benjamin gehalten würden Matavuljs Mönche und Popen, so dick sie auch sind, in der Tat zu einer bedeutungslosen Zaunlatte schrumpfen. Aber irgendein Zaunkönig hat seinen Roman zur Weltliteratur erklärt – und jetzt müssen sich sogar Deutsche und Franzosen damit abmühen. Bist du eigentlich mit diesem Matavulj verwandt?“
Ich schüttelte meinen Kopf. „Meine Eltern sagten immer: leider nicht.“
Fritz streckte mir spontan seine Hand entgegen: „Na, Gott sei Dank!“
Ich schüttelte sie und amüsierte mich, während er sich wieder zurücklegte, um sich von seiner Strafpredigt auszuruhen.
Allerdings fühlte ich mich von unserem nicht eben gradlinigen und belanglosen Tischgespräch ebenfalls ein wenig erschöpft. Ich lockerte meine Schultern, rieb meine Handgelenke, blickte suchend im dämmrigen Obstgarten umher und sagte:
„Solche Essen und solche Gespräche strengen an. Ein jeder von unsrer Sorte müßte zu Hause einen Snookertisch stehen haben, dann könnte man sich zwischendurch entspannen und bewegen, wäre das nicht prima?“
„Gewiß. Aber wo wolltest du ihn aufbauen? Oder ich?“ Er winkte mit seinem Daumen nach rechts: „Für diesen Fall müßte ich schon einen Gutshof besitzen.“
Ich nickte. Notar Marini hätte in seiner Villa Platz genug gehabt. Sie fiel mir ein, weil ganz in ihrer Nähe ein mit Stahlblech verkleidetes 12stöckiges Bankhaus stand, in dem sich gegenwärtig die Strahlen der roten Abendsonne spiegelten. Vermutlich hatte Marini zusätzlich auch noch einen Gutshof oder ein kleines Landschlößchen zu bieten.
Plötzlich erhob sich Fritz händereibend. „Ich weiß etwas anderes, wenn dir nach Entspannung und Bewegung zumute ist. Warte bitte einen Augenblick.“
Er nahm die Pfanne und einen Topf vom Tisch und ging damit zum Haus, das ungefähr 20 Meter bergan lag. Er verschwand in der Kellertür.
Die Kellertür war zugleich sein Haupteingang. Er hatte mir gesagt, durch dieses in den Hang gebaute Erdgeschoß er-übrige es sich selbst im Hochsommer, einen Kühlschrank zu betreiben. Das Häuschen war aus Feldsteinen gemauert. Im Obergeschoß, das neben der Küche nur ein Zimmer bot, wohnte er; unter dem spitzen Ziegeldach schlief er. Es war früher ein Tagelöhnerhäuschen des Weinguts gewesen. Jetzt hatte Fritz im Keller sogar eine Dusche. Aber jeglicher Luxus fehlte. Notar Marini hätte angesichts der roh verputzten Innenwände die Nase gerümpft, und Polsterer Vlasic hätte angesichts des einzigen Sessels im Hause sofort die Müllabfuhr gerufen. Das abgewetzte braune Leder wies manche Delle und „Sieben“ auf. Fritz schien überhaupt das Chaos zu lieben. Stürzte man in seinem Zimmer nicht über einen Bücherstapel oder einen Gitarrenkoffer, trat man garantiert auf einen Hut oder in einen Spankorb mit Walnüssen. Aber die Bude war nicht dreckig. Vom Abtropfblech der Küchenspüle zum Beispiel hätte mein Chef seine Käsetorte anstandlos ohne Teller gegessen.
Jetzt erschien Fritz in der Tat mit einem Instrumenten-koffer in der erleuchteten Kellertür. Er ließ das Licht brennen und die Tür aufstehen. Es war das Akkordeon. Fritz hängte es sich um und zog es auch schon mit einem Septakkord in die Breite.
„Voilà!“ rief er und legte mit irgendeinem Zigeuner-Innentänzchen los.
Da er sich sogleich auch selber dazu zu wiegen und zu drehen begann, kostete es mich wenig Überwindung, mich aus meinem Korbsessel zu erheben und es ihm nach zu tun. Es machte Spaß. Wir schüttelten unsere Glieder und die Forelle durch, umkreisten uns, machten das Auf und Zu der Ziehharmonika nach und dergleich mehr. Nach drei oder vier Minuten hatten wir sogar einen gemeinsamen Lachanfall, weil ich rücklings über den Akkordeonkoffer gestolpert und genau in Fritz' Korbsessel gelandet war, der dabei freilich umkippte. Ich trommelte vor Lachen mit den Fäusten ins Gras, während er sich über dem Akkordeon und dem Tisch krümmte. Schließlich rappelte ich mich auf, Fritz nickte noch einmal begeistert und verstaute das Akordeon wieder in dem Koffer, der mich zu Fall gebracht hatte. Dann gingen wir wie auf ein Kommando ein paar Schritte beiseite, wo ein kleiner, ausgetrockneter Graben verlief. Während wir fast Schulter an Schulter den in unseren Blasen brodelnden Wein abschlugen, sagte ich:
„Lange kann ich nicht mehr bleiben, Fritz. Ich muß morgen früh hellwach im Präsidium erscheinen, obwohl Samstag ist. Irgendeine Konferenz mit so einem Heini aus Zagreb, der uns einmal erzählen will, wie man den Sumpf der Korruption mit modernsten Software-Mitteln trocken legt.“
„Herzliches Beileid“, erwiderte Fritz und knöpfte den Latz seiner kurzen Lederhose wieder zu, die er wahrscheinlich gratis zu dem Sessel in seinem Wohnzimmer ergattert hatte.
Wir kehrten zum Tisch zurück. Während Fritz das Geschirr auf ein Tablett räumte, schlug er vor: „Wir könnten einmal im Haus nachsehen, was du zu lesen mitnimmst.“
Richtig, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Er wollte mir ja Ersatz für das Flößer-Buch geben.
