Dienstag, 24. Juli 2012
Zeder Zamir
Drei Erzählungen


Flußmusik Teil 1 (1–17) + Teil 2 (18–30) 75 S.
Favoritensterben Teil 1 (1–15) + Teil 2 (16–28) 65 S.
Absturz eines Orthopäden (Zugabe aus 2017) 30 S.



Seine neue Leidenschaft für das Snookerspiel verdankt der junge Kriminalkommissar Danilo Matavulj aus Zamir ausgerechnet dem Mann, der ihm seine Geliebte, die Marimbaspielerin Dejica, abspenstig gemacht hat. Die Bekanntschaft mit Fritz war jedoch unvermeidlich, weil Danilo argwöhnt, beim Sturz der alten Frau Mikulinez von ihrem Balkon hätten Personen nachgeholfen, die just in Zamirs Haus der Weißen verkehren, dem Snookersalon. Er bezahlt diesen Argwohn mit einer Platzwunde über dem Auge, die ihm ein mit Wucht geworfenes Tablett mit Snookerkugeln beibringt. Zur Entschädigung darf er mit Dejicas bester Freundin Vedrana eine Floßfahrt auf dem Fluß Dubrina unternehmen.

„Ihren erfrischenden Witz und den sarkastischen Kommissar kennt man eigentlich schon aus Der Fund im Sofa“, schrieb mir der dritte Leser des Manuskriptes im Frühjahr 2012 per Email. „Aber ich habe mich keine Sekunde gelangweilt. Hätten Sie die Erzählung nicht doppelt so lang machen können? Einige Leute werden natürlich wieder maulen, sie wollten in Krimis nicht belehrt werden. Da könnten sie genauso gut einem Pastis vorwerfen, daß er brennt.“



Flußmusik


1

„Ich sehe, du bist völlig überlastet, Danilo“, sagte der Chef.

Er blieb stehen, ohne die Tür hinter sich zuzumachen. Dann zwinkerte er und blickte, meinem Vorbild folgend, durch das einzige Fenster meines Büros einer jüngeren Frau nach, die sich auf dem buckligen Pflaster des Ziegenmarkts Richtung Hafen entfernte. Daß ihre hohen Absätze die Pflastersteine nicht herausrissen, war ein Wunder. Sie hatte Feuer. Oder war sie nur auf irgendeinen der Scheißbullen wütend, die unter mir, im Erdgeschoß des sogenannten Polizeipräsidiums von Zamir, Wache schoben, damit niemand den scharfsinnigen Chef der Abteilung Kripo entführe, der wie immer ohne anzu-klopfen in mein Zimmer getreten war? Jetzt fuhr er nach einem anerkennenden Nicken, das der verschwundenen Stöckelschuhträgerin galt, in müdem Tonfall fort:

„Offenbar hat sich mal wieder ein alter Mensch umge-bracht. In der Domgasse, Hausnummer 87. Könntest du einmal nach dem Rechten sehen, Danilo? Eine Streife ist schon da, sie sichert den Unglücksort, bis du eintriffst.“

Ich nickte nur, griff nach meinem Handy und dem hellen Jäckchen, das die Hälfte meines zerbeulten Leinenanzuges ausmachte, und folgte meinem Chef in den Flur. Er ging mir kaum bis zur Schulter und hatte nur noch schütteres Haar. In wenigen Jahren würde er in Pension gehen. Ich hatte ihm schon einmal einen Garten vorgeschlagen, weil ich fürchtete, er würde sich als Pensionär vor seinem häuslichen Fernsehgerät rasch totgeärgert haben. Er bildete sich nämlich tatsächlich ein, zu den Speerspitzen des Kampfes gegen die Korruption im Lande zu zählen.

„Ach ja“, hielt er mich für Sekunden an der Schulter zurück, bevor er in seinem Büro verschwand. „Könntest du freundlicherweise Mama Josipovic bitten, mir ein Stück Käsetorte und ein Kännchen Schokolade zu schicken?“

„Selbstverständlich.“

Ich deutete eine grüßende Handbewegung an und nahm die Treppe nach unten.

Er aß für sein Leben gern Käsetorte, was man ihm auch ansah. Ich seufzte, weil mir die Frau mit den Stöckel-schuhen wieder einfiel – und damit Dejica. Dejica wäre weder jemals auf die Idee gekommen, sich derart gewaltsam Krampfadern zu verordnen, noch jeden Tag ein Stück Käsetorte in sich hineinzustopfen. Sie hätte freilich auch nicht das Geld dafür gehabt. Wenn es noch so war! Was aber meinen Chef betraf, so erachtete er bereits den Auftrag mit der Käsetorte als Bestandteil seines Kampfes gegen die Korruption. Er hätte natürlich auch in der Konditorei anrufen können. So jedoch hatte er dem Steuerzahler wieder die Gebühren für ein Telefongespräch erspart.


2

Da wir Juni hatten, war die Domgasse entsprechend überfüllt. Zamir wurde Sommer für Sommer von unzäh-ligen Touristen überschwemmt. Der Dom lag etwa auf halber Höhe zwischen Hafen und der Macchia, die sich am Vorgebirge hinaufschiebt. Der ausgedehnte Platz, den der Dom verschandelte, wimmelte vermutlich wie immer von Andenkenhändlern und Straßenmusikanten, die sich gegenseitig die Ohren vollbrüllten. Er blieb mir an diesem Vormittag erspart, weil die ansteigende Domgasse an ihm endet. Ich war schon drauf und dran, mir eine Verschnauf-pause bei einem Pastis zu gönnen, als ich meine beiden Kollegen Milan und Ante von der Schutzpolizei erspähte. Sie standen im schattigen Torbogen eines dreigeschossigen Hauses, das im Erdgeschoß zwei eher schmale, hohe Schaufenster hatte. Dort lag die Polsterei Branko Vlasics, wie eine Tafel verkündete, die zwischen den Fenstern über der Eingangstür angebracht war. Merkwürdigerweise waren die Scherengitter herabgelassen. Sollte der Todesfall bereits so rasche Folgen gezeitigt haben?

„Schön, daß du dich bei dieser Hitze herbemüht hast!“ grinste Milan und gab mir seine recht stark behaarte Hand. „Und auch noch zu Fuß?“

Ich nickte und schüttelte auch dem blonden, geschniegel-ten Ante die Hand, der noch keine 30 war und in seinem kurzärmligen, hellblauen Uniformhemd fast wie ein Barkeeper aus der gegenüber liegenden Taverne aussah. „Man tut, was man kann. Ich will nicht so dick werden wie mein Chef.“

Milan behielt sein Grinsen bei, winkte aber zusätzlich mit dem Daumen in die Durchfahrt. „Wir müssen in den Hof. Der Leichenwagen war bereits hier. Aber Ante hat fleißig Bilderchen gemacht.“

Es waren nur wenige Schritte. Der Hof erwies sich als ein von recht hohen Mauern begrenzter ansteigender Schlauch, der vor einem Felsen des Vorgebirges endete. Dort glänzte er mit einer alten Badewanne in der Sonne. So weit ich sah, diente die Wanne als Tomatenbeet. Die Rückfront des Hauses lag im Schatten. Sie wies zwei übereinander liegende Balkone auf. Am oberen Balkon war die nächste Merkwürdigkeit zu erblicken: das Geländer fehlte. Aber es lag nicht etwa im Hof. Dafür standen wir vor einem Rollstuhl, der auf der Seite lag. Milan wischte mit dem Handrücken über das nach oben zeigende Rad, ohne daß sich dieses dadurch in Bewegung gesetzt hätte. Dann nickte er am Haus hinauf und erklärte:

„Wir nehmen stark an, die alte Frau ist mitsamt ihrem Rollstuhl vom oberen Balkon gefallen – oder wie man das nennen soll. Die Balkontür steht ja auf, wie du siehst. Womöglich fehlt das Geländer, weil der Balkon gerade saniert wird. Trotzdem benutzte ihn die Frau, sofern unsere Annahme zutrifft. Der Arzt sagt, sie war gleich tot: Genickbruch. Er schätzte, sie sei nicht früher als höchstens zwei Stunden vor unserem Eintreffen zu Tode gekommen. Wir sind natürlich gleich ins Haus gegangen, um vielleicht Auskünfte zu erhalten und Zeugen aufzutreiben, aber es scheint niemand da zu sein. Die Polsterei hat ein Schild in der Tür hängen: Geschlossen, und an den beiden Wohnungstüren rührt sich nichts. Man müßte in der Nachbarschaft fragen.“

Ich nickte und dachte über Milans Eröffnung nach, während ich meinen Blick schweifen ließ. Ante griff in sein schickes Umhängetäschchen aus genarbtem, braunem Leder und ergänzte:

„Willst du mal die Bilder sehen?“

Auch dazu nickte ich. So reichte er mir die kleine Digitalkamera, die er stets mit sich zu führen pflegte.

Sie war eine klapperdürre, weißhaarige Greisin mit starken Backenknochen gewesen. Ihre Friseuse konnte man bedenkenlos weiter empfehlen: ihre helmartige Dauer-wellenfrisur hatte bei dem Absturz kaum gelitten. In Ohrnähe waren allerdings Platzwunden zu sehen. Ihr gefrorener Blick zeigte noch, wie ich jedenfalls vermutete, ihre Angst vor dem Fall.

„Wie seid ihr eigentlich hierher gekommen?“ wollte ich von meinen Kollegen wissen. „Wenn doch das Haus verwaist ist?“

„Sieh an“, spottete Ante, „die Kripo!“

Milan übernahm die Antwort. „Ein Touristenpaar hatte sich in den Hof verirrt. Sie sahen die Leiche und rannten gleich in die Taverne auf der anderen Gassenseite. Der Kellner alarmierte die Polizei und spendierte den beiden neuseeländischen Gästen unserer bezaubernden Küstenstadt eine Runde Kognak.“

„Habt ihr die Personalien und die Hotelanschrift der beiden?“

„Selbstverständlich.“

Ich verstülpte meine Lippen, nickte anerkennend und sagte nach einem erneuten Rundblick durch den Hof:

„Ich glaube, den Rest schaffe ich allein. Grüßt mir den Kellner und macht mir später einen schönen Bericht!“

Sie grinsten sich an, nickten mir zu und verschwanden in der Durchfahrt.


3

Bevor ich die Feuerleiter nahm, rüttelte ich an ihr; ein Unfall war schließlich genug. Sie schien noch fest in der Hauswand verankert zu sein. Sie war mir bereits aufge-fallen, bevor mich Milan und Ante verließen. Zwar war sie nicht neben den beiden Balkonen angebracht, aber unter Einbeziehung eines Fenstersimses konnte ich den oberen Balkon trotzdem erreichen.

Vom Geländer keine Spur, nimmt man einmal die Halte-rungen aus. Vielleicht war es in irgendeine Schlosserei verfrachtet worden, wo es, durch neue Stäbe oder Gitter ergänzt, zur Minute einen hübschen, tomatenroten Anstrich erhielt, der später trefflich mit der 20 Meter entfernten Badewanne korrespondieren würde. Das Haus war weiß verputzt. Der Balkonfußboden zeigte einen grauen Estrich, der jedenfalls nicht erneuert worden war.

Da die Balkontür sowieso aufstand, betrat ich die Wohnung. Von der anderen Hausseite aus hatte man einen herrlichen Blick über die halbe Altstadt und die ganze Bucht von Zamir, lag doch das gegenüber liegende Haus der Taverne niedriger als das, in dem die verstorbene Frau Zlata Mikulinez gewohnt hatte. So stand es auf Briefen, die ich fand. Wie sich versteht, ließ ich meine Blicke nicht völlig arglos aus den auf die Domgasse gehenden Fenstern schweifen, aber niemand lauerte mir auf und fiel mich an.

Für eine alleinstehende, gebrechliche Greisin war die Wohnung eher zu groß. Im Schlafzimmer stand noch ein altmodisches Doppelbett, das aber offensichtlich nur zur Hälfte genutzt wurde. Die Wohnung machte einen durchaus sauberen, wenn auch etwas schäbigen, davon abgesehen spießigen Eindruck. Ich wunderte mich fast, keinen Vogelbauer und kein Katzenklo zu entdecken. Die Wohnungstür war verschlossen. Es gab eine Kette, aber sie war nicht eingehakt.

Nachdem ich mehrere Schlüssel eines Bundes ausprobiert hatte, das an einem Brettchen hing, betrat ich den Haus-flur. Ich spähte eine Stiege empor, die auf den Dachboden führte, ohne sie zu nutzen. Eins tiefer wohnte offensicht-lich der Polsterer, stand doch Branko Vlasic an der Wohnungstür. Mein Klingeln ließ ihn ungerührt, falls er zu Hause war. Im Erdgeschoß gab zu meiner Verblüffung die Klinke einer Tür nach, die mich in Vlasics Werkstatt führte. Sie wirkte aufgeräumt und verwaist. Die Schatten der geschlossenen Scherengitter zur Gasse hin wurden von der Mittagssonne schräg auf das gediegene Linoleum des Werkstattfußbodens geworfen. Im Gitterschatten der gleichfalls verglasten Eingangstür sah ich jetzt auch das an die Scheibe geklebte Schild, das mir bei meinem Eintreffen am Unglücks- oder Tatort nicht aufgefallen war. Wie ich später von außen las, verkündete es Wegen Krankheit vorübergehend geschlossen.

Ich vergewisserte mich, daß sowohl die Haus- wie die Hoftür verschlossen waren, und ging wieder nach oben, weil ich mich noch einmal auf dem Balkon umsehen wollte. Ich verschloß Frau Mikulinez' Wohnungstür und verstaute das Schlüsselbund in der Innentasche meines Jäckchens, ehe ich wieder ins Freie trat. Hatten wir Pech, war der Balkon von Nachbarn kaum einzusehen. Gen Süden wurde der Hof, bevor die Mauer anfing, von einem alten Stallgebäude begrenzt, das sich im rechten Winkel an das lückenlos angebaute Nachbarhaus anschloß. Dieses Quergebäude wies, statt Fenstern, lediglich ein paar Schlitze auf, die an Schießscharten erinnerten. Gen Norden jedoch, zum Domplatz hin, fielen die Nachbarhäuser hinter die Fluchtlinie zurück, weil die Domgasse just bei der Polsterei einen Knick beschrieb.

Ich setzte, im Interesse des Gemeinwohls, erneut mein Leben aufs Spiel, hangelte mich auf den erwähnten Fenstersims und gelangte so wieder auf die rostige Feuerleiter. Auf halber Höhe angekommen, vernahm ich von der Nordseite her eine Frauenstimme.

