Donnerstag, 5. Juli 2012
In der Krümmung der Scherbe
Anfang 2010 liebäugelte ich mit dem Plan, eine Biografie über Armin Müller zu verfassen. Er hatte, nicht weit von mir, in Weimar gewohnt, übrigens mit Blick zum Etters-berg. Doch dieses Vorhaben zerschlug sich bald, da Müllers Söhne, für mein Empfinden, nicht ernsthaft an einer biografischen Arbeit über ihren 2005 gestorbenen Vater interessiert waren. So versuchte ich mich mit all dem zu trösten, was mir durch das Scheitern dieses Buch-projektes erspart blieb: Darstellungsprobleme, endloses Aktenstudium, einige Fernreisen, Ärger mit Verlag, Kritik und Publikum und so weiter. Ich füge nun den damals von mir vernachlässigten Umstand hinzu, daß der Schriftsteller Armin Müller auch Fernsehautor, Lyriker und Maler war. Vor der Folie meines Essays Klappe zu, Affe tot betrachtet, hätte es sicherlich eine Qual bedeutet, mir in diversen Archiven Müllers TV-Beiträge anzusehen. Und wie sich dazu äußern?

Kaum anders steht es mit der Lyrik. Wie ich aus dem geliehenen Buch Auf weißen Pferden schließe, das 47 Kombinationen von Gedichten mit Gemälden präsentiert, besteht auch für den vielgerühmten „Poeten“ Müller die Aufgabe Moderner Lyrik darin, die enttarnte Welt wieder zu verrätseln. Er macht das selbstverständlich nicht ohne Sprachgefühl, doch dadurch werden die Gedanken noch lange nicht so klar wie Wodka. Das Glas / ist zersprungen. // Der Mond / schwimmt den Fischen / entgegen. / Tief in den See / tauchen / Vögel. // In der Krümmung / der Scherbe, / Spieglein, Spieglein / im Sand, / findet das Gras / zu den / Sternen. Näheres sehen Sie bitte hier.

Ein kurzes Urteil über Müllers Malerei will ich wagen, obwohl mir nur jene 47 Reproduktionen vorliegen. Müllers offenbar durchweg kleinformatigen Gemälde zeigen zumeist farbenfrohe, oft auch ländliche Szenen einer Realität, die er träumerisch überhöht. Leider geht er dabei in seiner Einfalt nicht selten bis zur Sentimentalität. Über die für eine Hochzeitskutsche freigehaltene Straßenkreu-zung segeln Engelchen mit Schenkeln wie Mastschweine. Um eine Birke fliegen Mädchen mit Schmetterlingsflügeln. Den verschneiten Marktplatz krönt der erleuchtete Weih-nachtsbaum.* Es wäre nicht ganz korrekt zu behaupten, Müller male stets die heile Welt. Hier und dort zeigt er auch abgestorbene Bäume, Gräber, gar Skelette. Aber seine in jeder Hinsicht niedliche Malweise nimmt selbst solchen Szenen den Ernst, also etwa den Schrecken. Müllers Linie für den Pinselstrich ist die Verharmlosung. Insofern stehen wir doch wieder vor einer heilen Welt. Das macht er natürlich nicht aus böser Absicht. Er folgt einfach seiner großen Sehnsucht nach Geborgenheit, die er vermutlich den Unbilden seiner Kinderstube verdankt. Das ist nicht unzulässig, aber unreflektiert. Für einen geschulten Marxisten etwas befremdlich, zumindest jedoch merk-würdig. Sein Blick für die ausgewogene Komposition eines Bildes ist gut, dient freilich jener Verharmlosung. Die Technik des „naiven“ Malers Müller kann ich schlecht beurteilen. Es verblüfft mich aber nicht zu hören, so manches Gemälde habe so manchen Betrachter entzückt. Müller hatte sowohl vor wie nach der „Wende“ (von 1989) regelmäßig Ausstellungen, die stets gut besucht waren.

Gottseidank ging seine Liebe zu Idyllen in seine wichtig-sten Prosawerke nur angenehm gebrochen ein. Nach meinem Eindruck wird der Erzähler Müller – sofern überhaupt zur Kenntnis genommen – zumindest „im Westen“ erheblich unterschätzt. Ich empfehle seine „Triologie“ Meine verschiedenen Leben (1978) / Der Magdalenenbaum (1979) / Taube aus Papier (1981) und selbstverständlich sein Meisterwerk Der Puppenkönig und ich (1986), über das ich 2010 in Wikipedia einen Artikel angelegt habe.

* Musikalischer Gegengruß:
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