Soweit sie nicht auf den Dielen oder den Möbeln lagen, nahmen Fritz' Bücher, zusammen gerechnet, sicherlich drei Wände seines Wohn- und Arbeitszimmers ein. Ich hatte bereits erfahren, er lese nicht nur gern sondern schreibe auch selber, ohne freilich damit nennenswert Geld zu verdienen. Er hatte ein paar Jugendbücher veröffentlicht und schrieb zudem für kleinere Zeitschriften, alles auf Deutsch. Er hieß übrigens Helmschroth, Fritz Helmschroth, das war noch nicht einmal ein Pseudonym. Weil sie zufällig zwischen zwei Töpfen geklemmt hatte, hatte er mir aus einer Zeitschrift den Titel einer längeren Betrachtung aus seiner Feder übersetzt. Ich war nicht sicher gewesen, um was es in der Betrachtung eigentlich gehe, aber ihr Titel erheiterte mich trotzdem: Die Rülpser der Avantgarde sind der Keuchhusten des Fortschritts. Jetzt zog er ein dickes Buch von einem gewissen Henrik Pontoppidan aus einem Regel hervor, einem Dänen, wie er mich aufklärte.
„Das könnte etwas für dich sein.“
Es war ein Roman, offensichtlich in unsere Landessprache übersetzt. Er hieß Hans im Glück.
„Aber nein, halt!“ sagte Fritz und nahm mir das Buch wieder weg. Er sah auf eine Art Spickzettel, der in dem Buch gelegen hatte, schlug eine bestimmte Stelle nach und knurrte dabei:
„Auch er leidet am Daß-Virus! Und so einem hat man den Nobelpreis nachgeschmissen! Hör dir das an: Er entsann sich, daß der Vater unzufrieden gewesen war, weil er in die Ferien gefahren war, ohne zuvor um Erlaubnis zu fragen. Vor allem aber war ihm noch gegenwärtig, daß er sehr enttäuscht gewesen war, als er hörte, daß im Eß-zimmer der Fußboden gescheuert wurde, weil er daraus entnehmen konnte, daß die anderen schon gegessen hatten. / Es wunderte ihn eigentlich, daß er sich an diese alten Ereignisse noch so lebendig erinnerte, obwohl sie nichts mehr für ihn bedeuteten. Er wollte nicht zugeben, daß das Elternhaus und seine traurigen Erinnerungen noch irgendeine Macht über ihn hatten. Er war sich bewußt, daß er sich nur selten mit dieser Vergangenheit beschäftigt hatte ... Das sind elf zusammenhängende Buchzeilen, wie du siehst. Darin bringt er das Daß sieben Mal! Das ist schon fast reif für das Guinnes Buch der Rekorde.“
Er schüttelte mißbilligend seine blonden Haare und zwängte das Buch zurück ins Regal. Während seine Augen erneut über die Buchrücken glitten, fiel mein eigener Blick auf ein Bild, das gleich neben der Tür zur Kellertreppe ziemlich im Schatten hing. Ich trat davor und musterte es. Offenbar war es die Farbfotografie einer kleineren Skulptur. Jetzt las ich es auch: Jacques Lipchitz: Harlekin mit Akkordeon, Sandstein, 1918. Die Figur und ihr Musikinstrument waren klobig zusammengebaut, wie man es vom Kubismus erwartet, aber alle Bewegungen waren vorhanden. Die voneinander abgesetzten Kanten der Kloben warfen interessante Schatten. Der Stein war hell.
„Gefällt es dir?“ erkundigte sich Fritz in meinem Rücken.
Als ich mich umwandte, drückte er mir ein Buch in die Hand. Ich sagte:
„Das kann ich so schnell nicht sagen.“
„Quatsch!“ erwiderte er. „Ich meine das Bild.“
„Ja, es gefällt mir prima.“
Er nickte hinter mich: „Dann nimm es mit.“
„Ist das dein Ernst?“
„Ja – warum denn nicht?“
Ich bedankte mich überschwenglich, hakte das Bild von der Wand und legte es mitsamt dem Buch auf die Kommode, die in derselben Zimmerecke stand. Fritz schlug nun vor:
„Wenn du bald verschwinden möchtest – wie wäre es mit einem Espresso für den langen Nachhauseweg?“
„Ausgezeichnete Idee!“
Wir schlürften den Espresso gleich in der Küche. Draußen war es jetzt völlig dunkel. Ich hatte Fritz schon bei der Zubereitung des Espressos gefragt, welche Bedeutung er seinen diversen künstlerischen Betätigungen beimesse, ob er, ob als Clown, Musiker, Schriftsteller, jemals auf Ruhm aus gewesen sei oder noch aus sei. Das war zunächst offen geblieben, weil ich mir erst einmal beschreiben lassen mußte, was er eigentlich als Clown und Akrobat so alles gemacht hatte. Nun kam er darauf zurück und erklärte:
„Ich habe es nie auf Reichtum und Macht angelegt, wenn du das meinst. Aber was diesen anderen Erfolg angeht, der aus der Anerkennung, besser noch Bewunderung spricht, die die Leute deinen Darbietungen zollen – wer fände das nicht schön? Kennst du die Commedian Harmonists, die ja, um 1930, zunächst in Deutschland Aufsehen erregten, bevor sie Weltstars wurden? Gut. Nach ein paar Jahren war das Aufsehen vorbei. Die Gruppenmitglieder wurden in alle Winde zerstreut und gingen den bescheidensten Tätigkeiten nach. Als alter Mann versicherte Erwin Bootz, der ehemalige Pianist und Arrangeur der Gruppe, einem Journalisten: 'Natürlich wünscht man sich den Erfolg. Auch, wenn man immer so tut, als mache man sich nichts daraus. Man macht sich doch was daraus!' In meinem Fall: Ich würde lügen, wenn ich abstritte, mir als Clown durchaus einen größeren Namen und eine längere Karriere gewünscht zu haben. Jeder ist auch davon überzeugt, er hätte das unbedingt verdient! Jeder Kunstschaffende überschätzt sich. Am schlimmsten sind die Schriftsteller-Innen. Jeder von ihnen bildet sich ein, er sei der erste Mensch auf der Welt, der auf zwei Druckseiten nicht einmal daß verwendet habe.“
Ich lächelte und nickte bedächtig.
Leider fiel mir zum Punkt der Selbstüberschätzung Liubina Suker ein, und damit mein Dienst. Ich erinnerte Fritz daran, kippte den Rest meines Espressos in meinen Hals und bat Fritz um eine Plastiktüte für das Bild und das Buch.