„Sie sind ja wohl kein Ganove? Ist die arme Frau wirklich tot?“

Ich bog meine Nase um die Hausecke. Die Frau schüttelte gerade ein Tuch aus einem Fenster des Nachbarhauses, wobei sie es freundlicherweise vermied, mich in eine Staubwolke zu hüllen. Sie wollte mich ja ganz genau sehen. Ich schätzte, sie war nicht viel jünger als die Verstorbene, freilich vollbusig. Ich sagte:

„Müßte ich mich nicht an dieser Rostbeule hier sorgfältig festhalten, könnte ich Ihnen meinen Polizeiausweis zeigen. Ja, sie ist leider tot. Kannten Sie Frau Mikulinez?“

„Naja, was heißt schon kennen? Das Haus gehört – oder gehörte ihr. Sie saß oft auf ihrem Balkon. Das Geländer hat der junge Vlasic neulich abmontiert und in seinen Kastenwagen geladen, den Polsterer meine ich. Er war ihr Neffe, und er betreute sie wohl auch. Ist er nicht da?“

„Leider nicht. Jedenfalls habe ich vergeblich an seiner Wohnungstür geklingelt, und seine Werkstatt hat er ja geschlossen.“

„Ja, weil er von der Leiter gefallen ist und sich die Hand gebrochen hat, so viel Pech auf einmal!“ rief die Nachbarin in weinerlichem Tonfall aus. „Vielleicht ist er in diesem sogenannten Haus der Weißen, wo sie immer Billard spielen.“

„Tut er das?“

„Ja, tut er. Schließlich kann er nicht den ganzen Tag neben ihrem Rollstuhl sitzen und ihr das Händchen halten.“

Ich schmunzelte nur innerlich. Zudem fragte ich mich, wie einer mit einer gebrochenen Hand Billard spielen wolle, schließlich handelte es sich nicht um Fußball. Aber von alledem verriet ich meiner neuen Flamme nichts. Ich sagte:

„Haben Sie das Unglück zufällig verfolgt oder sonst eine sachdienliche Beobachtung gemacht? Gab es Lärm? Streit? Besuch?“

Natürlich hatte sie nicht. So weit ging ihre Nächstenliebe nicht, daß sie der Polizei unter die Arme griff.

Ich dankte ihr und setzte meinen Weg zum Hof fort. Heil wieder unten angekommen, hielt ich zielstrebig auf den halb umgekippten Rollstuhl zu, während ich mir den Rost von den Handflächen zu streifen suchte. Dann eiferte ich Ante nach, zog meine Digitalkamera aus der Jacke und fotografierte den Rollstuhl mehrmals. Dabei nahm ich mir, in Naheinstellung, besonders dessen Bremsen vor. Darauf hatte mich ein fast nagelneues Mountainbike gebracht, das ich in Vlasics Polsterwerkstatt entdeckt hatte. Auch Fahr-räder haben schließlich Bremsen. Bei dieser Entdeckung hatte es in mir geklingelt. Die beiden Bremsen des Rollstuhls bestanden aus verhältnismäßig primitiven Bügeln, die durch Betätigung eines kleinen, einrastbaren Hebels auf die Reifen gepreßt werden konnten. Dies war hier der Fall: Die Bremsen des vom Balkon gefallenen Rollstuhls waren angezogen.

Nachdem ich meine Kamera wieder verstaut hatte, ver-tauschte ich sie mit meinem Handy. Ich erklärte meinem Chef, möglicherweise sei der Unglücks- ein Tatort; es sei etwas faul. Ob er mir einen Kollegen von der Spuren-sicherung schicken könne? Das lasse sich machen, sagte er nach kurzer Gesprächspause. Zvonimir treffe in spätestens 30 Minuten bei mir ein. Wo er mich fände?

„Im Admiral. So heißt die Taverne genau gegenüber, falls Sie sie nicht kennen. Es soll dort gutes Mittagessen geben.“


4

Ja, es schmeckte mir. Dafür waren die Preise gesalzen. Ich hatte mich auf die Gasse gesetzt und nach dem Servieren gleich bezahlt, um sofort abkömmlich zu sein, sobald Zvonimir einträfe. Außerdem behielt ich so die Toreinfahrt von Frau Mikulinez' Haus im Auge. Ich wollte nicht, daß jemand den Rollstuhl anrührte.

Aber ich hatte sogar noch Zeit für einen Espresso. Wäh-rend ich ihn schlürfte und die Schatten der gen Dom strebenden Touristen, die über die beiden Eingangsstufen vor Vlasics Ladentür glitten, nach Nationalitäten zu ord-nen suchte, mußte ich in der Hauptsache doch wiederholt an Dejica denken, mit der ich einmal auch im Admiral gespeist hatte. Wie sich versteht, hatte ich sie eingeladen. Mein Gehalt als Kriminalkommissar war nicht gerade üppig, aber im Vergleich zu Dejica lebte ich fast auf großem Fuß. Sie hielt sich als Musikerin über Wasser. Sie war eine begnadete Marimbaspielerin, nur war das noch nicht an die Ohren jener maßgeblichen Damen und Herren gedrungen, die in Zamir bestenfalls einmal Kurzurlaub machten. Eine Marimba ist so ein Xylophon, wo die klingenden Holzstäbe mit mehr oder weniger weichen Schlegeln angeschlagen werden. Unter den Stäben hängen Schallröhren, die an Orgelpfeifen erinnern. Der Klang ist warm. Dejicas Marimba war fast so groß wie ein traditioneller, von zwei Pferden gezogener Leiterwagen für Heufuhren, freilich im Gegensatz zu diesem leicht zerlegbar. Sie trat mit drei Leuten, die Contrabaß, Oboe und Percussion spielten, in Musikkneipen und kleineren Veranstaltungssälen auf. Sie konnte mit ihren Polypen-armen und -beinen an ihrem Instrument umher fuhrwerken, daß man nur noch Kreise sah. Trug sich Ähnliches auf meinem falschen Perserteppich in trauter Zweisamkeit zu, sah man ebenfalls nur noch Kreise. Sie hatte trotz ihres ranken Wuchses eher volle Brüste, bei denen ich buchstäblich die Glocken zu hören pflegte. Aber das war vorbei. Ich hatte sie vor rund drei Monaten das letzte Mal gesehen. Jedesmal, wenn ich in einer Gestalt auf der Straße ihren leichtfüßigen Gang und ihre walnuß-braunen Fransen um die Ohren zu erkennen glaubte, fiel mir das Herz in die Hose, weil ich befürchtete, eine Wiederbegegnung mit ihr nicht überleben zu können. Da ließ ich mich lieber von Heckenschützen von verrosteten Feuerleitern schießen.

Ich tastete unwillkürlich zu meiner Hüfte. Die Achselhöhle ersparte ich mir dann: ich hatte meine Dienstwaffe gar nicht dabei. Sie lag in meinem Büro im Safe. Ich holte sie nur in seltenen Fällen hervor, etwa auf Anordnung meines Chefs. Zu den größten Alpträumen vieler Polizisten gehört die Vorstellung, ihre Dienstwaffe zu verlieren, ob durch Schlamperei oder Diebstahl. Da lag sie im Safe sicherer. Allerdings galt das nicht für uniformierte Streifenpolizisten wie Milan und Ante.

Die Domgasse war Fußgängerzone, aber gewisse Staatsdiener hatten natürlich trotzdem das Recht, sie zu befahren. Als ich in der abschüssigen Tiefe der Domgasse Zvonimirs Kleinbus ausmachte, erhob ich mich sofort aus meinem ächzenden Korbsessel, weil ich nicht Gefahr laufen wollte, des Kollegen Neid zu erwecken. Die Leute von der Spurensicherung werden schlechter bezahlt als wir Kommissare und bekommen auch unabhängig davon gern bedeutet, sie zählten nur zum Proletariat des Polizei-präsidiums. Dabei waren sie echte Fachleute, mit allen Wassern gewaschen.

Ich winkte Zvonimir in Frau Mikulinez' Hausdurchfahrt und folgte ihm.


5

„Du hast recht“, sagte Zvonimir, nachdem er einige Blicke zwischen dem Rollstuhl und Frau Mikulinez' geländer-losem Balkon gewechselt hatte, „die Sache stinkt.“

Dann dachte er wieder nach, wobei er sich mit beiden Händen sachte unter seinem leicht hervorhängenden Bauch kratzte. Das machte er im Sommer immer. Er hatte als Oberbekleidung nur ein zitronengelbes Polohemd an. Soweit ich wußte, war er glücklich mit einer diplomierten Maschinenbauingeneurin verheiratet, mit der er schon einen Schlag Kinder hatte. Jetzt fuhr er fort:

„Gewiß – wenn man so kühn ist, als Greisin im Rollstuhl auf einen Balkon ohne Geländer zu fahren, ist man sicherlich gut beraten, die Bremsen des Rollstuhls festzustellen, ehe man vor lauter Hitze einnickt. Hätte die alte Dame jedoch geplant, sich in selbstmörderischer Absicht aus ihrem abgebremsten Rollstuhl in ihren Hof zu stürzen, wäre der Stuhl kaum hinter ihr hergefallen. Somit müßten wir hier vor einem Rollstuhl mit gelösten Bremsen stehen – was ersichtlich nicht der Fall ist. Was schließen wir daraus?“

Ich grinste. „Sie hat beim Kippen hinter sich gegriffen, um ihren abgebremsten Rollstuhl mit ins Verderben ziehen zu können. Vielleicht dachte sie, dann bewilligt die Versiche-rung wenigstens einen neuen Rollstuhl, den mein Enkel benutzen kann, wenn es so weit ist.“

Damit brachte ich Familienvater Zvonimir sogar zu einem gutmütigen Lachen. Er schlug neckisch nach mir und sagte:

„Wir sind uns also einig. Das Opfer wurde möglicherweise oder sogar wahrscheinlich von einer anderen Person mit-samt ihres abgebremsten Rollstuhles in den Hof gestürzt. Bei dem schmalen Balkon ist das ein Kinderspiel, wenn die Frau wirklich so dürr war, wie du sagst. Hatte sie Kinder?“

„Keine Ahnung. Mir wäre schon geholfen, wenn ich ihren Neffen auftriebe. Das ist der Polsterer aus dem Erdge-schoß. Ich werde mich nach ihm auf die Socken machen, sobald wir unsere kleine Konferenz beendet haben.“

„Gut“, sagte Zvonimir und faßte wieder den Rollstuhl ins Auge. „Bliebe nur noch zu klären, ob sich die Bremsen durch einen Aufprall womöglich von selbst feststellen können. Das wäre für unsere Theorie ziemlich peinlich.“

„Glaubst du an diese Möglichkeit?“

Er wog sein Haupt, um es schließlich zu schütteln. „Kaum. Umgekehrt wäre es einleuchtender: wenn sich die Brem-sen durch den Aufprall lösten. Aber man muß es unter-suchen. Das heißt, Experten fragen, zum Beispiel die Inge-nieure des Herstellers oder die von der Zulassungsstelle.“

„In Ordnung“, sagte ich und nickte auf den kleinen Polizeibus, der in seinen Einbauschränken zahlreiche Werkzeuge und Materialien enthielt, die man beim Sichern von Spuren gut gebrauchen kann. „Nimm die Gurke mit, Zvonimir, und mach dich bitte schlau.“

Wir hoben den Rollstuhl gemeinsam durch die Hecktür in den Bus, wo ihn Zvonimir mit Spanngurten verzurrte. Als er wieder im Hof stand, nickte er zu Frau Mikulinez' Balkon hinauf:

„Soll ich jetzt mal da oben nachsehen?“

Ich nickte und griff in meine Jacke. „Ja, sei so gut. Vielleicht findest du ja Spuren von einem Einbruch, oder Fingerabdrücke von Jack the Ripper oder sonst was Aufregendes.“

Ich drückte ihm das Schlüsselbund in die Hand und ergänzte überflüssigerweise: „Wenn du fertig bist, schließ wieder schön ab und versiegele die Bude. Vergiß die Balkontür nicht. Ich verschwinde jetzt.“

Er schenkte mir einen mit den Augen wringenden Abschiedsblick, nahm seinen Instrumentenkoffer aus dem Wagen, verschloß diesen und ging zur Hoftür, an der er auf Anhieb den richtigen Schlüssel erwischte. Ich tauchte in die Durchfahrt.


6

Bevor ich den Weg zum sogenannten Haus der Weißen einschlug, nahm ich in den Nachbarhäusern die unum-gängliche Erkundung vor. Es war ja nicht auszuschließen, daß ich doch noch fündiger wurde als bei der Vollbusigen, die mir etwas vom Händchenhalten erzählt hatte. Aber so war es leider nicht. Die Taverne Admiral hatte erst um 10 Uhr aufgemacht. Der Kellner hatte keine BewohnerInnen oder BesucherInnen des gegenüber liegenden Hauses gesehen oder jedenfalls nicht auf sie geachtet. Das Höchste war die Bestätigung eines jungen Mannes, der in einem Nachbarhof ein Mofa reparierte, Frau Mikulinez habe in der Tat so gut wie jeden Tag auf ihrem Balkon gesessen. Von ihrer heutigen Sitzung wußte er nichts.

Ansonsten hatte ich noch erfahren, sie sei Witwe eines früh verstorbenen höheren Postbeamten gewesen. Das traf sich insofern, als ich nun zum ehemaligen Postamt Zamirs unterwegs war, denn eben in diesem war vor einigen Jahren ein Jugend- und Kulturhaus eingerichtet worden, das aus nachvollziehbaren Gründen Haus der Weißen getauft worden war. Zum einen war das wuchtige Gebäude aus weißen Kalksteinquadern erbaut, zum anderen bezog sich der Name auf die Weiße, die beim Billard der Spielball ist. Von innen kannte ich dieses Jugend- und Kulturhaus nicht. Ich wußte nur, es beherbergte neben dem Billardsalon auch Übungskeller für Bands. Die Gruppe, in der Dejica spielte, zählte nicht dazu, sonst hätte ich sicherlich mehr von dem Gebäude gewußt. Sie hatten – zu meiner Zeit – stets bei dem Contrabassisten geübt, der unweit des Hafens ein schmalbrüstiges ehemaliges Speicherhäuschen gekauft und umgebaut hatte. Da ihre Marimba dort stand, war Dejica natürlich so gut wie täglich dort gewesen. Ich hatte anfangs in dem Contrabas-sisten meinen größten Nebenbuhler geargwöhnt, doch damit hatte mich meine Kommissarnase genarrt: er entpuppte sich als schwul.

Das Haus der Weißen war oberhalb des Hafens in einer Ausbuchtung der Hauptstraße an den Hang gebaut. Aus den Fenstern des Souterrains quoll laute Musik. Der Billardsalon schien im Hauptgeschoß zu liegen, zu dem eine ausladende Freitreppe führte, die am Fuß von zwei eingekübelten Lorbeerbäumchen flankiert wurde. Offenbar war hier alles weiß, die Blumenkübel, das Treppengeländer und die zweiflügelige Eingangstür am Kopf der Treppe eingeschlossen. Über der Tür wölbte sich allerdings in schwarzen Lettern der Haus- oder Salonname. Wie ich mich zu erinnern glaubte, wurde er nach Einbruch der Dämmerung angestrahlt.

