Freitag, 6. Juli 2012
Das Floß der Medusa
In bürgerlichen Kreisen ursprünglich verpönt, wurde die solidarische Haltung hoffähig, als Kanzler Schröder von der SPD 2001 dem von Terroristen bedrohten oder regier-ten nordamerikanischen Volk unsere „uneingeschränkte Solidarität“ versicherte. Zum Glück hatten die Anschläge auf Twintowers und Pentagon den Präsidenten Bush nicht zum Einarmigen gemacht. Ein solcher hatte laut Jost Herbig nachgewiesenermaßen in der Neandertaler-Horde von Shanidar gelebt, wo er sogar das vergleichsweise biblische Alter von rund 40 Jahren erreichte. Ob die NeandertalerInnen das Gefühl hatten, ihn „mitschleppen“ zu müssen, ist nicht überliefert. Jedenfalls taten sie es, obwohl er durch einen Geburtsfehler so schwer behindert war.

Auf dem Floß der Medusa wäre er vermutlich als einer der ersten zu den Haifischen gewandert. Die französische Fregatte La Meduse war 1816 vor der Küste Westafrikas in Seenot geraten. Da die Rettungsboote nicht ausreichten, wurde eilends ein Floß gezimmert. Die Boote nahmen der-gestalt 200 Personen in Schlepp. Angesichts der rettenden Küste wurden die Taue jedoch gekappt. Das Floß trieb ab. Mit den Vorräten und dem Trinkwasser schrumpften auch die guten Sitten. Schwache wurden ins Wasser gestoßen und ertranken. Trinkwasserdiebe wurden erwürgt. Je schmäler die Floßbesatzung, desto höher die Überlebens-chancen. Man aß bereits Tote. Als das Floß nach 12 Tagen endlich entdeckt wurde, lebten nur noch 15 Personen. In der Hoffnung, sie seien resozialisierbar, hätte man aus ihnen immerhin noch eine Landkommune bilden können. Die solidarische Linie auf dem Floß der Medusa wäre selbstverständlich gewesen, keinen zu opfern. Man trägt Mangel, Leiden und Risiko gemeinsam. Wenn schon Untergang, dann für alle.

Genauso verfuhr – trauen wir Bruno Franks bemerkens-wertem Roman über ihn – Miguel Cervantes (1934) rund 200 Jahre früher unweit von Algier, wobei er sich aller-dings bös in die Nesseln setzte. Um der höllischen Sklave-rei unter dem Korsarenchef Dali-Mami zu entkommen, hatte er sich mit zwei Dutzend anderen Elenden, die er aus der Stadt gelotst hatte, in einem Garten versteckt, wo sie ihr Fluchtschiff erwarteten. Solange es nicht eintraf, schlich sich der junge Dorador wiederholt unter Lebens-gefahr in die Stadt zurück, um für alle neue Nahrungsmit-tel zu besorgen. Schließlich kam das Schiff – aber Dorador blieb aus. Cervantes beschwor sowohl seine Mitsklaven wie den Kapitän, den Dorador jetzt nicht im Stich zu lassen. Sie murrten stark, denn natürlich hätten sie sich lieber auf der Stelle in Sicherheit gebracht. Sie wollten schon ablegen, da tauchte Dorador endlich im Garten auf. In seinem Gefolge hatte der Verräter den grinsenden Dali-Mami mit seinen Schergen. Jetzt hätten die Flüchtigen Cervantes nur zu gerne gelyncht.

Übrigens zählen die SchriftstellerInnen im allgemeinen zu den unsolidarischsten Banden der Welt. Alles, was ihre Konkurrenten um die Palme der Poesie abwertet, boykot-tiert oder aus dem Verkehr zieht, ist ihnen willkommen. Für sie ist Ruhm unteilbarer als die Menschenwürde. Müßten sie mit ihren noch unbekannten Kollegen, die am Hungertuch nagen, die „Gemeinsame Kasse“ anarchi-stischer Kommunen praktizieren, würden sie lieber aufhören zu schreiben und zu signieren und in talkshows zu glänzen und Literaturpreise einzustreichen. Ein Krösus wie Martin Walser schwingt seine „Moralkeule“ eher gegen Antifaschisten statt gegen Kapitalisten oder Auflagen-könige. Um unsolidarisch sein zu können, muß man die Fähigkeit besitzen, sein Langzeitgedächtnis wie einen Laptop ausschalten zu können. Das gelingt Großen, die nie klein waren.

Kürzlich erzählte mir meine Berliner Freundin U., die gerade ein Plakat entworfen und abgeliefert hatte, das einzige, wofür sich die PR-Frau der auftraggebenden Bühne interessiert habe, seien der Schriftzug und die Adresse eben dieser Bühne gewesen – ob sie nicht ein bißchen zu klein geraten seien? U.s Bemerkungen über Plakatgestaltung, Sehgewohnheiten, Blickfänge gingen an der Dame vorbei: sie wollte ihre Bühne größer haben. Also tat ihr U. den Gefallen, schließlich brauchte sie das Geld. Mir gegenüber schimpfte sie dann auf den „Narzißmus“ und „Autismus“ ihrer Kundin. Diese Wortwahl verblüffte mich, hätte ich selber doch eher vom üblichen „Eigennutz“ der Menschen gesprochen, der mich seit Jahren mindestens jede Woche einmal zur Weißglut bringt. Die Dame wollte eben ihr Theater gewürdigt sehen – U. wollte ihr Geld ...

Die Sache mit dem eigenen Hemd, das einem stets am nächsten sei, ist ein derartiger Gemeinplatz, daß man kaum darüber zu schreiben wagt. Gleichwohl fürchte ich, nicht jedem Menschen ist die Tragweite der Angelegenheit klar – eingeschlossen deren Tragik. Es ist ja genau diese Eigennützlichkeit, die sämtliches gesellschaftliches Leben zersetzt – und sehr wahrscheinlich ist sie unvermeidbar. Denn auch in dieser Hinsicht sind wir nur Tiere. Aber die Tiere sind nicht mit der menschlichen Schmerzempfind-lichkeit geschlagen. Sie hätten es viel einfacher als wir, diese ganzen Ideen von Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Solidarität und so weiter zu verwirklichen. Natürlich denken sie gar nicht daran, da wären sie ja blöd. Alle mir zugefügten Schmerzen (eine Begleiterscheinung des Bewußtseins) treffen mich ungleich mehr als den Bruder. Analog die Lust. Niemand wird jener PR-Frau vom Theater den Mückenstich, das Sterben und jenes Loch abnehmen, das ein viel zu kleines Theater-Logo auf dem Plakat in ihr Herz gebrannt hat. Wahrscheinlich ist dieses Loch auch die Quelle der beliebten Doppelmoral, die ich in jedem zweiten Beitrag beklage.



>Kommune
Zum Gegenpol „Eigennutz, Ich- und Besitzdenken“ siehe auch Ehre
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