Er überreichte mir einen Stoffbeutel.
Dann begleitete er mich bis vor die Haustür. Im Geäst der Olivenbäume glitzerten die Lichter der Stadt und der Bucht. Ich gab Fritz die Hand und hielt auf die Lichter zu. Er winkte mir sogar noch einmal nach.
Das Seminar mit dem Software-Spezialisten aus Zagreb dauerte von 9 bis 14 Uhr. Dem Tod durch Langweile entging ich nur durch zwei unerwartete Unterbrechungen. Zunächst steckte Zvonimir seinen Kopf in unseren Konferenzsaal und winkte mich und meinen Chef auf den Flur hinaus. Es war noch vor 11. Zvonimir zählte nicht zu den Seminarteilnehmern, hatte jedoch in seinem Labor gearbeitet, weil seine Frau mit den Kindern sowieso verreist war. Nun eröffnete er uns nicht ohne Genugtuung, die Fingerabdrücke von der Mauerkrone und der Kaffeetasse stimmten überein.
„Na prima“, sagte der Chef und stieß mich in die Rippen. „Dann nimmst du das Mäuschen gleich am Montag hops, Danilo. Du sagtest doch, sie machen ihr Parteibüro um neun auf, oder irre ich mich? Für den Haftbefehl werden sie ja wohl am Gericht nicht länger als eine Stunde brauchen, sie öffnen um acht. Ich werde mich darum kümmern. Nimm am Montag Bogdan mit, er hat sowieso nicht viel zu tun.“
Damit nickte er und traf Anstalten, schon wieder im Saal zu verschwinden. Doch ich hielt ihn an der Schulter zurück und sagte: „Ja – aber ...“
„Was ja aber?“
„Könnte man den Haftbefehl nicht schon früher besorgen? Was man hat, das hat man.“
Er sah mich ungehalten an. „Du weißt doch selber, wie zermürbend es ist, am Wochenende einen Haftbefehl zu erwirken. Da ist dieses Seminar eine Kurzweil gegen. Und hast du nicht beteuert, in diesem Fall haue niemand ab?“
„Ja – aber ...“
„Nicht schon wieder! Ja oder nein?“
„Ja.“
„Na also.“ Er schlug scherzhaft nach mir, gab Zvonimir noch rasch ein anerkennendes Schulterklopfen und verschwand im Saal.
Zvonimir sah mich halb belustigt, halb fragend an. „Du bist dir nicht mehr sicher? Du fürchtest, die Suker macht sich über die Berge?“
Ich rieb mein Kinn. „Als ich mir die Sache in der Nacht noch einmal durch den Kopf gehen ließ, wurde ich unsicher. Vielleicht fühlt sie sich doch schon in die Enge getrieben, sagte ich mir von ihrem Auftreten im Parteibüro her. Oder sie wird immer aggressiver. Sie flüchtet keines-wegs, streitet sich aber am Wochende mit ihrem Geliebten und Komplizen Vlasic herum, den sie ja im Grunde für eine Flasche hält, und haut ihm den nächstbesten Leuchter auf die Birne. Du verstehst? Sie könnte noch mehr Unheil anrichten, war meine Befürchtung.“
Zvonimir dachte über die Szene mit dem Leuchter nach und erwiderte seufzend: „Da steckt niemand drin. Es ist kaum einzuschätzen. Aber es kann dir schließlich auch niemand einen Vorwurf machen.“
„Das ist richtig.“
Ich bedeutete ihm, ich müsse wieder in den Saal, hob die Hand zum Gruß und tat es meinem Chef nach. Die Vorwürfe macht man sich schon selber, sagte ich mir, während ich meinen Platz wieder einnahm.
Die zweite Unterbrechung wurde durch das immer wieder peinliche Dudeln eines Handys eingeleitet. Es war mein eigenes Handy. Ich schlüpfte rasch wieder auf den Flur und las die Nummer des Anrufers ab: sie sagte mir nichts. Als Uhrzeit zeigte das Handy 11 Uhr 37.
„Danilo Matavulj.“
„Vedrana Micic.“
Ich tastete mit der freien Hand nach dem vertikalen Rohr eines Heizungskörpers und hielt mich daran fest, weil mich ein süßer Schreck durchfuhr. Die Heizungsrohre im Präsidium lagen noch über Putz. Im Winter hätte ich mir vielleicht Blasen zugezogen, aber jetzt war die Heizung kalt. Vom anderen Ende der Leitung her hörte ich einen etwas unruhigen Atem. Schließlich sagte ich:
„Du bist meine letzte Rettung, Vedrana. Ich muß hier gerade an einer öden Polizeikonferenz teilnehmen. Allerdings muß ich gleich wieder in den Saal.“
„Tja, Danilo, ich dachte mir bloß – also, Quatsch! Ich denke zu viel an dich, das ist das Übel ... Vielleicht könnten wir uns bald wiedersehen? Nur heute geht es leider nicht.“
„Warum nicht?!“ erwiderte ich fast empört.
„Man merkt, du bist Polizist“, kicherte sie. „Weil ich zu meiner Mama muß. Sie hat Geburtstag.“
„Gut“, sagte ich. „Richte ihr aus, die Geburt ihrer Tochter war eine Großtat der Vaterlandsliebe. Dann also morgen?“
„Ja. Ich dachte, wir könnten vielleicht an dieser Floßfahrt auf der Dubrina teilnehmen, bei der Fritz immer Musik macht. Ich kenne das noch nicht und du ja auch nicht.“
„Hervorragende Idee – aber woher willst du das wissen? Daß ich sie nicht kenne?“
„Von Fritz“, sagte sie etwas kleinlaut.
„Oho – eine Riesenverschwörung, ich wittere es schon! Und was ist mit Dejica? Soll sie etwa auch mitmachen?“
„Ach woher! Sie kennt das doch. Die Musik, die Fritz mit der Floß-Combo macht, hinge ihr sowieso zum Halse raus, sagt sie immer.“
„Sehr witzig! Und mir etwa nicht?“
„Richtig“, erwiderte sie charmant. „Du kennst sie ja nicht.“
Ich gab mich geschlagen. Wir sprachen noch rasch die logistischen Einzelheiten durch und dann sah ich zu, wieder in den Saal zu kommen.