Die Flügeltür führte unmittelbar in den Billardsalon. Nur von einigen Pfeilern durchbrochen, schien er das ganze Hauptgeschoß einzunehmen. Der halbrunde Empfangs-tresen, gleichzeitig Bar, lag dem Eingang gegenüber. Zu den drei Personen, die in rund sieben Metern Entfernung von mir auf Barhockern thronten, zählte ein etwas stiernackiger Hüne um 40, der möglicherweise Angst vor den Verfolgungen seitens seiner Schwiegermutter hatte, denn genau so sah er mich an. Ich ließ mir natürlich nichts anmerken. Ich machte zunächst einen kleinen Erkun-dungsgang durch die Reihen der beiderseits gelegenen Billardtische. Für die Mittagszeit war der Salon gut bevölkert. An jedem zweiten Tisch wurde gespielt. Da ausgesprochen große, mit grünem Tuch bespannte Tische vorherrschten, dämmerte mir, in diesem Salon werde vornehmlich Snooker gespielt. Ich hatte von dieser Billardvariante einmal etwas im Fernsehen mitbekommen, kannte mich allerdings nicht damit aus. Spielte ich hin und wieder mit meinem Kollegen Stjepan in dessen Stamm-kneipe eine Partie Pool-Billard, war es schon viel. Wie ich einem Schwarzen Brett entnahm, das in der Südhälfte des Saales an der Wand hing, konnte die Hauptstätte meines polizeilichen Wirkens sogar mit einem Snookerclub glänzen. Er nannte sich Zeder Zamir und spielte, man höre und staune, in der Zweiten Nationalliga, die er in der zurückliegenden Saison mit einem Platz im oberen Mittelfeld abgeschlossen hatte. Die erste Riege des Clubs umfaßte fünf SpielerInnen, die mich in Farbe von einem ausgedruckten Mannschaftsfoto anlächelten. Der Hüne, der im Augenblick von der Bar aus unauffällig meinen Spaziergang durch den Salon verfolgte, zählte dazu. Er hieß Branko Vlasic.

Ich verschwand zunächst hinter der Toilettentür, die ich inzwischen entdeckt hatte. Anschließend schob ich mich an der Bar neben Vlasic auf einen freien Hocker und bat den jungen Mann hinter dem Tresen um einen Cappucino mit Sahne. Nachdem ich das Getränk gekostet und für gut befunden hatte, wandte ich mich an meinen Nachbarn:

„Entschuldigen Sie bitte – ich nehme an, Sie sind der Polsterer Branko Vlasic aus der Domgasse?“

Er zwang sich zu einem Lächeln. „Ja, das ist richtig.“

Ich hatte nicht den Eindruck, er werde mir sogleich ein Autogramm geben, weil er einen neuen Zeder-Zamir-Fan in mir vermute. Sein kantiger Schädel wurde von einem dunklen, nach hinten gekämmten Bürstenschnitt gekrönt, der unter der Beleuchtung eines Snookertisches wahr-scheinlich wie die Adria in der Mittagsglut aufblinkte. Er war tadellos rasiert. Ich nickte hinter ihn zum Ende des Bartresens, wo ein paar runde Cafehaustischchen standen, und fuhr fort:

„Mein Name ist Danilo Matavulj. Würden Sie sich für einen Moment mit mir an einen Tisch setzen? Ich hätte etwas Familiäres mit Ihnen zu besprechen.“

„Warum nicht?“ erwiderte er mit einem etwas verlegenen Lächeln – vielleicht, weil der Barkeeper guckte.

Nachdem wir am Tisch saßen, meinen Cappucino und sein Mineralwasserglas zwischen uns, erklärte ich Vlasic, ich hätte eine schlimme Nachricht für ihn, wobei ich ihm meinen Polizeiausweis unter die kräftige Nase hielt. Er verkniff seine tiefliegenden Schweinsäuglein und nickte zum Zeichen dafür, meine Autorität anzuerkennen. So ergänzte ich:

„Ihre Tante Zlata hat sich umgebracht, Herr Vlasic.“

Wahrscheinlich lagen seine Stärken eher im Stellungsspiel auf dem grünen Tischtuch, nicht im Schauspielern. Ich war ziemlich sicher, er wußte es bereits. Trotzdem stammelte er:

„Tante Zlata? Sie hat sich umgebracht? Ja, wo denn, wie denn?“

Ich erklärte es ihm. Dann schob ich die naheliegende Frage nach dem Warum nach. Aber dazu trug er nur vor, was vermutlich für 1.000 andere gebrechliche alte Einwohner-Innen Zamirs genauso gut galt: Seit einem Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselt, in letzter Zeit auch zunehmende Sehschwäche der 79jährigen, ihre Hilfsbedürftigkeit und entsprechende Abhängigkeit und so weiter. Als ihm nichts mehr einfiel, kippte er sich mit einem Ruck den Rest Mineralwasser in den Rachen und sagte, während er bereits Anstalten zum Aufstehen machte:

„Ja, dann will ich doch gleich einmal zu ihr gehen!“

Aber ich nötigte ihn mit einem Klaps auf die Schulter wieder auf seinen Stuhl und erklärte ihm, seine Tante befinde sich bereits im Leichenhaus und ihre Wohnung sei amtlich versiegelt worden.

Jetzt schien er aufrichtig erschrocken. „Warum denn
das ..?“

„Reine Routine“, winkte ich ab. „Da in solchen Todesfällen Fremdeinwirkungen nicht immer völlig auszuschließen sind, müssen wir die möglichen Spuren am Unglücksort entsprechend sichern ... Apropos, Herr Vlasic – aus demselben Grund bitte ich Sie auch, mir die Frage zu verzeihen, wo Sie sich heute vormittag zwischen 9 und 12 Uhr aufgehalten haben.“

„Hier!“ nickte er durch den Salon und sah mich fast belustigt an.

Seine Antwort klang verdammt selbstsicher. Wie ich den Kleiderschrank einschätzte, war er eher im Ungleichge-wicht, aber was sein Alibi anging, schien er sich sicher zu sein, ein As aus dem Ärmel gezogen zu haben.

„Wüßten Sie ein paar Anwesende, die Ihre Angabe bestätigen könnten?“

Er sah sich situationsgerecht um und nannte mir im ganzen drei Personen. Ich bat ihn zu warten und befragte die Zeugen sogleich. Sie bestätigten seine Angabe. Der Barkeeper erklärte, Branko stelle sich seit seinem Unfall häufig schon morgens zum Training ein, wenn der Salon aufmache, das war um Neun, und so auch heute. Vorübergehend abwesend sei Vlasic auch nicht gewesen, das wäre ihm bestimmt aufgefallen. Was denn los sei? Ich beschwichtigte ihn wie ich es schon mit Vlasic selber gehalten hatte. Zu meiner Erheiterung trug die Befragung eines Mannes um 30 bei, der gerade an Tisch Sieben versuchte, eine langbeinige Blondine in die Geheimnisse des freeballs einzuweihen, wie ich mitbekam. Auf dem Foto am Schwarzen Brett war er als Mannschaftsführer bezeichnet. Er hatte meine mittlere Größe, war aber etwas rundlicher. Sein dunkelblonder Igelschnitt unterstrich den verschmitzten Zug in seinem Mondgesicht, den man mir ja ebenfalls nicht unterstellen konnte. Und um das Maß voll zu machen, sprachen sowohl die Langbeinige wie Vlasic von ihm als Zamirsteigtauf. Das war sein Spitzname! Dessen Geheimnis – im Grunde offensichtlich – enthüllte mir erst am späten Abend ein Mann namens Fritz, der mich noch viel beschäftigen sollte. Die Langbeinige war nicht auf dem Mannschaftsfoto zu sehen. Es zeigte eine andere Frau, eine eher kleine mit rotem Schopf, die ich im Salon nicht entdecken konnte.

Vlasic hatte meine Umfrage mit gespielter Gleichgültigkeit verfolgt. Zu ihm zurückgekehrt, verzichtete ich darauf, wieder Platz zu nehmen. Ich sagte:

„Da Sie Ihre Tante sowieso sehen wollten, Herr Vlasic, werden wir das jetzt organisieren. Um jeden Irrtum auszuschließen, muß sie nämlich von einer Person, die sie gut kannte, identifiziert werden. Wenn Sie mich jetzt ins nahe Polizeipräsidium begleiten würden – es liegt am Ziegenmarkt – besorge ich uns einen Wagen, dann fahren wir ins Leichenschauhaus. Anschließend bringe ich Sie selbstverständlich wieder hierher oder auch nach Hause, ganz wie Sie wünschen.“

Er nickte nur und erhob sich sofort. Im Vorübergehen versicherte er dem Barkeeper: „Bin gleich wieder da, Boris, falls jemand fragt.“

Ich zahlte meinen Capuccino und folgte Vlasic, der mir sogar den Türflügel aufhielt. Die heiße Grelle, die uns entgegenschlug, machte mir klar, daß der Billardsalon – der ja nicht wenig durch die Tischbeleuchtungen aufge-heizt wurde – über eine Klimaanlage verfügen mußte. Kein übler Aufenthaltsort, sagte ich mir.


7

Ich bin nicht der einzige Kriminalbeamte, der Verhöre eher zu vermeiden sucht. Im Sinne des Gesetzes sind nur solche Veranstaltungen Verhöre, an deren Beginn eine Rechts-mittelbelehrung des Zeugen oder Verdächtigen steht. Außerdem muß das Verhör protokolliert werden. Der Verhörte kann sogar darauf bestehen, nur im Beisein eines Rechtsanwaltes vernommen zu werden. Und so weiter. All diese Zeremonien, die sicherlich nicht dazu angetan sind, den Verhörten aufs Glatteis zu locken, lassen sich umge-hen, wenn man ihn beispielsweise in einem Snookersalon oder auf einer Spazierfahrt zum Leichschauhaus aus-horcht. Das ist nicht verboten. Er muß ja nicht antworten. Freilich ist ihm das selten klar, und so plaudert er halt mit. Das Verhör empfiehlt sich eigentlich nur dann, wenn es gilt, den Zeugen oder Verdächtigen einzuschüchtern. Man kann ihn auf diese Weise mitunter sogar zu einem Geständnis bewegen oder in den Selbstmord treiben.

Die Fahrt zur Leichenhalle (und zurück) vermittelte mir ein recht gutes Bild sowohl von Vlasic wie von dessen Tante. Es kam mir ziemlich schlüssig und somit wahrheitsgemäß vor. Immerhin verzichtete der Polsterer darauf, große Betrübnis wegen des Todes seiner Tante zu heucheln. Wahrscheinlich hatte ihn „die Kratzbürste“ – um die er sich ja, neben einer Pflegekraft und einer Putzfrau, Tag für Tag mit gekümmert hatte – oft genug geärgert. Vlasic war kein verschlagener Mensch; er neigte, seiner grobschlächtigen Statur zum Trotze, im Gegenteil zur Einfalt. Er erregte sich sogar jetzt über den Argwohn der Alten – in Gegenwart eines Kriminalkommissars! Er erklärte freimütig, zur Entschädigung für seine Mühen habe ihm Frau Mikulinez einen „Riesenrabatt“ auf die Mieten für seine Werkstatt und seine Wohnung gewährt. Anders hätte er sich, als Polsterer, kaum selbständig machen können, und schon gar nicht auf dem teuren Pflaster der Domgasse. Freilich, nun sehe die Sache schon wieder anders aus, seit diesem Arbeitsunfall. Dabei deutete er auf sein linkes Handgelenk, während wir an einer Ampel auf Grün warteten.

Da sein Handgelenk normal wirkte, fragte ich: „Wann war denn das?“

„Vor rund drei Monaten.“

„Lag der Arm in Gips?“

„Ja, sicher.“

Ich nickte und ließ ihn in dem Glauben, ein Bruch gehöre auf jeden Fall in Gips. Heute werden Brüche auch schon anders festgestellt, beispielsweise durch Stahlbügel, die beiderseits der Bruchstelle verschraubt und dann wie ein Spannschloß angezogen werden.

„Waren Sie durch den Handbruch nicht auch als Snookerspieler lahmgelegt?“

„Gottseidank nicht!“ rief er mit der erwähnten Einfalt aus und strahlte mich beinahe triumphierend an. „Ich bin Rechtshänder. Die Linke benötige ich natürlich als Bock, also als Auflage für das Queue, meine ich, aber das ließ sich einrichten, nachdem wir den Gips im Winkel zwischen Daumen und Zeigefinger ein wenig beschnitten hatten. Ich sage Ihnen, meine Gegner staunten nicht schlecht!“

Darüber konnte ich erst später richtig lachen. Im Moment sprang die Ampel auf Grün, sodaß ich mich dem Verkehr zu widmen hatte. Später weidete ich mich an der Vorstellung, Vlasic habe seine Gegner mit der Gipshand eingeschüchtert, bedroht, verprügelt, ja er habe sogar einen Schiedsrichter mit ihr erschlagen.

Wie sich versteht, sprach ich auch die interessante Frage des Nachlasses der Verstorbenen an. Vlasic behauptete, von möglichen testamentarischen Verfügungen nichts zu wissen. Es gebe noch eine Schwester, in Split, und in Zamir eine Nichte, die ihn bei der Betreuung gelegentlich vertreten habe. Ich notierte mir die Adressen.

Als ich mich am Fuß der Treppe zum Billardsalon mit Handschlag vom Zeugen Branko Vlasic verabschiedete, ging die Uhr gegen drei. Für vier hatte der Chef eine Dienstbesprechung angesetzt, bei der ich sicherlich eine Zusammenfassung zu geben hatte. Der schriftliche Bericht von Milan und Ante steckte bereits in der Innentasche meines Jäckchens. Wie ich über Handy von Zvonimir erfahren hatte, während Vlasic seine tote Tante besichtigte, hatte er die Nachforschungen wegen der Rollstuhlbremsen bereits telefonisch vom Tatort aus eingeleitet, aber selbstverständlich noch keine Ergebnisse vorliegen. Von unserem Chef wiederum habe er erfahren, der Arzt hätte sich inzwischen auf einen Todeszeitpunkt zwischen 9 und 10 Uhr festgelegt. In der Wohnung der Verstorbenen hatte mein Kollege Zvonimir bis dahin keine nennenswerten Spuren gefunden – aber außen am Haus sei ihm etwas aufgefallen. Ich mußte schon vorher lachen, denn nun erzählte er mir etwas von einer verrosteten Feuerleiter, die offensichtlich frisch benutzt worden sei. Er habe Finger-abdrücke abgenommen ... Jetzt wählte ich Zvonimirs Nummer erneut. Er war noch am Tatort. Ich bat ihn, einmal gezielt nach einem Testament Ausschau zu halten, was eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre. Aber ich hatte im Augenblick keine Lust, noch einmal die zwei Treppen zu Frau Mikulinez hinaufzukeuchen. Zvonimir versprach es mir. Ich fragte ihn abschließend, ob er voraussichtlich zu der Dienstbesprechung um 16 Uhr erscheinen könne, was er bejahte.

Ich entschloß mich, den Polizeiwagen einstweilen vorm Haus der Weißen stehen zu lassen und eine nette kleine Bar aufzusuchen, die nur einen Steinwurf entfernt in der Jüdengasse lag. Dort wollte ich die bisherigen Ermitt-lungen bei einem Ingwerschnittchen und jenem Pastis überschlagen, zu dem ich vor Mittag in der Domgasse nicht gekommen war.


8

Ich drang in meiner Vergegenwärtigung nicht sonderlich weit vor. Zunächst lenkte mich „Kescher“ ab. Kaum hatte ich im Le Jüd – so nannte sich die dämmrige Bar – einen Fensterplatz eingenommen, kam er mit seinem Beutegut und seiner Angel schon auf der Jüdengasse angewatschelt. Vielleicht ging er mir stets so nahe, weil er ungefähr in meinem Alter war, Mitte 30. Wahrscheinlich nahm ich ihn als Menetekel. Kescher war der stadtbekannteste Pfandflaschenangler. Der abgerissene Kerl pflegte seine Beute stets in Plastiktüten mit sich zu schleppen, die seinem watschelnden Gang zu allem Unglück auch noch das Merkmal der Volltrunkenheit aufdrückten. Dabei hatte ich ihn nie besoffen erlebt. Etwas unzurechnungsfähig war er offenbar von Hause aus. Er grinste viel und sprach mit sich selber. Er angelte seine Beute mit Hilfe einer Rute, die am Ende in einem Haken auslief, aus sämtlichen städtischen Altglascontainern, mochten sie selbst in der Macchia stehen. Wahrscheinlich war Kescher der einzige Mensch in Zamir, der nicht wußte, warum er überall Kescher hieß. Ich hatte ihm einmal vorgeschlagen, sich einen Handwagen oder wenigstens einen Rucksack zu besorgen, doch das mit Gebell durchsetzte Gebrabbel Keschers hatte mir rasch die engen Grenzen seiner Kommunikationsfähigkeit verdeutlicht.

Ein andermal lief er mir gerade über den Weg, als jenseits der Adria, in Genua, ein sogenannter Weltwirtschaftsgipfel stattfand. Ich sagte mir zunächst, vermutlich gäben die wie aus dem Ei gepellten Damen und Herren, die dort das Rednerpult erklommen, genau das gleiche grinsende oder bellende Gebrabbel wie Kescher von sich, während ihre Platinuhren und Brillantenringe für den Glanz des Vortrags sorgten. Aber dann überkam mich die Lust, meine Dienstpistole aus dem Safe zu holen, die nächste Jacht zu entern und die ganze Bande drüben in Genua zu verhaften. Eben deshalb sprach ich von einem Menetekel. Es kostete mich immer größere Disziplin, eine Gesell-schaftsordnung zu schützen, die ich eigentlich haßte. Aber wenn ich den Dienst quittierte – wovon sollte ich mich dann ernähren? Womöglich stand Branko Vlasic vor einer ähnlichen Frage. Nur hatte ich im Gegensatz zu ihm noch nicht einmal ein schlichtes, solides Handwerk erlernt. Als „Sportskanone“ meiner Schule hatte ich mich gleich nach dem Abitur bei der Polizei beworben. Nun war es zu spät, auf die Karriere eines Olympiasiegers im Zehnkampf oder dergleichen umzuschwenken. Marimba spielte ich auch nicht. Und das betraf gleich den nächsten Zwischenfall, der mich auf meinem Fensterplatz in Le Jüd ereilte: plötzlich tauchte Dejica auf der Gasse auf!

Ich angelte mir sofort eine Zeitung von der Garderoben-leiste, um mich hinter ihr zu verbergen. Zum Glück kam Dejica nicht auf die Idee, ihrer besten Freundin beizu-bringen, was ein Ingwerschnittchen sei, für das sich manche Kerle die Hacken abliefen. Diese Freundin begleitete sie nämlich. Nun war Vedrana sicherlich auch eine liebenswerte Frauensperson, aber ich war im Augenblick doch ein wenig enttäuscht darüber, wenn ich ehrlich sein soll, daß sich Dejica nicht in Begleitung meines Nachfolgers befand. Ich hätte ihn zu gern einmal gesehen. Ich wußte lediglich, er stammte aus Deutschland, hieß Fritz und hatte ebenfalls mit Musik zu tun – wenn auch nur „unter anderem“, wie Dejica betont hatte. Mit anderen Worten: er war ein Universalgenie. Da konnte ich als gescheiterter Zehnkämpfer natürlich nicht mithalten. Was aber meine angeblich so aufregende Berufstätigkeit als Kriminalbeamter anging, hatte Dejica nur zu bald mitbekommen, sie pflegte sich zu ungefähr 80 Prozent auf Büroarbeit, hauptsächlich Aktenstudium, Telefonieren und Maustastendrücken, zu belaufen. Von den vielen Verfol-gungsjagden und stürmischen Verehrerinnen, die der brave Bürger aus dem Fernsehen kennt, konnte ich nur träumen.

Vermutlich werden Sie sich in dieser Hinsicht, im Hinblick auf meine Verflossene nämlich, ebenfalls schon jene Frage nach dem Warum vorgelegt haben, die ich Branko Vlasic gestellt hatte. Die Antwort ist kein Geheimnis. Es lag weniger daran, daß ich nicht mit den Potenzen eines Humphrey Bogart glänzen konnte, vielmehr an meiner „ständigen Schwarzseherei“, wie sich Dejica auszudrücken pflegte. Salopp und natürlich falsch gesagt, ging ihr mit der Zeit meine Angewohnheit auf den Sack, allen Dingen und Lebenslagen zunächst mit Skepsis, Bedenken, Vorbehalten zu begegnen – sogar ihr. Sie wollte einen Liebhaber, der die Dinge zunächst begrüßte, ehe er sie vielleicht vor den Kopf stieß, weil sie nach Unheil stanken. In diesem Zusammenhang betonte sie das vielleicht, weil sich die Dinge ja, so argumentierte sie, oft gerade deshalb gar nicht erst zum Schlechten wendeten, weil wir sie wohlwollend aufgenommen hätten. Es schalle aus dem Wald, wie man hineinrufe, ergänzte sie als Musikerin. Das war natürlich schwer zu widerlegen. Allerdings ist es nicht minder schwer, über den eigenen Schatten zu springen. Ich war nun einmal vom Naturell her ein Skeptiker. Eben ein Kriminalkommissar.


9

Die für 16 Uhr angesetzte Dienstbesprechung war erfreu-lich kurz. Nach 40 Minuten durften wir uns entfernen. Was den Fall Mikulinez betraf, sollte ich ihn einstweilen solo weiter verfolgen. Der Presse gegenüber möge ich in der üblichen kurzangebundenen, wenn auch gummiartigen Verlautbarung davon sprechen, anscheinend liege ein Selbstmord vor. Was vordringlich geklärt werden mußte, war selbstverständlich die Frage, wer ein Motiv für die Ermordung der alten Frau hatte oder haben konnte. In dieser Hinsicht leistete Zvonimir gleich einen gewichtigen Beitrag – wie er jedenfalls meinte. Er war etwas zu spät erschienen. Jetzt holte er ein Papier aus seiner Jacke, glättete es aufreizend langsam auf dem Konferenztisch und faßte seinen Inhalt mit den Worten zusammen, Haupt- und Alleinerbe der Verstorbenen sei ihr Neffe Branko Vlasic. Er halte das Testament – das vor rund drei Jahren mit der Hand verfaßt worden war – für echt, habe er doch in der Wohnung noch eine Menge andere Schriftstücke mit der Handschrift der Verstorbenen vorgefunden. Wie sich verstehe, müsse das noch überprüft werden.

Ich dankte Zvonimir und nahm das Testament an mich. Ein Kollege, der schon seit Jahren nicht völlig davon überzeugt war, die Schärfe meiner Gehirnrinde reiche für die Erfordernisse der Behörde am Ziegenmarkt aus, schlug mir noch vor, möglichst rasch die jüngere Geschichte des Balkongeländers der Verstorbenen zu erforschen. Der Chef dagegen versicherte mir, die Käsetorte sei wie im Fluge zu ihm gekommen und habe auch so geschmeckt, also „wie ein Gedicht“. Das freute mich natürlich. Nach der Sitzung quälte ich mich noch für eine halbe Stunde in meinem Büro mit einem Bericht herum, den unsere Staatsanwältin in einer Abschiebesache von mir erbeten hatte, dann verließ ich das Präsidium.

Ich glaube, die Verachtung jenes Kollegen galt mir auch deshalb, weil ich mich hartnäckig weigerte, mir ein Auto zu kaufen. Für ihn kam das einem Vergehen gegen die Gesetze der Fortbewegung, einer Sabotage an der Welt-wirtschaft und selbstredend auch einer Potenzschwäche gleich. Der Fußweg vom Ziegenmarkt zu meiner Wohnung in der Friedhofsallee dauerte bergab 10, bergan 12 Minuten. Zamirs Friedhöfe lagen ähnlich wie der Dom auf halber Höhe am Hang, nur weiter südlich als der Dom. Die besagte Allee wurde nur zur Bucht hin von Wohnhäusern gesäumt. Ich hatte von meiner Dachgeschoßwohnung eine Aussicht, um die mich selbst die sehschwache Frau Mikulinez beneidet hätte, die den Balkon ohnehin auf der falschen Hausseite gehabt hatte. Die rund 3.000 Sonnenuntergänge über der Adria, die ich schon gesehen hatte, hätten sogar ihr hartes Herz zum Schmelzen gebracht. Vielleicht waren ihre Eltern von Natur aus sonnenempfindlich gewesen, falls es überhaupt ihr Elternhaus war. Jetzt gehörte es jedenfalls Vlasic. Eigentlich hatte er ja ohnehin schon sehr günstig in dem Haus gewohnt und gearbeitet, sofern ich seinen Angaben trauen konnte. Auch das mußte ich also noch überprüfen. War das Haus wirklich einen Mord wert gewesen? Gewiß, man konnte es sanieren, also aufdonnern, und dabei im Erdgeschoß eine Galerie und im Rest des Hauses zwei Eigentumswohnungen einrichten – dann wäre es ohne Zweifel eine Goldgrube. Vielleicht waren die Schwester oder die Nichte von Frau Mikulinez besonders bedürftig. Ob es noch weitere nahe Verwandte gab, würde ich morgen früh als erstes herauszufinden haben. Die Nichte konnte ich mir vermutlich gleich am Vormittag vorknöpfen; laut Vlasic war sie Lehrerin. Wegen der Schwester würde ich die Kollegen in Split um Amtshilfe bitten. Es war unsinnig, aufgrund eines ganz und gar undringlichen Tatverdachtes nach Split zu fahren, immerhin 130 Kilometer. Solche Mätzchen konnte ich dem schwedischen Kollegen Kurt Wallander überlassen. Und was das Balkongeländer anging ...

Das letzte Stück meines Heimwegs pflegte mich über eine recht steile Treppe zu führen, die zwischen Hausgärten von der Davorin-Kempf-Straße zur Friedhofsallee anstieg. Ich nahm auf ihr Platz, zog mein Handy hervor und probierte die Festnetz-Nummer aus, die Vlasic mir gegeben hatte. Er war zu Hause. Nach wortreicher Entschuldigung und Vergewisserung, ihn auch bestimmt nicht zu stören, fragte ich ihn, wo er eigentlich das Balkongeländer seiner Tante versteckt habe, und vor allen Dingen, warum er es versteckt habe. Es verhielt sich selbstverständlich – angeblich – genau so, wie es sich die Zamirer Polizei schon gedacht hatte: es lag in einer Schlosserei. Die Tante hatte an ihm gehangen, so sollte es erneuert werden.

„Wann haben Sie es denn abgeschlagen?“

„Mitte Mai. Der Schlosser kann Ihnen sicherlich das genaue Datum sagen.“

„So lange liegt es schon bei ihm? Das sind ja bald sechs Wochen.“

„Eben!“ schimpfte Vlasic. „Was meinen Sie, wie gut ich auf diese Meister der Vertröstung zu sprechen bin, schließlich kenne ich mich, als Polsterer, aus! Und dann auch noch dieser Unfall von Tante Zlata! Man sollte ihn direkt verklagen!“

Zumindest fernmündlich klang Vlasic diese Mal recht überzeugend. „Machen Sie das!“ erwiderte ich. „Das Geld für einen guten Rechtsanwalt haben Sie ja jetzt.“

Er wurde sofort unsicher. „Wie meinen Sie das?“

„Wußten Sie nicht, daß Ihre Tante Sie testamentarisch als Alleinerben eingesetzt hat?“

Kurz Stille. Dann: „Nein, das wußte ich nicht.“

„Aber Sie und der Rechtsanwalt haben das Testament doch mitunterzeichnet!“

„Nein, das haben wir nicht!“

Jetzt war die Stille noch größer. Denn ich erwiderte nichts. Vlasics Betretenheit schlug mir aus dem Handy ähnlich wie die Urinprobe entgegen, die irgendein Köter neben meinem Sitzplatz an der Treppenstufe abgeliefert hatte.

Schließlich sagte ich: „Gut, Herr Vlasic, jetzt brauche ich Sie wirklich nicht länger aufzuhalten. Ich lasse wieder von mir hören.“

Dann blieb ich trotz der Hundepisse auf der Stufe sitzen, um mir ausgiebig die Schenkel zu klopfen, während ich mich kichernd krümmte. Er war so einfältig, wie ich es behauptet hatte! Ich hatte ihn aufs Glatteis geführt! Denn er hatte ja völlig recht, das Testament war lediglich von seiner Tante unterzeichnet.


10

Ich riß die Fenster auf und zog mich aus, um zu duschen. Leider verband sich mit dem Entkleiden die Vorstellung an Dejica, die sich in dieser Wohnung doch häufig „sauwohl“ gefühlt hatte. Ich fluchte, feuerte meine Socken Richtung Badezimmer und ging erst einmal zu meiner Musikanlage, um die CD Fashion Nugget der kalifornischen Rockgruppe Cake einzuschieben. Ich wählte gezielt den Song I will survive an, den ich vermutlich schon hundertmal in meinem Leben gehört hatte, vor allem seit dem zurück-liegenden Frühjahr. Aber es half. John McCraes Verwün-schungen einer Dame, die ihm den Laufpaß gegeben hatte, kamen einer Erdrosselung gleich, genau das Richtige für einen verschwitzten Kriminalkommissar.

Unter der Dusche wandte ich mich wieder dem Fall Mikulinez zu. Gewiß hatte ich für Vlasics indirektes Ein-geständnis, das Testament zu kennen, keine Zeugen. Aber das war nicht zu ändern. Von der Gerichtsfestigkeit waren wir ohnehin noch weit entfernt. Das Eingeständnis kam auch noch lange nicht einer automatischen Erhärtung des Tatverdachtes gleich. Wer wußte, die Alte wird mir ihr Moos vermachen, mußte nicht zwangsläufig ihr Mörder sein. Sehr zu denken gab mir die Angelegenheit mit dem Balkongeländer – die Korrektheit von Vlasics Angaben einmal vorausgesetzt. Man konnte nicht wissen, ob das Geländer dem Mordplan zu weichen hatte oder ob sich dieser erst durch die sich hinziehende Abwesenheit des Geländers aufgedrängt hatte. Wobei es womöglich gar kein Mord gewesen war, sondern „nur“ ein Totschlag im Affekt, weil Vlasic von der lieben Tante wieder einmal gepiesakt worden war. Sie keifen sich im Wohnzimmer an, was ja ein Dritter nicht unbedingt mitkriegen muß; dann denkt sich der liebe Neffe: na warte, Alte, jetzt fahren wir dich einmal an die frische Luft, damit dein Zorn wieder verraucht! Er schiebt sie durch die Tür, stellt die Bremsen fest, sieht sich kurz um – und zack! liegt sie mitsamt ihrem Rollstuhl unten. Die Sache hat nur den Haken, daß er ein ziemlich hieb- und stichfestes Alibi hat. Also war er es entweder doch nicht, oder aber, er hatte einen Mordhelfer.