Statt den Ausführungen des Redners zu folgen, dachte ich selbstverständlich abwechselnd an Vedrana Micic und Liubina Suker. Was meine Intimfeindin betraf, wußte ich sogar, wo und wie sie wohnte. Beim Aufstieg zu Fritz' Häuschen hatte ich nämlich einen kleinen Schlenker beschrieben, der mir darüber Aufschluß gab. Das moderne Haus am Hang, in dem Suker wohnte, hatte ein Dutzend schicke Appartements mit Balkonen. Wie ich aus der Klingelleiste geschlossen hatte, gehörte ihr ein Apparte-ment, das gleich über dem Souterrain lag. Es waren tatsächlich Eigentumswohnungen, wie mir Fritz bestätigte. Vielleicht hatte Zamirsteigtauf das „Messer von Dubrov-nik“ just mit Hilfe dieser kleinen Immobilie „losgeeist“.
Ich hielt es nicht für völlig unwahrscheinlich, Suker könnte sich an diesem Samstag zumindest teilweise dort auf-halten, und zwar in Anwesenheit ihres Geliebten Vlasic, vielleicht bei gekippten Fenstern, vielleicht sogar auf dem Balkon. Es wäre einen Versuch wert. Vielleicht konnte ich etwas Nützliches erlauschen oder wenigstens beobachten. Denn mit der anderen Frau, an die ich gegenwärtig ähnlich bohrend dachte, verhielt es sich ja leider so, daß ich vor morgen nicht an sie heran käme. Ich mußte irgendwie die Zeit totschlagen und die Aufregung bemeistern, die mich eingedenk des bevorstehenden Stelldicheins allmählich beschlich. Das Seminar war sicherlich ebenfalls ein Mittel, die Zeit totzuschlagen, doch es sollte ja schon um 14 Uhr enden.
Freilich war es auch nicht auszuschließen, Suker hielte sich, ob mit oder ohne Vlasic, im Haus der Weißen, im „grünen“ Parteibüro oder aber in dem Haus auf, das Vlasic, dank ihrer tatkräftigen Mithilfe, wie ich ihr zunehmend unterstellte, soeben geerbt hatte. Ich wußte inzwischen auch, was für ein Auto Suker fuhr. Damit lag die Marsch-route, die ich mir vornahm, auf der Hand. Ich würde zunächst im Haus der Weißen, dann in der Altstadt nachschauen. Zog ich auch bei Suker in der Ringstraße eine Niete, konnte ich das Ganze wieder umgekehrt veranstalten und so immer hin und her. Der Samstag war ja lang.
Jedenfalls verbiß ich mich in diesen Plan, je schleppender das Seminar sich hinzog. Ich bildete mir ein, mein Eid auf die Verfassung und auf die Polizeigesetze verlangten es kategorisch von mir, die Suker nicht mehr aus den Augen zu lassen, bis sie im Knast säße. Ja, ich verstieg mich sogar bis zu der Vorstellung, notfalls müsse ich der Observation zuliebe mein für morgen verabredetes Stelldichein platzen lassen. Die Polizeipsychologen aus Zagreb hätten mir möglicherweise eine unbewußte Konfliktvermeidungs-strategie bescheinigt. Jetzt drohe mir eine richtige feste Liebesbeziehung – und da zöge ich eben den Schwanz ein. Mein Pochen auf mein Pflichtbewußtsein sei eine fadenscheinige Rationalisierung meiner Fesselungsangst. Fritz kam später zu einer beinahe entgegengesetzten Einschätzung. Es habe mich an jenem Samstag verlockt, den Helden zu spielen. Diese Verlockung brachte Vlasic eine Gehirnerschütterung, zwei eingeschlagene Schneide-zähne und den Laufpaß seiner Mieze ein. Ich dagegen kam mit einer Platzwunde über der Augenbraue und ein paar blauen Flecken eher glimpflich davon.
Ich war um 14 Uhr 15 schon fast an dem wachhabenden Kollegen in der Eingangshalle des Präsidiums vorbei marschiert, als ich mich umbesann und wieder nach oben ging. Ich schloß mein Büro und dann den Safe auf. War Suker wirklich das hartgesottene Stück, als das ich sie hinstellte, empfahl es sich ja wohl, die Dienstpistole mitzunehmen. Ich legte den Schulterhalfter an, steckte sie hinein und zog mir die Jacke wieder an. Es war zwar draußen heiß, aber was sollte ich sonst machen? Ich lief nie mit einer Aktentasche, geschweige denn mit einem Rucksack durch die Gegend, so wie Fritz mit seinem 5-Liter-Kanister. Ich versetzte der Safetür einen Schubs und verließ mein Büro.
Kaum hatte ich das Haus der Weißen betreten, erkannte ich den Schwachpunkt meines Plans. Ich hatte nicht ernsthaft mit der Möglichkeit gerechnet, Suker bereits hier zu treffen. Aber da leuchtete ihr roter Schopf auf, an Tisch vier. Sie war allein. Sie besaß also die Kaltblütigkeit, zu trainieren wie immer. Sie scherte sich einen Dreck um meinen Verfolgungswahn.
Zu allem Unglück war der Salon brechend voll. So sehr ich den Hals auch reckte, es gab nicht einen freien Snooker-tisch mehr im Salon! Ich konnte also noch nicht einmal selber trainieren. Die Leute mußten verrückt sein, wenn sie bei diesem Wetter nicht ans Meer fuhren, um zu baden. Allerdings kamen sie hier in den Genuß der Klimaanlage.
Tisch vier war nicht weit von der Bar entfernt. Zamir-steigtauf hatte Dienst. Ich schob mich auf einen freien Hocker. Da ich noch kein Mittagessen gehabt hatte, bat ich Zamirsteigtauf um ein heißes Baguett. Der rundliche Mannschaftsführer trug an diesem Nachmittag eine geblümte Weste, die er vermutlich bei Ligaspielen nicht anziehen durfte. Obwohl sie ihm meines Erachtens gut stand und eher Fröhlichkeit signalisierte, zeigte er sich mir gegenüber zurückhaltender als bisher. Vielleicht hatte er inzwischen etwas läuten gehört. Wenn ja, konnte man natürlich kaum von ihm verlangen, einen Bargast zu umschmeicheln, der kurz davor stand, ihm das beste Pferd aus dem Stall zu stehlen. Ich meinte Liubina Suker.