Wie Sie an dieser Passage sehen, hat ein Kriminalbeamter nicht unbedingt genau abgezirkelte Dienstzeiten. Ich hatte es schon vor Jahren aufgegeben, meine gelegentlichen Pausen oder Abschweifungen im Dienst mit meinen Überstunden im Nichtdienst zu verrechnen. Mein Chef hielt das sowieso für Käsekuchen. Ein Kriminalbeamter ist immer im Dienst und nie im Dienst. Er hat seinen Beruf. Sie mögen einwenden, dadurch widerspräche ich früheren Aussagen, die meinen zunehmenden Verdruß an diesem Beruf einräumen, aber irgendwo habe ich einmal gelesen, das Recht, sich selber zu widersprechen, gehöre eigentlich genauso wie das Recht zu lachen mit in die UN-Menschen-rechts-Konvention. Der Grund liegt auf der Hand: die Dinge sind Käsekuchen, sie sind ambivalent. Für Kescher stellt sich ein Käsekuchen wahrscheinlich nur als Ärgernis dar, das ihn daran hindert, seine Angel in einem Flaschen-hals einzuhaken. Sie wissen ja selber, was heutzutage alles weggeschmissen wird, obwohl es mit viel Liebe gebacken worden ist. Die Wertmaßstäbe sind verschieden, und manche Leute wechseln ihren Maßstab gar wie Ronnie O'Sullivan seinen Billardstock. Wie ich zufällig im Fern-sehen mitbekommen hatte, war der Brite, im Gegensatz zu Vlasic, Rechts- und Linkshänder.

Der Gedanke war großartig. Während ich mich abtrock-nete, perlten die verlockenden Snookerkugeln von meinem viel zu untrainierten Körper, und so entschloß ich mich, nach einem kurzen Abendimbiß wieder in die Stadt hinunterzugehen, um das Haus der Weißen aufzusuchen.


11

Dieses Mal stand nicht der junge Boris, vielmehr Zamir-steigtauf hinter dem Tresen, Zeder Zamirs verschmitzter, rundlicher Mannschaftsführer. Er wienerte gerade Weingläser. Nach fünf Minuten wußte ich, daß ihm der Salon, gemeinsam mit seiner Frau, gehörte, und nach zehn Minuten kannte ich die ganze Vereinsgeschichte. Es war dem Club tatsächlich gelungen, im „Durchmarsch“, also Jahr um Jahr, von der Bezirksliga zur Zweiten Nationalliga aufzusteigen, und „Einpeitscher“ Erih, wie er amtlich hieß, verdiente sich dabei seinen Spitznamen, hatte er doch Tag für Tag dutzendmal anfeuernd Zamirsteigtauf gerufen. Damit erwies er sich für mich als Vertreter von genau jenem „Positiven Denken“, oder anders, von genau jener Beschwörungstheorie, die Dejica in meinem kriminali-stischem Instrumentenkoffer vermißt hatte, aber das konnte meine Laune an diesem Abend nicht im geringsten trüben. Zamir Zeders Motor und Promotor verhehlte allerdings nicht seine Zerknirschung darüber, daß sein Club nicht auch auf Anhieb in der Ersten Nationalliga gelandet sei. Wie er jetzt das Geschirrtuch in den Kelchen der Weingläser drehte, bestand echte Gefahr für dieselben. Doch man werde ja sehen, schloß er mit einem grimmigen Zwinkern. Man habe sich für die nächste Saison verstärkt und werde es den Nieten in der Zweiten Liga schon zeigen.

Zamirsteigtauf war mir sympathischer als sein Mitstreiter Branko Vlasic, der nach meinem Eindruck kein Kind des Humors und der Selbstironie war. Vlasic hatte etwas Verbissenes. Übrigens war er, zur Stunde, nicht im Lokal. Ich bekannte Zamirsteigtauf, bei meinem Besuch am Mittag an all diesen roten Kugeln Blut geleckt zu haben – ob er nicht jemanden wüßte, der sich eventuell dazu herbeilassen könnte, mir eine kurze Einführung in das Snookerspiel zu geben und sich dann von mir die Hucke vollhauen zu lassen. Zamirsteigtauf sah sich kurz im Raum um, deutete nach rechts und sagte:

„Frag mal Fritz. Den Langen da mit der blonden Mähne an Tisch 12. Ich glaube, er ist eigentlich mit Liubina verab-redet, aber die läßt sowieso immer drei Stunden auf sich warten.“

Bei diesem nicht eben landestypischen männlichen Vor- oder Spitznamen klingelte es zwar irgendwo in mir, doch ich war zu lernbegierig, um darauf zu achten. Ich nahm mein Weinglas auf und schlängelte mich durch die gut besetzten Tische. Im Näherkommen wurde mir klar, auch den „Langen“ kannte ich bereits, nämlich von dem Mannschaftsfoto her. So lang war er nun auch wieder nicht, höchstens 1,85. An der Adria war das freilich schon viel. Er mußte älter sein als sein Mannschaftsführer, vielleicht Mitte 40. Er hatte ein etwas verknittertes Ganovengesicht, aber einen hellen, undurchtriebenen Blick, vielleicht genau das Richtige für mich. Ich stellte mich als „Danilovic“ vor, was ich öfter gerne machte, und berief mich auf Zamirsteigtaufs Aussage. Er ließ die Schwarze mit einem scharfen Zugball in die Ecktasche krachen, richtete sich auf, nickte freundlich und sagte bedächtig:

„Das können wir gerne machen. Liubina kommt sowieso immer zu spät. Such dir am besten erst mal ein Queue mit einer halbwegs runden Kuppe aus.“

Damit nickte er zur Wand, an der eine Reihe von Billard-stöcken in Haltern eingeklemmt waren. Er selber trat um einen Pfeiler, der ihm wohl im Weg stand, und gab Zamir-steigtauf am Tresen ein Signal. Ich begriff: Zamirsteigtauf stellt jetzt den Zähler des Tisches auf Null zurück, damit wir uns, der Lange und ich, die Tischmiete später teilen konnten. Sie war übrigens gering, weil die Mannschafts-mitglieder auch außerhalb der Trainingszeiten einen Sondertarif genossen. So kam ich dank Zamirsteigtauf, dem Inhaber, an diesem Abend preiswert weg.

Mein Lehrer und Gegner hatte eine angenehme, dunkle Stimme, die man ihm, bei seinem schulterlangen, blonden Haar, gar nicht zugetraut hätte. Sie flößte Vertrauen ein – auch in die eigenen Spielkünste. Wie sich versteht, stellte ich mich zunächst wie ein Schaf an, das jemand auf einer Eisscholle im Atlantik ausgesetzt hatte. Auf einem Snookertisch gehen die Stöße ja oft über drei Meter oder mehr, da kriegt man leicht das große Zittern. Das A & O sei eine sichere Queueführung, betonte der Lange, und so berichtigte er geduldig die Stellung meiner Füße, meines Stoßarms (der in der Senkrechten zu „pendeln“ hat), meines Kinns und meiner Bockhand, die sich zunächst als so plump erwies, als stecke sie, wie bei dem Sports-kameraden Vlasic, in Gips.

Als es mir nach ungefähr einer Stunde erstmals gelang, nacheinander eine Rote, die Blaue und wieder eine Rote zu versenken (7 Punkte), frohlockte ich auf eine Weise, die sich O'Sullivan noch nicht einmal nach einem Maximum Break gestattet (147 Punkte). Der Lange hatte mir erklärt, bei Snooker sei die Höhe des Breaks, das einer schafft, der vorrangige Gradmesser für dessen Spielstärke. Das leuchtete mir ein, hatten doch „Vorteile“, die einem vielleicht der Gegner verschafft, auf Serien keinen Einfluß. Dabei kam es nur auf das eigene Können und die eigene Nervenstärke an: sich die Kugeln so hinzulegen, wie man sie für die Ausweitung der Serie brauchte. Und sie natürlich auch, Stoß für Stoß, erbarmungslos in den „Taschen“ des Tisches zu versenken. Dabei mochten hin und wieder auch Zugbälle „krachen“, aber im wesentlichen kam es nicht auf Feuer, vielmehr auf Fingerspitzengefühl an. Oft durfte die Lederkuppe des Billardstocks die Weiße, den Spielball, nur leise küssen. Ob so oder so, es war ein sinnliches Vergnügen, sobald man über das Stadium jenes Schafs auf der Eisscholle hinaus war, was mir, zumindest an diesem Abend, schon nach der ersten Trainingsstunde gelang. Die einfühlsame Didaktik meines „Lehrers“ war sicherlich nicht unbeteiligt daran. Er zeigte weder Interesse, mit seinem Können zu glänzen (höchstes Turnierbreak 68), noch machte er sich durch pappihafte Lobesworte lächerlich. Aber gegen 22 Uhr, wir bauten gerade die Kugeln wieder auf, fiel ich aus allen Wolken.

Eine Spielerin von einem Tisch jenseits des Pfeilers hatte dem Langen bedeudet, Zamirsteigtauf wolle etwas von ihm. Als er daraufhin zum Tresen blickte, hob der Chef des Hauses das Telefon an, das vor ihm stand, und formte mit seinen Lippen einen Namen, den er zwar weißgott nicht durch die erlauchte Sportstätte brüllte, aber doch unmiß-verständlich mit diesen Lippen formte: Dejica. Der Lange nickte, bat mich für einen Moment um Geduld und ging nach vorn.

Zunächst verdattert, beschimpfte ich mich selbstver-ständlich schon im nächsten Augenblick. Die Sache war ja klar. Wer konnte in Zamir schon Fritz heißen, wenn nicht mein größter Feind! Dieses Mal war ich aufs Glatteis geführt worden, der Spürhund, nicht der Erbschleicher Vlasic. Ja, ich, das Schaf auf der Eisscholle.


12

Zwar hatte ich mich zur Besonnenheit ermahnt, aber um mein Gleichgewicht war es offensichtlich geschehen. In der neuen Partie unterlief mir ein Schnitzer nach dem anderen. Fritz entging der etwas jähe Formabfall natürlich auch nicht, weshalb er wenig verblüfft war, als ich ihn um Verständnis für meinen Wunsch bat, das Training für heute abzubrechen. Er hatte im Endspiel in einem Zug den Tisch abgeräumt, obwohl die Braune verdammt ungünstig an einer Längsbande lag. Dieses Mal bemühte er für seinen Trost einen Gemeinplatz: die Meister fielen bekanntlich nicht vom Himmel. Ich würde noch viele Rückschläge erleben, falls ich überhaupt am Ball bliebe. Ja, ja, knurrte ich insgeheim, während wir die Kugeln aus den Taschen holten: bei der lieben Dejica bist jetzt du an den Bällen.

Ich schlug ihm vor, sich mit mir nach vorn zu setzen, um mein „Unglück“ noch mit einem Glas Rotwein zu begießen. Er schien keinen Argwohn zu hegen. Er sagte ganz wie zu Anfang unserer Begegnung, das könnten wir gerne tun, Liubina käme sowieso nicht mehr, und wenn doch, träte er sie in den Arsch.

Zamirsteigtauf hatte um diese Zeit alle Hände voll zu tun. Wir schoben ihm das Tablett mit den Kugeln auf den Tresen und setzten uns an dessen Ende, wo noch zwei Barhocker frei waren. Während wir auf unseren Rotwein warteten und noch einmal Fritz' gekonnten Stoß auf die Braune erörterten (die er über die Längsbande, an der sie fast lag, ins gegenüber liegende Mittelloch befördert hatte), geriet ich für kurze Zeit in Versuchung, mich ganz wie im Dienst zu fühlen und Fritz hereinzulegen. Er hatte ja offensichtlich keine Ahnung davon, wer gerade neben ihm saß. Aber dann schlug meine fragwürdige Erziehung durch, die mich mit einem sogenannten Gewissen ausge-stattet hatte. Es wäre einfach unfair gewesen. Genauso gut hätte mir Fritz vor rund zwei Stunden ein Queue auf-schwätzen können, das einen Knick wie die Domgasse vor Vlasics Haus beschrieb. Ich hätte es nicht bemerkt.

Nachdem wir uns mit den aufgefüllten Rotweingläsern zugeprostet hatten, sagte ich versonnen: „Dejica ist natürlich ein hübscher Name ... Ich kannte mal eine Marimbaspielerin, die so hieß ...“

Er hob die Brauen und sah mich von der Seite aus nachdenklich an. Schließlich meinte er: „Danilovic ... Danilovic ... Haben wir nicht in dieser Stadt einen gefürchteten Kriminalbeamten, der Danilo heißt ..?“

Über das „gefürchtet“ mußte ich grinsen. „Richtig!“ sagte ich. „Du hast es erraten.“

Er schüttelte in seiner bedächtigen Art seinen Kopf, sodaß nur ein sachtes Beben durch seine blonden Haare lief. „Das sind ja wieder interessante Verknüpfungen heute abend. Oder hast du mich gezielt aufgesucht? Wolltest du mich mit dem Queue verprügeln? Zamirsteigtauf meinte allerdings, um Mittag habe sich die hiesige Kripo für meinen Mannschaftskameraden Branko interessiert.“

Er sah mich halb fragend, halb belustigt an. Ich nickte und erzählte ihm von dem Absturz vom Balkon in der Dom-gasse. Im Radio war es sowieso schon verbreitet worden. Freilich vermied ich es, seinen Mannschaftskameraden mit starkem Verdacht anzuschwärzen. Doch er sagte von sich aus:

„Falls das kein Selbstmord war, fällt ja wohl auch ein Verdacht auf Branko, oder sehe ich das falsch?“

„Wieso vermutest du das?“

„Na, die Tante war ein Besen, das wußte jeder. Branko litt nicht wenig unter ihr. Ich glaube, sie hat uns sogar das eine oder andere Match vermasselt, weil Branko wieder einmal in gereizter oder unkonzentrierter Verfassung antrat, wegen ihr. Und dann gehörte ihr ja auch ein Haus in bester Geschäfts- und Wohnlage. Vielleicht erbt er es?“

„Dazu darf ich nichts sagen, Fritz ... Hälst du Branko denn für fähig, einen Menschen ins Jenseits zu befördern?“

Er sah mich spöttisch an. „Dazu könnte ich mit dem gleichen Recht eine Aussage verweigern ... Aber es macht ja nichts. Also sage ich dir, ich halte ihn eher für nicht fähig, einen Mord zu begehen. Liubina warf ihm einmal mitten im Training vor, er sei zu gutmütig. Ja, er ist im Grund ein gutmütiger Kerl, aber verkrampft.“

„Liubina? Die Frau, die dich heute abend versetzt hat?“

„Ja. Sie gehört neuerdings zur Mannschaft. Zamirsteigtauf hat sie nach unserem letzten Auswärtsspiel – haushoch verloren! – von Dynamo Dubrovnik losgeeist. Sie ist ein As. Daneben ist sie Brankos Freundin.“

„Ach! Du meinst: seine Geliebte?“ Ich nickte zum Schwarzen Brett und ergänzte: „Die Kleine mit dem roten Schopf da auf dem Mannschaftsfoto?“

„Ja.“

Er schien keine große Lust zu haben, näher auf die Intimi-täten seiner Clubkameraden einzugehen. Aber schließlich hatten wir unsere eigenen, sagte ich mir, während ich verstohlen seine rechte Hand musterte, die, auf dem Tresen liegend, den Stiel seines Weinglases mit leise spielenden Fingerkuppen umschloß. Dejica hätte wahr-scheinlich von „echten Klavierhänden“ geschwärmt. Ja, mein Gott, vermutlich hatte sie das auch schon längst getan!