Dieses Mal übte sie die klassische Ausgangssituation des Endspiels, wie ich rasch erkannte. Diese Situation bestand lediglich in einem Stoß, den Suker zigmal wiederholte, während ich mein Baguett verzehrte. Es kommt dabei darauf an, nach dem Verschwinden der letzten Roten die Schwarze zu versenken – aber so, daß die Weiße anschlie-ßend möglichst günstig auf Gelb steht. In der Regel geht dieser Stoß über die Längsbande und den halben Tisch. Er ist natürlich um so schwieriger, je ungünstiger die Schwarze liegt. Suker änderte die Positionen von Schwarz und Weiß ständig, kam aber immer im Bereich von Grün und Braun gut auf Gelb zu stehen. Ich wollte schon wieder innerlich eine Ode auf ihr bestechendes Ball- und Tempo-gefühl anstimmen, als sie sich plötzlich umwandte und mich über rund fünf Meter und eine andere Tischecke hinweg in spöttischem Tonfall ansprach.
„Sie gucken so kritisch, Herr Kommissar ... Meinen Sie, es ginge noch besser? Wir können es gerne im Wettstreit versuchen. Ich gebe Ihnen 50 Punkte vor.“
Das war allerhand. Ich hatte Mühe, meine Verblüffung zu überspielen, indem ich mir die Baguettkrümel von Kinn und Jackenärmel strich. Schon ihre Kühnheit oder Frechheit war allerhand; sodann waren 50 Punkte Vorgabe enorm, denn mit ungefähr 70 Punkten hatte man oft schon den ganzen Frame gewonnen; und schließlich war es auch ein starkes Stück, mich über die Tische und SpielerInnen hinweg als Herrn Kommissar bloß zu stellen.
„Lassen Sie mal, Frau Suker“, winkte ich mit der Hand ab, die ich für die Krümel benutzt hatte, „ich leide gerade an einer Formkrise.“
Etwas Besseres war mir so rasch nicht eingefallen. Sie machte „Pah!“ und wandte sich wieder ihren Kugeln zu. Ein paar Leute starrten mich bereits an. In meiner Verlegenheit glitt ich vom Hocker und steuerte die Toilette an, wo ich mich vielleicht mit kaltem Wasser wieder in Form bringen konnte. Das Dumme war nur, dieser Weg führte genau an Tisch vier vorbei. Kaum hatte ich ihn erreicht, blickte sie von der Bande auf und höhnte mit unterdrückter Stimme:
„Und eine schwache Blase haben wir auch ..?!“
Ich hielt inne, faßte sie stirnrunzelnd ins Auge und beging in meiner Wut die nächste Dummheit. Ich sagte leise und drohend:
„Ich denke doch, Sie sollten die Lage etwas ernster neh-men, Frau Suker. Was soll man beispielsweise von der Leiterin eines Parteibüros halten, die sich am hellichten Tage eine Kaffeetasse stehlen läßt?“
Sie war noch immer über die Bande gebeugt. Sie ahnte, gleich kommt eine Bombe, aber sie faßte das Unheil noch nicht so ganz.
„Ich meine die Kaffeetasse auf dem Konferenztisch. Vielleicht haben Sie sie schon vermißt?“
„Und was soll damit sein?“ sagte sie in bemüht harmlosem Ton.
„Wir fanden darauf Ihre Fingerabdrücke.“
Sie bekam wieder Oberwasser und höhnte: „Was Sie nicht sagen – das ist ja sensationell!“
„Ja, Frau Suker. Denn die gleichen Fingerabdrücke fanden wir auch auf den Kacheln einer Hinterhofmauer, vor der eine weiße Badewanne mit Tomaten drin steht.“
Ihre Augen verengten sich. Ich meinte, ihre lieblichen Zähnchen knirschen zu hören. Aber sie sagte nichts. Sie brachte sich in Bewegung, indem sie die Weiße erbost mit der Hand gegen die Bande stieß, hieb die Kreide über die Kuppe ihres Queues und nahm ihr Training wieder auf.
Ich sputete mich, auf die Toilette zu kommen und mir ein paar Hände Wasser ins Gesicht zu schütten. Schließlich hatte ich sie in meiner Gekränktheit, törichterweise vielleicht, provoziert, und wer konnte wissen, ob sie nicht schleunigste den Saal verließ oder sonst eine Dummheit machte.
Aber als ich aus der Toilette trat, war sie unverändert mit ihren Übungen beschäftigt. Ich nahm wieder an der Bar Platz und bat Zamirsteigtauf um ein Mineralwasser und einen Pastis. Er mied meinen Blick. Offensichtlich war ihm die dicke Luft zwischen mir und seinem As nicht entgangen. Ich fragte mich fieberhaft, wie ich mich jetzt am besten – am besten für die Ermittlungen! – aus der Affäre zöge. Sollte ich mein Unternehmen „Observierung“ vielleicht abblasen und kurzerhand verschwinden? Oder gerade umgekehrt um einen Polizeiwagen bitten, damit ich bei der Observierung mobiler wäre? Gleichzeitig fragte ich mich, von welchen Erwägungen jetzt Suker durchzuckt würde, denn davon hing ja wiederum meine Taktik ab. Wie sehr hatte sie meine Enthüllung, ihren vermutlichen Anmarsch- und Fluchtweg über die rückwärtige Hinter-hofmauer betreffend, überhaupt beeindruckt? Vielleicht war sie, viel schlichter, einfach nur auf mich persönlich wütend, weil ich nicht Wachs in ihren Händen war?
Die Entscheidung wurde mir von Branko Vlasic erlassen: er betrat den Salon. Der Kleiderschrank trug eine braune Weste zum zitronengelben kurzärmligen Hemd und war wieder glänzend frisiert. Als er zum Tresen kam, bedachte er mich allerdings mit einem ähnlich begeisterten Blick, wie ich ihn bereits an Zamirsteigtauf festgestellt hatte. Es fehlte nicht viel, und er hätte wieder kehrtgemacht. Aber er ließ sich sein Queue geben und ging zu Tisch vier.
Seine Geliebte begrüßte ihn nur durch ein Nicken. Sie bauten die Kugeln auf und spielten. Und ich sah zu.
Nach einigen Spielzügen sagte ich mir zerknirscht, jetzt sei ich so klug wie zuvor. Alle Fragen, die ich mir gestellt hatte, hingen noch im Raum. Aber auch jene „dicke Luft“ hing noch im Raum. Vlasic verpaßte eine Stellung auf Schwarz – und plötzlich fauchte Suker, sowas haue man doch mit Unterschnitt rein! Sie meinte natürlich die vorausgegangene Rote. Vlasic widersprach ihr jedoch maulend. Daraus entspann sich binnen von Sekunden ein Wortgefecht, das den halben Salon aufhorchen ließ. Suker beschimpfte Vlasic als trübe Tasse, Vlasic verbat sich ihren Schwiegermutterton, Suker fluchte, er wälze ja die Verantwortung nur zu gern auf die Frauen ab, Vlasic schleuderte die Weiße auf den Teppichboden und nannte Suker eine rothaarige Zimtzicke, was sie mit der gellenden Feststellung vergalt, er sei ein Lämmerschwanz!
Vlasic zuckte zusammen, warf sein Queue beiseite, trat die auf dem Boden liegende Weiße mit der Schuhspitze unter den Nachbartisch und ging bedrohlich langsam auf Suker zu. Seine Arme hingen herab. Die Finger seiner Hände kneteten sich.
„Was hast du da gesagt ..?“
„Ein Lämmerschwanz!“ wiederholte sie schreiend. „Ein Lämmerschwanz!“
Da ihr Queue an der Fußbande lag, griff sie in ihrer Raserei in die Ablage an der Kopfbande, zerrte die „Brücke“ hervor, umfaßte den Stiel dieses Hilfsgerätes mit beiden Händen, holte aus und hieb ihm dessen Kopf aus Metall mit aller Kraft ins Gesicht.
Verdammt, dachte ich und sprang von meinem Hocker, das war zu viel! Während sich Suker sofort mit merkwür-dig festem Schritt zum Ausgang wandte und Vlasic vor Schmerzen wimmerte und rücklings gegen die Bande eines Nachbartisches sank, rannte ich durch die Reihen der Tische und der überwiegend gelähmten Leute hinter Suker her und rief:
„Bleiben Sie stehen!“
Sie hielt tatsächlich inne, griff unvermutet zu einem Tablett mit Snookerkugeln, das gerade neben ihr auf einem Tisch stand, drehte sich um, brüllte Du Drecksbulle und warf mir das gefüllte Tablett mit Wucht in die Fresse, um es einmal unverblümt zu sagen.
Immerhin konnte ich einen Teil der Kugeln und der Tablettkanten abdämpfen, weil ich instinktiv die Arme hoch gerissen hatte. Der Rest brachte meinen Schädel zum Dröhnen und meine Füße ins Straucheln. Aber nun war ich natürlich ebenfalls wütend. Ich fing mich und erreichte die aufstehende Salontür.
Suker hatte bereits die Freitreppe hinter sich gebracht und flitzte auf die Nachbarhäuser zu, um sich darin irgendwie dünne zu machen. Auf dem Vorplatz hätte sie schließlich nicht die geringste Deckung gehabt, und auf der Haupt-straße wäre sie in die Autos gerannt. Ich brüllte erneut „Bleiben Sie stehen!“, fügte aber dieses Mal hinzu: „Ich bin bewaffnet!“
Natürlich hustete sie mir etwas. Ich zog meine Pistole, kniete mich vor die seitliche Brüstung der Treppe, stützte beide Hände auf den Steinen auf und bemühte mich, auf ihre Beine zu zielen, bevor ich abdrückte.
Sie kippte kurz vor dem Eingang des nächsten Hauses gegen den Vorgartenzaun und versuchte sich an den Eisenstäben festzuhalten, während sie auf den Bürgersteig glitt.
Ich erhob mich, wischte mir etwas Blut von den Augen und wandte mich zur Tür. Das erste, was ich sah, waren die Blümchen auf Zamirsteigtaufs gewölbter Weste. Ich sagte:
„Sofort den Krankenwagen, bitte!“
Die Weste verschwand, dafür drängten sich andere Leute in die Tür.
Ich drehte mich wieder um und stieg die Treppe so zügig hinunter, wie es meine Benommenheit zuließ. Ich mußte nach meinem Opfer sehen.
Vedrana schüttelte den Kopf und kicherte. Während das felsige Steilufer der Dubrina über ihre sanften Schultern glitt, hatte sie mich länger angesehen. Nun meinte sie:
„Wenn sie dir eine schwarze Binde angelegt hätten, könnte man dich glatt für einen Piraten halten!“
Ich hätte die Schmeichelei mit dem Hinweis auf die vielen kleinen, weißen Blüten wettmachen können, die ihr schwarzbraunes Haar spickten. Sie gehörten zu den Myrten-Sträuchern, die zwischen den Felsen wuchsen. Ich vermutete allerdings stark, sie hatte auch auf meine dunklen Bartstoppeln angespielt. Als ich mich gestern abend nach dem Nähen der Platzwunde über meiner Augenbraue aus der Krankenhausambulanz gestohlen hatte, besaß ich nicht mehr die Kraft zum Rasieren, und heute vormittag hatte mir die Zeit dazu gefehlt. Ich nickte flußaufwärts:
„Fritz sieht nicht besser aus!“
Sie lachte.
Fritz konnte sich fast mit der Stange der unvermeidlichen Landesfahne messen, stand er doch im hinteren Bereich des Floßes auf einem Podest, während er Jordans Blues ins Mikrofon hauchte. Er war in der Tat ebenfalls unrasiert, weil er bekanntlich immer unrasiert war. Er hatte fünf Mitstreiter, die sich an ihren Instrumenten festhielten. Über das gesamte Floß spannte sich eine weiße Zeltplane, wegen der Sonne. Speelmanns Floß war größer als ein Tennisplatz, allerdings merklich länger als breit, damit es durch die Floßrutschen an den Wehren paßte. Es wurde mittels dreier Ruder gesteuert, zuweilen auch mit Hilfe der traditionellen Flößhaken. Im Moment standen nur an den beiden vorderen Rudern zwei Männer, denen die Zigarette oder die Bartspitze aus den Mundwinkeln hingen. Möglicherweise schliefen sie. Speelmann selbst, der inzwischen wohlbeleibte, grauhaarige Floßmeister aus Bayern, kümmerte sich um die Bordbar. Wie sich versteht, zapfte er am liebsten Bier.