„Wo hast du Dejica eigentlich kennen gelernt? Sie hat es mir nie verraten.“

Die etwas unvermittelte Gesprächswende schien ihn nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. „Bei einem Konzert im Domkeller. Ich saß zufällig so günstig, daß ich die Stäbe von ihrer Marimba mit meinen Schuhspitzen von unten her hätte anschlagen können.“

Ich unterdrückte ein Grinsen. „Und sie gefällt dir?“

„Dir etwa nicht?“

Ich erwähnte ja schon einmal, es sei immer etwas peinlich, wenn sich ein Polizist entwaffnen lasse. Ich wußte einstweilen nichts mehr zu sagen. Jedenfalls war er kein Monster, das war immerhin auch schon was. Während ich meine Blicke durch den nach wie vor gut gefüllten Salon schweifen ließ, sagte ich mir, man dürfe solche sportlichen Zufallsbegegnungen vielleicht nicht gleich überreizen. Morgen sei auch noch ein Tag.

Ich deutete meinem neuen Bekannten ein Gähnen an und sagte: „Ich fürchte, dieser Tag hat mich ziemlich geschafft, Fritz. Ich glaube, ich werde mich jetzt zurückziehen. Ich muß ins Bett.“

„Wo wohnst du denn?“

„Friedhofsallee.“

„Gehst du zu Fuß?“ Da ich nickte, fuhr er fort: „Ich komme mit, wenn es dir recht ist. Es liegt ungefähr auf meinem Weg.“

„Auch gut“, sagte ich, griff nach meiner Brieftasche und gab Zamirsteigtauf einen Wink. „Der Wein geht auf meine Rechnung.“


13

Die Altstadt war ein künstlich beleuchteter Bienenstock wie immer. Man hörte alle Sprachen. Mir wurde klar, daß Fritz ohne jeden Akzent sprach. Ich bescheinigte es ihm und erkundigte mich, wie er überhaupt in diese Breiten geraten sei.

„Na, wie fast immer in solchen Fällen: durch die Liebe. Vor gut 10 Jahren verliebte ich mich in München in eine Frau, die aus Zamir stammte. Es waren mehrere Dinge zusam-men gekommen. Ich war vom Seil gestürzt und wollte sowieso nicht mehr in meinem Beruf arbeiten. Zufällig hatte Ivanka den Sohn eines bayerischen Flößers kennen gelernt. Dieser Vater lebte schon seit einigen Jahren in Zamir, wo er auf der Dubrina ein Fahrgastgeschäft betrieb, das recht gut ging. Der alte Flößer habe jetzt aber eine neue Idee, berichtete der Sohn: er wolle seine Floßfahrten mit Live-Musik anbieten. Kurz und gut, seitdem lebe ich in Zamir und halte mich zumindest teilweise durch die Flußmusik bei Speelmann über Wasser.“

Ich wurde fast neidisch. Das klang ja alles ausgesprochen abenteuerlich und rätselhaft. Von den Floßfahrten auf der Dubrina, die im Süden Zamirs in die Adria mündet, hatte ich freilich schon flüchtig gehört. Aber wie kam man von einem Seil auf ein Floß?

„Ich bin von Hause aus Clown und Akrobat. In dieser Rolle habe ich auch schon immer Musik gemacht. Ich spiele Gitarre, Querflöte und Akkordeon, und für die Speelmann-Combo habe ich mir noch ganz schnell das Tenorbanjo beigebracht.“

„Und als Akrobat bist du auf einem Seil herumgetanzt?“

„Ja.“

„Und dann heruntergefallen?“

Er vergewisserte sich durch einen Seitenblick, ob ich ihn nicht etwa verhöhnte. Offenbar kam er zu dem Ergebnis, aus mir spreche lediglich kriminalistische oder kindliche Neugier, womit er völlig richtig lag. Er erläuterte:

„Sie hatten mich für ein Till-Eulenspiegel-Stück im Bochumer Schauspielhaus engagiert. Bochum liegt in der Nähe von Köln. Das Seil war keine zwei Meter hoch. Aber die Bühnenarbeiter hatten einen Stahlpfosten, über den das Seil lief, nicht korrekt im Bühnenboden verankert. Er fiel um, und als auch ich fiel, schlug er mir etwas unglücklich auf den Schädel. Ich wurde operiert. Im ersten Jahr suchten mich einige epileptische Anfälle heim, die sich dann durch die Künste eines Heilpraktikers – oder aufgrund meines Glaubens an seine Künste – wieder legten.“

„Meine Herren“, sagte ich, „das ist ja fast ein Krimi ... Hast du die Bühnenarbeiter beziehungsweise das Schauspiel-haus verklagt?“

Wir streiften gerade das hell erleuchtete Schaufenster einer Boutique, die im unteren Zipfel des ansteigenden Waisenhausplatzes lag, den wir zu queren hatten. Ich bildete mir ein, Fritz' Gesicht drücke so etwas wie ein belustigtes Befremden aus. Ich sollte das noch öfter an ihm bemerken. In diesem Fall mochte er sich gedacht haben: Nach solchen Eröffnungen solch eine Frage zu stellen, das bringt nur ein Bulle fertig. Es war mir etwas peinlich. Aber er ließ mein Spürhundnaturell ungeschoren und antwortete mir sogar.

„Ich bekam ja sowieso eine Unfallrente. Die Bühnen-arbeiter taten mir leid. Sicherlich waren sie durch ihr schlechtes Gewissen schon genug gestraft. Die Rente ist nicht hoch, aber da ich sie durch die Arbeit bei Speelmann aufstocken kann, leide ich keine Not. Daß es mir manch-mal zum Halse heraushängt, angetrunkene Touristen durch unsere Dixiland-Klamotten zu erfreuen, steht auf einem anderen Blatt. Wer ist schon rundum zufrieden?“

Damit hatte er natürlich auch wieder recht. Der bucklige Platz, den wir gerade überquerten, wurde vom ehemaligen Waisenhaus gekrönt, einem hübschen dreistöckigen Gebäude, in dem seit Jahren die Stadtbücherei unterge-bracht war. Es hatte ein schiefergedecktes Mansardendach. Hier arbeitet Vedrana, sagte ich mir – Dejicas beste Freundin, die ich heute nachmittag in der Jüdengasse gesehen hatte. Auch sie wird nicht rundum zufrieden sein. Aber ich verband keinen zielstrebigen Gedanken mit dieser Erinnerung; es fiel mir nur gerade so ein, weil wir das Waisenhaus streiften.

Über dem Waisenhausplatz lag schon beinahe Stille. Er hatte keine Vergnügungsstätten zu bieten – nur einen plätschernden Brunnen. Dafür zog sich ein süßer Duft durch die Dunkelheit, der mich schnuppern ließ. Fritz nickte und gab dem nächsten Baumstamm einen Klaps:

„Robinien. Sie blühen gerade.“

Tatsächlich, die Bäume trugen in Trauben helle Blüten, die vermutlich diesen Duft verströmten. Naturkunde war nicht gerade meine Stärke.

Als wir die Treppe zur Roten Gasse in Angriff nahmen, fragte ich Fritz: „Und was ist aus deiner Geliebten geworden? Ivanka, meine ich?“

„Gestorben.“

Meine Güte, ich schien von einem Fettnäpfchen ins andere zu treten. Ich fragte mich verzweifelt, ob ich ihm jetzt irgendwie mein Mitgefühl auszudrücken hätte, aber das kam mir dann auch wieder albern vor. Es war wohl am besten, ich hielte einfach mal meinen Mund.

„Sie kam vor ungefähr sieben Jahren unter ein Auto – schuldlos“, sagte Fritz plötzlich in die Stille. „Was willst du machen – das kommt ja öfter vor.“

„Allerdings!“ schnaubte ich. „Nur meine lieben Kollegen glauben es nicht. Sie belächeln mich, weil ich kein Auto will.“

„Na prima“, sagte Fritz und hieb mir im Gehen freund-schaftlich auf die Schulter. „Dann wäre ja einmal eine Floßfahrt mit Musik das Richtige für dich! Was hälst du davon?“

„Ach“, sagte ich, weil es etwas unerwartet kam. „Eigentlich keine schlechte Idee. Das können wir ins Auge fassen ... Aber ich hätte erst einmal etwas anderes, hör zu ...“

Es ging um ein Snookerqueue. Die guten SpielerInnen besaßen selbstverständlich ihre eigenen Billardstöcke, so auch Fritz. Sie deponierten sie in der „Waffenkammer“ ihres Snookersalons und hüteten sie ansonsten, etwa bei Auswärtsspielen, wie ihren Augapfel. Die Queues, die in den Salons an den Wänden klemmten, waren anspruchs-lose und zumeist auch schlecht gepflegte Stöcke für die Laien. Deshalb wollte ich mir ein eigenes Snookerqueue zulegen und bat Fritz, mich in dieser Hinsicht zu beraten, vielleicht auch zu begleiten. Er wußte natürlich sofort das einschlägige Zamirer Fachgeschäft und erklärte sich bereit, es schon am kommenden Tag in meiner Begleitung aufzu-suchen. Wir verabredeten uns für 17 Uhr am Hauptportal des Doms, denn das Geschäft lag nur ein paar hundert Meter von diesem entfernt.

Am Beginn der Davorin-Kempf-Straße verabschiedeten wir uns voneinander. Fritz stieg geradaus weiter bergan. Er hatte mir erzählt, er wohne „schon fast in der Macchia“. Irgendwo über der Stadt mußte es ein Weingut geben, von dem er einen Flecken Bergwiese mit einem „schäbigen Häuschen darauf“ gepachtet hatte. Ich sah seine vom blonden Haar bewippten breiten Schultern im Lichtkreis einer Laterne verdämmern und wandte mich nach rechts. Dies alles war ja wahrlich romantisch, und die Frau, die ich noch immer anbetete, war darin verwickelt.


14

Den nächsten Vormittag verbrachte ich auf die schon früher erwähnte typische Weise: als Bürokrat und Telefo-nist. Dabei traf ich auch meine heutigen Verabredungen, von dem Stelldichein mit meinem neuen Freund Fritz einmal abgesehen. Für 12 Uhr war ich mit der Pflegekraft der Verstorbenen, für 13 Uhr mit der Nichte der Verstor-benen und für 15 Uhr mit dem Neffen der Verstorbenen verabredet, also mit Branko Vlasic. Ihn wollte ich in der Wohnung seiner Tante treffen. Allerdings hatte ich mir vorgenommen, ebendort schon vor ihm einzutreffen, um mir den Tatort, auf Zvonimirs Bericht gestützt, noch einmal in Ruhe anzusehen.

Selbstverständlich war auch von diesen Verabredungen nichts Aufregendes zu erwarten. 90 Prozent der Dramatik, die der Laie mit dem Stichwort Polizei zu verknüpfen pflegt, schöpfte ja in der Regel die Schutzpolizei ab; für uns Spürnasen blieb vor allem Öde übrig. Nicht wir Kommis-sare, sondern Kollegen wie Milan und Ante durften die abgestürzten Rollstühle auflesen, die Kneipenschlägereien unterbinden, die Geiseln der Bankräuber befreien und so weiter. Wenn wir eintrafen, waren die interessantesten Dinge schon gelaufen. Nahmen wir aber schließlich einmal eine interessante Verhaftung vor, wurden wir auch wieder von einem Rudel von Schutzpolizisten mit Polizeihunden begleitet, auf daß uns der gesuchte Schurke auch bestimmt kein Härchen krümme. Prickelnde Zwischenfälle bei der Untersuchungsarbeit gab es fast nie. Das Tellereisen in der Speisekammer hatte der neuerdings hinkende Einbrecher mit eingesackt, der steinreiche Villenbesitzer bot uns eine Havanna an, statt uns von seiner Leibgarde durchlöchern zu lassen, und die Zeugin X. tat uns selten den Gefallen, ihren Bademantel ausgerechnet bei unserem Kommen in die Waschmaschine zu stecken. Wir Kommissare waren die Trottel der Nation.

Von einem fixen oder sich ebenfalls langweilenden Kollegen aus Split erhielt ich noch am selben Vormittag die erwartete Entwarnung. Laut seiner Mail war die Schwester der Verstorbenen noch schlechter daran, als Frau Mikuli-nez es vor ihrem Tod gewesen war: sie hing in einem Pflegeheim am Tropf. Der Kollege hielt es für sehr unwahrscheinlich, das bedauernswerte Wrack, vor dem er mit der Pflegeleiterin des Hauses gestanden hatte, habe einen Killer beauftragt, um der älteren Schwester, diesem Besen, noch kurz vor Toresschluß zu zeigen, was eine Harke sei. Daraufhin hatte ich gleich die einschlägigen Melderegister und Datenbanken nach den Namen Mikulinez, Vlasic und Klecak durchforstet, ohne auf alarmierende Angaben zu stoßen. Branko Vlasics Eltern lebten weit im Norden des Landes auf einem Dorf. Seine Cousine, die Grundschullehrerin Sylvija Klecak, war unverheiratet. Das schloß natürlich nicht die Existenz eines Hörigen aus, der ihre Tante ihr zuliebe vom Balkon gekippt hatte.

Unsere Theorie war insofern erhärtet worden, als die befragten Sachverständigen es für äußerst unwahrschein-lich hielten, die Rollstuhlbremsen hätten sich durch den Aufprall festgestellt. Ging es hart auf hart, also um einen Indizienbeweis, mußte freilich ein offizielles Gutachten in dieser Frage her. Das heißt, mindestens ein TH-Professor aus Split oder Zagreb würde zwei Wochen lang Rollstühle aus seinem Laborfenster werfen und sich anschließend die Hände reiben, weil sein nächster sechswöchiger Urlaub in Miami Beach gesichert war. Die Hersteller dieser Test-Rollstühle waren sicherlich auch nicht sauer. Wahrschein-lich stockten sie den Urlaub des Professors gleich um noch einmal sechs Wochen auf.

20 vor 12 schaltete ich meinen Computer aus. Da meine Verabredungsorte durchweg gut zu erreichen waren, verließ ich das Präsidium erneut zu Fuß.

Mein Chef, der Antikorruptionskämpfer, stand in dieser Frage einigermaßen hinter mir. Er hatte mir einmal vertraulich gesagt: „Laß dich von diesen Armleuchtern nicht beirren, Danilo. Das ist keine verlorene Zeit! Nie und nimmer können sie im Auto so gut und so fruchtbar nachdenken wie du bei deinen Fußmärschen. Und für den Verschleiß an Sohlen mußt du ja privat aufkommen, während die gute Luft, für die du durch deinen Verzicht sorgst, allen Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommt.“ Aber das ständige Kuppeln und Bremsen im Auto ver-schlisse doch auch die Sohlen, wandte ich ein. „Papperla-papp“, sagte er daraufhin strafend. „Das ist keine Kriminalistik, Danilo, das sind Spitzfindigkeiten. Als Kriminalisten müssen wir immer großzügig denken, schreibe dir das gleich hinter die Ohren. Hübsche Details in Ehren, aber letztlich kommt es bei der Lösung von Problemen und Fällen auf die großen Züge an.“

Wegen dieser großen Züge hatte er wahrscheinlich auch die paar Toten und Versehrten vernachlässigt, die wir der Autoproduktion und dem Autoverkehr bedenkenlos opfern. Ich dachte dabei nicht nur an Ivanka, die frühere Geliebte von Fritz. Wer allein die Leichen aneinander reihte, die schon bei der Stahlgewinnung anfielen, in Erzbergwerken, Eisenhütten und so weiter, käme wahr-scheinlich auf sämtliche Friedhofsalleen dieses Planeten. Selbst die Verbrennungen, die sich Leute bereits bei der Stahlgewinnung zuzogen, dürften kaum auf eine Kuhhaut gehen.