Die Klappbänke beiderseits der Klapptische waren gut besetzt. Das Floß faßte 80 Leute. Zum Glück war Sonntag. Fritz hatte uns erklärt, die Touristenhorden überfielen das Floß eher werktags, denn sie hatten ja die Zeit dazu, während die Sonntagsfahrten unter den Einheimischen begehrt waren. Vedrana und ich waren von einem Schlag Kinder eingeklemmt, die ihren Unfug trieben, sodaß wir nicht in Gespräche über Autos oder Käsetorten verwickelt wurden.
Vedrana kannte die Vorliebe meines Chefs für Käsetorte bereits, weil sie sich nach dem Betriebsklima im Polizei-präsidium erkundigt hatte. Dagegen durfte ich ihr von den Details und Hintergründen der gestrigen Schlägerei im Snookersalon leider nichts erzählen: Dienstgeheimnis. Fritz hatte natürlich schon Bescheid gewußt: durch einen Telefonanruf von Zamirsteigtauf, der sofort eine außer-ordentliche Mannschaftsbesprechung ankündigte. Wie sich versteht, hatte man Suker und Vlasic erst einmal im Krankenhaus behalten. Was Sportskanone Suker betraf, hatte ihr meine Kugel den Oberschenkelknochen verletzt. Vlasic kurierte seine Gehirnerschütterung aus. Beide Beschuldigten wären wahrscheinlich für heute vom Arzt zur Vernehmung freigegeben worden, doch in einem anderen Telefongespräch hatte ich mich mit meinem Chef darauf geeinigt, diese Sonntagsmühe sei überflüssig. Sollte sich die Staatsanwältin einmal gedulden! Die beiden liefen ja kaum weg. Möglicherweise standen sich vor ihren Zimmern zur Stunde Ante und Milan die Beine in den Bauch, die ja auch den Anfang der ganzen Geschichte schon kannten.
Die Mannen um Fritz – es war keine Frau dabei – hatten inzwischen Autumn Leaves angestimmt. Fritz spielte vorwiegend Tenorbanjo, hin und wieder Flöte. Einen Klarinettisten gab es auch. Die Gruppe nannte sich ZOS , was bedeutete: Zamir Old Steamer. Ich sagte:
„Es wäre in diesem verwunschenen Flußtal noch stiller, wenn sie nicht diese Combo angeheuert hätten!“
Vedrana schlug nach mir und sagte trotzig, ihr gefalle die Musik.
Ich hielt ihre Hand fest.
Sie ließ sie mir.
Aufgrund ihrer Enge blieb die Schlucht der Dubrina vom Straßenverkehr verschont. Ohne die Musik hätte man das Glucksen unter dem Floß gehört, das seine Fahrt ja allein der Flußströmung verdankte. Ab und zu blinkte ein kurzer Riß im Wasser auf, weil ein Fisch sprang. Wir hatten auch schon einen weißbrüstigen Adler beobachtet, der mit angelegten Schwingen im Sturzflug niederging, um sich solch einen Fisch zu krallen. Ich stellte mir vor, wie der Vogel versehentlich durch unser Sonnensegel bräche, weil darunter das Becken des ZOS-Schlagzeuges aufgeblitzt war. Ich pickte mit dem Zeigefinger auf Vedranas Hand:
„Was haben sie eigentlich früher die ganze Zeit auf dem Floß gemacht, wenn sie keine Musik gemacht haben?“
Sie kicherte schon wieder. „Das könntest du alles aus dem schlauen Buch erfahren, das du dir am Freitag eigentlich ausleihen wolltest.“
Sie schien gerne Tatsachen zu verdrehen, so kam es mir allmählich vor. Aber ich ließ die Sache auf sich beruhen. Ich winkte ab und sagte:
„Ich lese sowieso nicht gerne Bücher. Erzähle du es mir.“
Sie tat es. Wie sich zeigte, waren mir, dem Südländer, wesentliche Aspekte des Sachverhalts gar nicht klar gewesen. Offenbar hatte man die skandinavischen oder sibirischen Baumstämme früher allein mit dem Ziel gen Süden geflößt, sie auf die bequemste und kostengünstigste Art loszuwerden. Der Floßmeister verkaufte sie am Zielort und kehrte nur mit der gefüllten Geldkatze in seinen Heimatort zurück. Jetzt wurden die Stämme an der Anländestelle in der Isar- oder Dubrinamündung nach dem Lösen der Bänder mit Hilfe eines Greifers auf Speelmanns Sattelschlepper geladen, über 30 Kilometer nach Bujeka (wo ein berühmtes Kloster lag) zurückgekarrt und noch am selben Abend wieder zusammen gebunden für die nächste Tour. Speelmann und seine Leute wohnten auch in Bujeka. ZOS dagegen kam nicht umhin, sich während der Saison viermal wöchentlich von den Musiker-freundinnen reihum im Kleinbus der Gruppe nach Bujeka fahren zu lassen. Speelmann zahlte es. Schließlich konnten sie das Schlagzeug schlecht ins Gepäcknetz der Eisenbahn zwängen, die zwischen Zamir und Bujeka verkehrte. Freundlicherweise hatten auch wir, Vedrana und ich, heute vormittag den ZOS-Bus besteigen dürfen. Die Flußfahrt zurück nach Zamir dauerte, je nach Wasserstand, vier bis fünf Stunden. Sobald sich die Zitadelle von Zamir zeigte, pflegten die Musiker ihren Bus, per Handy, wieder zur Anländestelle zu beordern. Es war gut zu wissen, daß Dejica keinen Führerschein besaß.
„Mit anderen Worten“, sagte ich nach Vedranas Erläute-rungen: „Man tut nur noch so, als ob. Man wähnt sich auf einem Floß, obwohl man in einer Goldgrube sitzt, aus der man Speelmann Dukaten in den Schoß wirft.“
Sie hob die Schultern. „Das ist der Lauf der Welt.“
Ich nickte.
Bald darauf erzählte sie mir von ihrer Jugend, weil ich sie gefragt hatte, wie sie überhaupt zu den Büchern – und damit auch zu ihrem Beruf – gekommen sei. Für mich war das alles sehr aufschlußreich. Dagegen nahm ich an, einen Dritten hätten Vedranas Eröffnungen nicht von der Klappbank gerissen. Das war ja in meinem Fall nicht anders, obwohl ich es bis zum „Kommissar“ gebracht hatte. Mein Werdegang war derart „stinknormal“, daß ich mich mitunter dafür schämte. Beispielsweise Fritz gegenüber. Selbst Suker hatte Abenteuerlicheres zu bieten, nämlich die Wandlung von der Frisöse zur Parteibüro-leiterin und schließlich zur Mörderin – falls sie eine war.
Zu jenen Details, die ich Vedrana oder anderen Mitbürgern einstweilen nicht verraten durfte, zählte natürlich auch meine Nachricht von den Fingerabdrücken, durch die ich Suker im Snookersalon ohne Zweifel gereizt hatte. Ich hatte es bislang selbst meinem Chef nicht verraten. Vielleicht tat ich es morgen früh, vor den Vernehmungen von Suker und Vlasic, weil es ja früher oder später doch zur Sprache käme. Ich war außerstande einzuschätzen, ob er mein Vorgehen billigen oder verurteilen würde.
Kaum weniger sicher hätte ich mich in einer von meinem Chef verlangten Vorhersage gezeigt, wie sich unsere beiden Beschuldigten nun verhalten würden. Da war alles mög-lich. Sie konnten alles abstreiten, sie konnten Geständ-nisse ablegen, sie konnten – was besonders beliebt war – versuchen, möglichst viel von der Schuld dem jeweils anderen in die Schuhe zu schieben. Wahrscheinlich stand uns im Präsidium die mühsame Arbeit bevor, einen Indi-zienbeweis zu führen. War uns das Schicksal besonders gram, hatten sich die beiden Beschuldigten morgen schon umgebracht.
Vedrana wischte mir unvermutet mit der Hand über die Stirn, wobei sie sich immerhin hütete, das dicke Pflaster über meinem linken Auge abzureißen.
„Was ist denn?“ fragte ich sie.
„Mir schien, du hegtest düstere Gedanken.“
Ich lächelte ertappt und kratzte mich hinterm Ohr. Dann ergriff ich ihre Hand und küßte sie. Darüber freute sie sich. Gleich darauf wies sie flußabwärts:
„Sieh nur, wir legen gleich an!“
Ich nickte. Die ZOS-Leute hatten bereits ihre Verstärker ausgedreht und den Koffer mit dem Akku bereit gestellt. Sie würden ihn gleich an Land nachladen. Das Floß hielt auf ein Weingut zu, das in einer Flußschlaufe Platz gefunden hatte. Aufgrund der Fahrtlänge pflegte „Kapitän“ Speelmann an diesem und noch einem anderen Gut Pinkelpausen einzulegen, die er mit den Winzern verein-bart hatte. Die Winzer boten dann natürlich auch Wein zum Mitnehmen an, zudem Kuchen. Laut Fritz waren für die Pausen 20 Minuten angesetzt. Er hatte sich inzwischen zu uns gesellt, lehnte es aber ab, uns an Land zu begleiten. Er zöge ein Nickerchen im Liegestuhl vor, sagte er; Speelmann habe einen in der Bar versteckt. Ob wir zufrieden und glücklich seien?
Wir sahen uns an, lachten sowohl über den Liegestuhl wie über die Frage und nickten heftig.
„Und was hälst du von unserer Musik, Danilo?“
Vedrana puffte mich in den Rücken.
„Ich kann nicht meckern“, versicherte ich Fritz. „Ich habe schon schlechtere gehört!“
Er grinste und schob uns in den Strom der Leute, die das vertäute Floß verließen.
Wir hatten es vorgezogen, uns oberhalb des Gutes zum Pinkeln in die Büsche zu schlagen. Wie sich zeigte, gab es dort auch einen winzigen Friedhof. Er war von spitzen dunklen Zypressen gesäumt, was sich vor den hellen Felsen des Hintergrundes recht hübsch machte. Weil uns die Bewegung, nach dem langen Sitzen, gut tat, wandelten wir um die verwitterten Grabsteine und versuchten ihre Inschriften zu entziffern. Die Nachnamen stimmten meistens überein. Als Vedrana den Vornamen Zvonimir entdeckte, den sie „bezaubernd“ nannte, erzählte ich von meinem gleichnamigen Kollegen aus der Spurensicherung, der ja Frau und Kinder hatte. Weil dabei ihre Augen verdächtig aufleuchteten, fragte ich argwöhnisch:
„Du willst doch nicht etwa so einen Schlag Kinder kriegen, wie er da unten das Floß unsicher macht?“
Sie griff bedächtig in das großzügig geschnittene Polohemd, das ich trug, knautschte es, rüttelte daran und sagte mir ins Gesicht:
„Nein, will ich nicht ... Aber dich will ich kriegen!“
Da war es um uns geschehen. Wir sanken aneinander und dann auf einen Grabhügel, der zum Glück nicht mit Steinen eingefaßt, vielmehr mit Efeu gepolstert war. Von dort aus rollten wir ins Gras.
Wahrscheinlich hätten wir mit unseren zwei unbedeu-tenden Leibern eine ganze Taiga in Brand stecken können. Ein romantisch veranlagter Mensch hätte sogar Glocken läuten hören können. Aber plötzlich ging mir auf, es konnte sogar stimmen!
Ich löste mich jäh von dem anderen Leib, rappelte mich auf und lugte durch die Zypressen.
„Verdammt – Vedrana, die Floßglocke! Ich glaube, sie läutet schon zum dritten Mal!“
Sie kreischte oder jubelte, ergriff meine Hand, und so rannten wir zum Fluß hinab, als ginge es um unser Leben.
Fortsetzung hier
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