Die private Pflegedienstfirma, für die Aneta Pelicaric arbeitete, lag, vom Polizeipräsidum am Ziegenmarkt aus, nahezu um die Ecke. Die junge Frau saß im Vorgarten der heruntergekommenen Villa auf einer Bank und rauchte. Wie sie mir erläuterte, waren sie oder eine Kollegin von ihr stets morgens und abends bei Frau Mikulinez gewesen, je eine Stunde, ab 8 und ab 18 Uhr. In dieser Woche hatte sie den Morgendienst gehabt. Gestern sei sei erst um Viertel nach Neun aus dem Haus in der Domgasse 87 gekommen, weil Frau Mikulinez lautstark darauf bestanden hatte, nach dem Durchlüften der Wohnung – und vor dem Frühstück, das ihr der Neffe bereiten würde – noch einmal frisiert zu werden. Dadurch sei ihr der ganze gestrige Dienstplan ins Rutschen gekommen. Anetas Chefin, in deren Büro ich wenig später vorsprach, bestätigte diese Darstellung. Demnach hatte Frau Mikulinez gestern um 9 Uhr 15 noch gelebt. Ich fürchtete sehr, diese Erkenntnis, für die ich mir einigen Zigarettenrauch um die Ohren blasen ließ, würde die Auflösung des Falles nicht gerade stürmisch beschleu-nigen. Aneta konnte auch sonst nicht mit Fingerzeigen dienen. Ihre Kundin war garstig wie immer gewesen, und im Haus hatte sie keine dritten Personen bemerkt.

„Wie sind Sie in das Haus gekommen, Frau Pelicaric?“ Schließlich wußte ich, die Haustür war verschlossen gewesen, jedenfalls am Mittag.

Sie zuckte mit den Achseln und bohrte ihre Zigaretten-kippe in einen mit Sand gefüllten Waschbetonkübel: „Ich habe einen Schlüssel.“

Diese Antwort ließ mich innerlich fluchen. Denn jetzt würde mir nichts anderes übrig bleiben, als auch die Arbeitsorte abzuklappern, die für die Stunde bis 10 Uhr auf Anetas Dienstplan standen.

Zum Glück hatte ich dramatisiert. Es war nur ein Arbeits-ort, und wie mir Anetas Chefin versicherte, hatte ihn ihre Angestellte bestimmt nicht verlassen, hatte doch die Ehefrau des zu pflegenden Herren gegen 10 hier in der Firma angerufen, um sich über eine Bagatelle aufzuregen, die Aneta unterlaufen sei.

Ich hatte mir von Aneta den Hausschlüssel aushändigen lassen. Nun stellte ich der Chefin eine Quittung dafür aus, bedankte mich bei ihr für alles und trollte mich Richtung Hafen, denn jenseits von diesem lag die Grundschule, in der ich mit Sylvija Klecak verabredet war.

Das Alibi der Nichte war ziemlich unanfechtbar. 40 Gören hätten mir durcheinander kreischend versichern können, Frau Klecak habe sie gestern zwischen 9 und 10 wie immer mit der Ermahnung, bitte recht schön zu schreiben, geärgert, aber ich begnügte mich mit Aussagen der Sekretärin des Schuldirektors, eines Kollegen, der die Pausenaufsicht gehabt hatte, und von Sylvija Klecak selber. Die ungefähr 30jährige Trägerin einer kecken, bunten Brille saß mir jetzt im verwaisten Lehrerzimmer wie auf glühenden Kohlen gegenüber, weil sie, im Gegensatz zu mir, schon Dienstschluß hatte und nach Hause wollte. Sie war kaum üppiger gestaltet als ihre verstorbene Tante. Trotzdem gefiel sie mir, denn auch sie nahm kein Blatt vor den Mund, was deren „tyrannischen“ Züge betraf. Die Tante sei schon immer so gewesen, streng, mißgünstig, rechthaberisch. Sie, die Nichte, habe Branko in der Betreuung immer nur ungern vertreten und im übrigen bedauert.

„Man fragt sich freilich, warum sich eine solche Person umbringt“, sagte ich. „Eine Strafe für Sie oder Ihren Cousin läßt sich ja kaum darin erblicken, wenn Frau Mikulinez jäh aus dem Leben tritt. Gab es irgendwelche Anzeichen?“

Sie schüttelte ihr Kopf. „Meines Wissens nicht.“

„Neigte sie zu panischen Reaktionen?“

Sie griff sich in ihre Stirnhaare, daß sie flogen, und sagte etwas ungehalten: „Mein Gott, die Frau war krank und außerdem schon halb verwirrt. Wer will wissen, was da in ihrem Gemüt vor sich geht. Und auf der anderen Seite muß man ja auch sehen, sie hatte alles andere als ein schönes Leben. Wollen Sie erblindet im Rollstuhl sitzen und ihre Mitmenschen um jeden Handgriff bitten?“

„Selbstverständlich nicht.“

Ich nickte in Vertretung eines Seufzers und machte Anstalten, mich von dem erstaunlich dünn gepolsterten Konferenzstuhl zu stemmen, ließ mich dann aber doch wieder sinken.

„Vielleicht noch eine Frage, Frau Klecak. Kinder sind ja nicht da. Wer erbt dann das Haus?“

„Das Haus von Tante Zlata?“

„Ja.“

„Na, Branko, nehme ich an. Das hatte sie ihm ja dafür in Aussicht gestellt, daß er sich so für sie aufopfert.“

Ich nickte. „Und was hielt Frau Mikulinez von Brankos Freundin?“

„Von Brankos Freundin?“

„Ja, von der kleinen Liubina mit den roten Haaren.“

Ihr Kopfschütteln wirkte etwas abfällig. „Tut mir leid, die kenne ich nicht. Ich habe mich nie um Brankos Frauen-geschichten gekümmert. Ich dachte immer, er sei nur in sein Snookerqueue verliebt.“

Ich lächelte, erhob mich nun endgültig und reichte ihr, über den Konferenztisch hinweg, zum Abschied meine Hand, wobei ich mich selbstverständlich für ihre Mühe bedankte. Sie nahm meine Hand sogar.


15

Im Zweifelsfall für das Nichtangesagte, pflegte mein Chef gern zu kalauern. Und meistens fügte er hinzu: Ich habe schon Pferde kotzen gesehen. Damit wollte er uns lediglich ermahnen, nicht zu leichtfertig durch unsere Musterbrillen zu schauen. Die wenigsten Fälle liegen so einfach, wie sie sich auf Anhieb darbieten, wobei sie nicht selten auf unseren Vorurteilen beruhen, brennende Wünsche eingeschlossen. Das kennt man ja auch als Nichtpolizist.

Bei diesen Gedanken hatte ich nicht nur die angezogenen Bremsen des Rollstuhls im Auge, die uns die angenehme Diagnose „Selbstmord“ blockiert hatten. Ich saß inzwi-schen an Frau Mikulinez' Wohnzimmertisch und bedeckte dessen gehäkelte Decke mit den Krümeln eines belegten Baguettes, das ich mir unterwegs gekauft hatte. Da ich die vorderen Fenster, nach dem Lüften, wieder geschlossen hatte, wurde die Außenwelt im wesentlichen nur noch durch eine Amsel repräsentiert, die im Hinterhof am laufenden Meter zeterte. Vermutlich schnürte eine Katze um die Badewanne. Die Katze konnte sich immer auf das Argument zurückziehen, sie bewache lediglich die halbreifen Tomaten. Für junge Amseln habe sie sich noch nie interessiert. Der Strauß mit den Ausreden blüht und gedeiht.

Warum sollten wir ausgerechnet einer Pflegekraft über den Weg trauen, wo doch die Welt unter Verbrechen ächzt, die im Namen der Nächstenliebe, des Weltfriedens und der Wiederaufbauhilfe verübt werden? Selbst, wenn man die vom Arzt angesetzte Todesfrist „zwischen 9 und 10 Uhr“ für bare Münze nahm, hätte Aneta immer noch fünf oder 10 Minuten Zeit gehabt, ihre Nervensäge in jähem Über-druß vom Balkon zu werfen – oder auch deshalb, weil sie hinter der Likörflasche im Vertiko zufällig auf ein Bündel mit 1.000-Kuna-Scheinen gestoßen war. Schließlich hatte sie das Haus erst um 9.15 (falls dies zutraf!) in Richtung ihrer nächsten Arbeitsstelle verlassen. Diese wiederum, so behauptet ihre Chefin, habe sie garantiert nicht vor 10 Uhr verlassen, denn die Kundin habe es ja bezeugt. Woher weiß ich aber, daß Aneta mit dieser Kundin nicht unter einer Decke steckt? Wieviele Minuten hätte Aneta, vom Haus der Kundin aus, für eine erneute Fahrt zur Domgasse benötigt? Welche Motive, außer ihrem Verdruß oder der Kohle im Vertiko, könnte sie außerdem haben? Dies alles hätte ich also, streng genommen, zu überprüfen.

Wie sich versteht, arbeiteten wir trotzdem nach Wahr-scheinlichkeit. Es ging nur darum, die Unwahrscheinlich-keiten niemals vorschnell von der Liste zu streichen. Selbst ein Einbruch hätte keinen von uns verblüfft, aber Zvonimir hätte in diesem Fall jede Wette irgendeine Spur gefunden, von dem Witz mit der Feuerleiter einmal abgesehen. Der Einbrecher (oder die Räuberin) gerät in Panik, weil sich der silberne Mop in der Ecke als im Rollstuhl hockende Greisin entpuppt, die sich womöglich seine Haarfarbe oder seine Stimme merkt, und schon ab mit ihr, in den Hof! Selbstverständlich wäre es den wenigsten Einbrechern eingefallen, wegen knapp 1.000 Kuna (133 €) am hellich-ten Vormittag auf der Feuerleiter anzurücken. Aber auch das hat es schon gegeben: er verkleidet sich als Schorn-steinfeger, und niemand schert sich um ihn. Die genannte Summe war in einem Haushaltsbuch verzeichnet, das wir in der Küche gefunden hatten, während er selber, der Geldbetrag, fehlte. Wer dafür eine alte Frau tötete, mußte schon ein wahrer Kinderschreck sein.

Mit solchen Erwägungen vertrieb ich mir die Zeit, während ich das ausgedörrte Baguett muffelte, in der Küche ein Glas Wasser trank, die Tischdecke auf dem nach wie vor geländerlosen Balkon ausschüttelte und überhaupt den ganzen Tat- oder Unglücksort noch einmal auf mich wirken ließ. Dabei merkte ich mir auch, nach was ich Vlasic noch zu fragen hätte. Die Frage mit dem Geländer hatte ich unterwegs en passent geklärt, denn die Schlosse-rei lag am Hafen. Der Meister persönlich zeigte mir sowohl das Geländer wie die Unterlagen über dessen Einlieferung, Kostenvoranschlag eingeschlossen. Ich nahm nicht an, er habe diese Papiere gefälscht, weil ihm Vlasic einmal die Autositze mit echtem Rindsleder bezogen hätte. Natürlich hatte er das Geländer immer noch nicht erneuert und lackiert. Als ich ihn sanft auf dieses Versäumnis hinwies, meinte er, nun käme es ja auch nicht mehr darauf an.

Punkt 15 Uhr klingelte es. Ich ließ Vlasic ein, obwohl er selbstverständlich einen Wohnungsschlüssel gehabt hätte. Das Siegel hatte ich ja erbrochen. Ich drückte ihm gleich den Hausschlüssel in die Hand, den ich der Pflegekraft abgeluchst hatte. Er dankte mir für diesen kleinen Gefallen. Als wir im Wohnzimmer standen, sagte ich:

„Sehen Sie sich doch bitte einmal genau um, Herr Vlasic, und überlegen Sie, ob etwas fehlen könnte oder sonst etwas nicht in Ordnung sein könnte. Gucken Sie bitte auch in die Schränke. Sie kennen sich ja sicherlich hier aus.“

Meine Rede schien ihn peinlich an unsere Diskussion des Testamentes zu erinnern, überzog sich sein Stiernacken doch mit leichter Röte. Aber er nickte und machte sich an die Arbeit. Wie sich versteht, beobachtete ich ihn dabei. Das mußte er als Turnierspieler ja gewohnt sein. Im Schlafzimmer ließ er es sich nicht nehmen, pietätvoll die vermutlich von Zvonimir zurückgeschlagene Daunendecke wieder auszubreiten und sogar mit den Händen zu glätten. Ich sah keinen Grund dafür, ihn daran zu hindern. In der Küche schien er mir beim Blick in eine Schublade des Geschirrschrankes zu stutzen, die etwa in Höhe seiner Hüfte eingelassen war. Er durchsuchte sie und die Hefte, die in ihr lagen, brummelte auch, sagte aber nichts. Die Besichtigung einer Gästekammer und des großen Wohn-zimmers verschlang noch einmal 20 Minuten. Dann blieb er neben der gehäkelten Tischdecke stehen, wandte sich zu mir, hob die Arme an und sagte grimmig:

„Das einzige wäre, in der Küche fehlt das Geld.“

„Das Geld?“

„Ich tat das Haushaltsgeld, das ich jeden Monat von Tante Zlatas Konto abhob, immer in die mittlere Schublade des Geschirrschrankes. Davon abgesehen, bewahrte sie dort ihre eiserne Reserve auf, das war so ein Fimmel von ihr, 5.000 Kuna in einem zugeklebten Briefumschlag. Im ganzen müßten derzeit knapp 6.000 Kuna in der Schub-lade liegen. Die Ein- und Ausgaben an Haushaltsgeld stehen im Buch, wie Sie nachsehen können. Aber das ganze Geld ist weg.“

„Donnerwetter!“ sagte ich. „Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen.“

„Nein.“

Ich nickte, zog mein Notizbuch aus der Jacke und kritzelte irgendetwas hinein, was er ja ohnehin nicht sehen konnte. Dann nutzte ich die Gelegenheit, um ihm eine Kopie des Testamentes zu überreichen, die ich, gefaltet, ebenfalls in meine Innentasche gesteckt hatte.

„Es ist nur eine Kopie, Herr Vlasic. Das Original müssen wir noch ein paar Tage behalten. Aber da die Kopie beglaubigt ist, können Sie damit ruhig schon zum Gericht oder zu ihrem Rechtsanwalt marschieren.“

Er schaffte es nicht, nicht schon wieder rot zu werden. Er schob das gefaltete Papier unbesichtigt in die Gesäßtasche seiner nagelneuen Jeans. Ich steckte mein Notizbuch wieder ein und fuhr fort:

„Wenn Sie mir jetzt nur noch einen gewissen Einblick in die Kontoführung Ihrer Tante geben könnten, Herr Vlasic, wäre ich zufrieden und verschwände wieder.“

„Das habe ich alles unten“, deutete er auf den Teppich. „In meinem Computer. Wenn Sie ..?“

Ich nickte. Wir gingen zur Wohnungstür. Als er sie hinter uns zugezogen hatte, sagte ich:

„Schließen Sie ruhig ab! Unsere Versiegelung ist aufgehoben.“


16

Als ich nach 20 Minuten, die wir an Vlasics Computer verbracht hatten, die Domgasse betrat, mußte ich mich sputen, war es doch schon zwei Minuten nach fünf. Viel zu überlegen gab es ohnehin nicht. Bei den 5.000 Kunas in dem zugeklebten Briefumschlag handelte es sich mög-licherweise um eine etwas plumpe Erdichtung aus Vlasics Hand, während seine Kontoführungsarbeit für die liebe Tante wahrscheinlich nicht zu beanstanden war. Auf meinem eigenen Konto sah es jedenfalls trüber aus. Das war mir allerdings schon in der Frühe aufgefallen, als ich an meinem häuslichen Computer nachsah, ob ich mir ein Snookerqueue überhaupt leisten könne.

Fritz ragte aus dem Touristenstrom, der durchs Domportal floß. Er empfing mich mit einem angenehm festen Hände-druck. Zu oft lagen einem die fremden Hände ja doch wie die Seeschollen in der Hand, die ein Fischer vor drei Tagen aus der Adria gezogen hatte. Wir wandten uns zur Töpfers-gasse. Meinen Anlauf zu einer Entschuldigung für meine Verspätung schnitt Fritz mit einer Art Karateschlag ab:

„Gegen Liubina bist du die Pünktlichkeit in Person. Sie meinte am Telefon, sie habe unsere für gestern abend angesetzte Ranglistenbegegnung glatt verschwitzt. Wer's glaubt, wird selig.“

„Aber der Polsterer Branko Vlasic himmelt sie an?“

„Kann man so sagen.“

„Wie ist sie denn so?“

„Scharf.“

Da ich ihn stirnrunzelnd und etwas befremdet ansah, beeilte er sich zu erklären: „Das ist nicht in sexueller Hinsicht gemeint. Davon weiß ich nichts. Bei Dynamo Dubrovnik hieß sie das Messer. Bei Dynamo Tel Aviv, falls es das gibt, würde sie wahrscheinlich Tzipi Livni heißen. Sie wittert jede Chance und ist kaltblütig genug, um sie auch zu ergreifen. Wo findest du schon eine Frau, die Breaks um 50 wie ein Haushuhn Eier legt? Ihr höchstes Turnierbreak steht auf 92, das ist für eine Frau enorm.“

Peinlicherweise wußte ich nicht, wer Tzipi Livni war. Ich rang gerade mit der Frage, ob ich diese Bildungslücke eingestehen sollte, als mein Handy dudelte. So mußte ich Fritz schon wieder um Entschuldigung bitten. Er nickte nur nachsichtig.

Es war mein Chef. Wir hatten vor drei Tagen gemeinsam einen langgesuchten Hehler vernommen, aus diesem Ver-hör brauchte er jetzt noch einmal einen ganz bestimmten Eindruck von mir. Ich gab ihn ihm. Das Gespräch dauerte kein 30 Sekunden, aber anschließend hatte ich diese Tzipi Livni schon wieder vergessen. Stattdessen fragte ich Fritz:

„Was macht sie denn beruflich – Liubina?“

„Sie leitet das Büro der Grünen hier in Zamir. Damit hat Zamirsteigtauf sie ja von Dubrovnik weggelockt. Er ist selber Stadtverordneter von den Grünen, falls du es nicht weißt.“

„Mit anderen Worten: er hat sie gekauft?“

Fritz sah mich mißbilligend an und schüttelte seine blonden Haarsträhnen: „So etwas würde ich niemals behaupten ... Aber etwas anderes ist kein Geheimnis. Liubina versicherte einmal bei einer Bierrunde im Kreise der Mannschaft, wenn wir den Aufstieg in die Erste nicht schafften und sie ein Jahr nach dem Aufstieg noch nicht Profi wäre, ginge sie in die Politik. Die charakterlichen Eigenschaften dafür besitzt sie ja durchaus.“

Wir erreichten den Laden, der ausschließlich Billardzube-hör feilbot. Der Inhaber war selbstverständlich ebenfalls Clubmitglied, wenn er auch nicht in der Ersten Mann-schaft spielte, wie Fritz mir beim Betreten des Ladens zuflüsterte. Der Laden war kein Kiosk, denn sie hatten sogar einen Snookertisch aufgebaut. So konnten wir die Queues richtig abrollen und durchprobieren. Sie hatten natürlich kerzengerade zu sein und gut in der Hand zu liegen. Auch die Anzahl der Teile und deren Verschrau-bung war nicht unwichtig. Letztlich kam es freilich nicht auf die Güte des Stockes, vielmehr auf seine Überzeu-gungskraft an. Es war wie in der Politik, von der wir ja gerade gesprochen hatten. Nicht der König herrschte, sondern der Glaube an ihn. Was wollte ein König ausrichten, wenn ihm nicht ein Polizist mehr Gehorsam leistete? Da nützte ihm die purste Goldkrone nichts, und genauso verhielt es sich mit der Kuppe meines neuen Queues, die aus nigerianischem Antilopenleder bestand. Als ich den Laden mit dem schmalen Koffer unter dem Arm verließ, war mein Bankkonto um rund die Summe geschmolzen, die unser Sportskamerad Branko als letztes Haushaltsgeld seiner Tante Zlata eingetragen hatte, 1.000 Kuna.

Um das neue Queue zu begießen, verschwanden wir sofort in der nächsten Bar, die drei Häuser weiter lag. Ich gab Fritz einen Pastis aus. Dazu tranken wir natürlich Wasser. Wir saßen auf hochlehnigen und hochmodernen Stahl-rohrstühlchen, die von ihrer mangelhaften Ausdehnung her genau das Richtige für Sylvija Klecak gewesen wären, die Grundschullehrerin. Sie waren, auch im Rücken, mit knallrotem Leder bezogen. Ich erkundigte mich bei Fritz nach Branko Vlasics Polsterei. Ob er wisse, was sein Mannschaftskamerad beruflich vorhabe.

Fritz machte eine unbestimmte Handbewegung. „Ich glaube, die Ärzte haben ihm nahegelegt, nicht mehr zu polstern, weil bei dem komplizierten Trümmerbruch seines Handgelenks auch ein paar Sehnen in Mitleiden-schaft gezogen worden sind. Tatsächlich hat er nach wie vor Schmerzen, sobald er etwas kräftiger zupackt, sagt er jedenfalls. Als Polsterer mußt du unablässig ziehen und drücken, das geht schon auf die Hand. Vielleicht könne er auf etwas Leichteres umsatteln, meinte er kürzlich; er hört sich also um. In der ersten Zeit sah er die Alternative übrigens hier.“

Fritz tippte vielsagend auf meinen schwarzen Queuekoffer, der neben uns, mit Überstand, auf einem dieser roten Stühlchen lag. Hochkant gestellt, hätte auch der Koffer gut auf den Stuhl gepaßt, aber das war mir dann doch zu gefährlich. Fritz fuhr fort:

„Seine neue Geliebte aus Dubrovnik hatte ihm nämlich den Floh ins Ohr gesetzt, wenn er jetzt soviel Zeit zum trai-nieren hätte, könne er doch gleich versuchen, auf Profi zu trainieren, das Zeug dazu hätte er bestimmt. Ich sage dir, er hat fast unter einem Snookertisch im Haus der Weißen geschlafen, so erbittert trainierte er! Aber nach einigen Wochen war wohl allen Beteiligten klar, Branko war keine Liubina. Aus ihr hatte natürlich nur Wunschdenken gesprochen – falls es keine Falle war. Zamirsteigtauf und ich hatten alle Mühe, Branko wieder aufzurichten. Er hat nicht die Nerven zum Profi. Wir können schon froh sein, wenn er bei den Ligaspielen nicht zu oft einbricht.“

Ich stocherte mit meinem Zeigefinger auf meinen Queuekoffer und reckte den Finger anschließend, als säße ich bei Frau Klecak in der Grundschule:

„Ich kann ja versuchen, den Spieler Vlasic aus der Ersten Mannschaft zu verdrängen!“

„Immer ran“, brummte Fritz gutmütig, „an mir soll es nicht liegen.“

Ich nickte zur Tür. „Dann laß uns doch gleich mal Richtung Haus der Weißen marschieren, was hälst du davon?“

Sein Gesicht verlor die Unbeschwertheit. „Das geht leider nicht. Ich bin für heute zum Kochen verabredet. Ich muß gleich los, weil ich dafür noch einzukaufen habe.“

Mir schwante Schlimmes. „Zum Kochen? Darf man fragen, mit wem?“

Er kratzte sich hinterm Ohr und rieb sein Kinn, das an ein Weizenstoppelfeld erinnerte: „Mit einer Marimba-spielerin.“

Immerhin, er spielte nicht falsch und brachte auch keine Ausflüchte. Nachdem der Stich, der mir aufgrund seiner Eröffnung durch den Brustkorb fuhr, in der Leber verebbt war, gab ich dem Kellner einen Wink mit der Geldbörse und sagte zu Fritz:

„Na gut. Grüß sie von mir. Und richte ihr aus, sie möge mir nicht über den Weg laufen, wenn ich mein neues Queue bei mir habe, sonst verhaue ich sie damit.“


17

Der Tag klang glimpflicher aus, als ich befürchtet hatte. Zunächst schaffte ich es, auch ohne Fritz das Haus der Weißen aufzusuchen. Der Fußmarsch von einer guten Viertelstunde lüftete mich durch, war doch vom Meer her eine frische Brise aufgekommen. Vielleicht schenkten uns die Götter ein Gewitter. Nun wäre es mir sicherlich gelungen, im Billardsalon einen Gegner zu finden, aber ich wollte gar nicht mehr. Ich nahm mir einen Tisch ganz allein, um mich systematisch mit meinem neuen Queue anzufreunden und zudem gezielt gewisse Spielzüge zu üben, bei denen sich am Vorabend große Schwächen offenbart hatten. Ich war so vertieft, daß ich das Gewitter, das tatsächlich kam, kaum bemerkte, und zudem nicht die geringste Lust verspürte, die Spielerin Liubina in näheren Augenschein zu nehmen. Ich hatte ihren Rotschopf am anderen Ende des Salons zwischen den vielen roten Kugeln entdeckt, die hier umher rollten. Sie spielte mit Zamirsteigtauf.

An Dejica dachte ich nur insofern, als ich mir einmal sagte, vielleicht sei ein derartiges meditatives Snookerstündchen nicht die schlechteste Alternative zu den Joga-Übungen, die sie mir hin und wieder vergeblich ans Herz gelegt hatte. Vorausgesetzt, die Verkrampfung glitt von einem ab, glitt man selber wie auf Luftkissen über den hellgrauen Teppichboden, während man den wohlangerichteten Snookertisch umkreiste.

Nach anderthalb Stunden schraubte ich mein Queue wieder auseinander und versah den schwarzen Koffer mit einem selbstklebenden Namensschild, das ich mir auf Anraten von Fritz vorsorglich mitgebracht hatte. Eine mir fremde Frau – vielleicht die von Zamirsteigtauf – nahm es mir umstandslos ab, um es in der „Waffenkammer“ zu verstauen. Ich zahlte und wandte mich noch einmal zum Ziegenmarkt, weil ich mich entschlossen hatte, einen Bericht hinter mich zu bringen, den mein Chef in der Abschiebesache von mir erbeten hatte. Die Luft war erquickend. Gegen 20 Uhr war der Bericht zurechtgestop-pelt, und ich machte mich auf den Nachhauseweg. Das Schreiben war nicht meine Stärke.

Ich verzichtete darauf, in ein Lokal einzukehren, hatte mich doch jäh der Hafer gestochen: ich wollte ebenfalls kochen!

Ich kochte Spiralnudeln, briet sie gemeinsam mit Pilzen, Zwiebeln und Zuccini an und kippte ein Gemenge aus geschlagenem Ei und Sojasoße über das Ganze. Ich aß es gleich aus der Pfanne. Das sind eben die unschätzbaren Freuden des Junggesellendaseins, dachte ich, während ich mir die Finger am Unterhemd abwischte. Ich war noch nicht damit fertig, als mein Festnetztelefon klingelte. Ich hob den Hörer unwillkürlich unter Einbeziehung eines Zipfels meines Unterhemdes an, als gelte es, Fingerab-drücke zu vermeiden. Es war schon wieder mein Chef. Ob ich zufällig schon den Bericht … Ich stöhnte übertrieben, bejahte es und verriet ihm, in welchem Ordner meines Polizeicomputers die löbliche Fleißarbeit zu finden sei, denn wie ich aus der angezeigten Rufnummer ersah, hockte er noch im Präsidium. Dann machte ich meine halbe Wohnung sauber, es war wieder einmal nötig. Gegen 22 Uhr ließ ich es gut sein. Vor meinen Dachgauben stand inzwischen die Nacht. Ich duschte ein zweites Mal und setzte mich anschließend an meinen privaten Computer.

Fritz' Auskünfte über Branko und Liubina hatten mein Interesse an den Laufbahnen, vor allem jedoch an den Einkünften der professionellen Snookerspieler geweckt. Zunächst wollte ich es gar nicht glauben. Aber es wurde auch in der englischsprachigen Wikipedia bestätigt: die Gagen der Snookerspitzenakrobaten besaßen schon beinahe Tenniszirkusniveau! Wer eins der großen Weltranglistenturniere gewann, nahm – aus Pfund oder Dollar umgerechnet – 50.000 oder 150.000 Euro mit nach Hause, und sofern ihm im Laufe des Turniers ein Maxi-mum Break gelungen war, gleich noch 15.000 Euro dazu. Und mancher gewann zwei oder drei solcher Turniere im Jahr, von geringeren Plazierungen, die selbstverständlich ebenfalls Geld einbrachten, ganz zu schweigen. Daneben kassierten sie natürlich auch als Interview- oder Geschäfts-partner und als sogenannte Werbeträger ab. Kurz und schlecht, einige Dutzend Snookerasse, ganz vorwiegend Männer, gingen für fünf oder 15 Jahre ihres Lebens dem schweren Beruf des Millionärs nach. Dafür wurden sie von Millionen Snookerfans, die für einen guten Sitzplatz beim Viertelfinale anstandslos 150 Euro auf den Tisch blät-terten, wie König David angebetet. So können sie ihrerseits mit Psalm 23 lobsingen: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue, sein Stecken und Stab trösten mich, er bereitet vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“

Ich schaltete den Computer aus und setzte mich mit einer gekühlten Flasche Bier auf meinen kleinen Dachbalkon. Zamir brummte und funkelte; auch über das Meer glitten Lichter. Das Snookeras lag auf der Yacht, und Kescher angelte im Schein einer gestohlenen Taschenlampe nach Pfandflaschen. Zwar drängten sich auch Vorstellungen darüber auf, wo Fritz in diesem Augenblick liegen könnte, aber ich bekämpfte sie mit Erinnerungen an sozialroman-tische Theorien gegen das Besitzstreben, die ich hier und dort aufgeschnappt hatte. Ich war kein Bücherleser, wußte jedoch durchaus, ein gutes Queue wird nicht dadurch schlechter, daß es hin und wieder von einem anderen guten Spieler benutzt wird. Eher im Gegenteil. Und mehr noch, es hieß sogar, es gäbe gar nicht so wenig gute Queues auf der Welt, und im Grunde genommen nähmen sie sich alle nicht viel. Es kam auf den Spieler an. Einige Spieler schworen darauf, ihr Queue Abend für Abend mit nach Hause zu nehmen; andere ließen es vertrauensvoll im Salon liegen. In Clubkreisen erzählte man sich sogar die Geschichte eines Spielers, dem man sein unersetzliches, so hervorragend auf ihn eingespieltes Queue in der Nacht vor dem Turnier gegen das genau baugleiche eines Club-kameraden vertauscht hatte. Er merkte es erst, als man ihn darauf hinwies. Aber da hatte er das Turnier bereits gewonnen.



Fortsetzung hier
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