Mittwoch, 4. Juli 2012
Eine feste Burg des Automobilbaus
Auswärtige Brief- oder TelefonpartnerInnen von mir wundern sich zuweilen, wenn ich davon spreche, gestern oder heute vormittag sei ich, von deren Rand aus, in der Stadt gewesen. Dabei ist Waltershausen sogar, laut Wikipedia, die „zweitgrößte Stadt“ unseres Landkreises Gotha. Sie hat, mit ein paar Dörfern, knapp über 10.000 EinwohnerInnen.

Aufgrund solchen Erstaunens habe ich einmal nachge-forscht, wodurch Städte eigentlich offiziell ausgemacht werden. Auch darüber klärt uns Wikipedia auf. Heutzutage stelle „Stadt“ nur noch einen (vom Land verliehenen) machtlosen Titel dar, vielleicht dem „Ehrendoktor“ vergleichbar. Somit bescheinigt er einen Status, der nicht automatisch mit Privilegien verbunden ist, obwohl er sicherlich „das Renommee“ hebt. Das war im Mittelalter anders, wo Städte Marktrecht, Bürgerfreiheit, Befesti-gungsrecht, Gerichtsbarkeit, Steuer-, Zoll- oder gar Münzrecht u.ä. besaßen. Der Grad der Selbstverwaltung oder der Weisungsbefugnisse richtet sich heute nach anderen Kriterien, voran die Einwohnerzahl. Dagegen wird der Titel „Stadt“ ganz unabhängig von der Einwohnerzahl verliehen (oder, von früher her, geduldet). Deutschlands kleinste Stadt Arnis hat rund 300 EinwohnerInnen, was so manches Dorf zum Lachen bringen dürfte – beispielsweise Rellingen bei Hamburg (13.500) oder Rastede bei Oldenburg (21.000). Arnis liegt bei Kiel an der Schlei. Österreichs kleinste Stadt, Rattenberg am Inn, ist mit 400 Einwohnern nicht wesentlich größer. Thüringen hat immerhin drei Städte unter 1.000 Einwohnern zu bieten, darunter Ziegenrück im Saale-Orla-Kreis, alles wunderschöne Namen.

Mein Romanmanuskript Konräteslust ist zwar kürzlich (März 2012) wieder einmal von einem kleinen Verlag angefordert worden, aber mein Glaube an Kleinverlage ist inzwischen weitaus geringer als mein Glaube an Klein-städte. Der Text schildert eine Freie Zwergrepublik, die ich in dem ehemaligen Städtchen Konradslust bei Gotha angesiedelt habe. Sie hat rund 3.000 EinwohnerInnen, womit sie nach meiner Überzeugung auch ungefähr die Obergrenze für noch basisdemokratisch verwaltbare Lebensgemeinschaften markiert. Übrigens ist auch der Stadtname „Konradslust“ erfunden. An der längst stillgelegten Bahnnebenstrecke, die von Bufleben aus stromabwärts durchs Nessetal führte, liegt ein rund 600 Seelen starkes Dorf mit dem Namen Friedrichswerth, das durch den gleichnamigen Gothaer Herzog zu zweifelhaften Ehren kam. Friedrich schuf hier um 1680 sein „Klein-Versailles“ als Sommerresidenz. Das Schloß steht seit vielen Jahren leer, weil das Land Thüringen es gesünder findet, wenn seine Obdachlosen unter Brücken nächtigen. Das Dorf ist keine Nesseperle. Es wurde erst durch mich aufgewertet – was möglicherweise nie ein Sterblicher erfährt.

Dereinst soll es eine schiffbare Verbindung über Nesse / Hörsel / Werra von Friedrichswerth bis Bad Hersfeld gegeben haben, was vor allem den Räubereien der Klosterbrüder zugute kam. So trudelte der Zehnte auf Kähnen ein. Nahe der Hörselmündung in die Werra liegt Eisenach, das ich dieser Tage, mangels Boot, per Eisenbahn aufgesucht habe, weil ich Gitarrensaiten, Teenetze und Unterwäsche benötigte. In der Stadt Waltershausen ist dergleichen nicht zu bekommen. Für mich ist der Preis solcher Einkäufe ausgesprochen hoch. Sie kommen einer dreistündigen Verbannung nach Tokio gleich – so elend wird mir bereits in einer Provinz-metropole, die 42.000 EinwohnerInnen hat.

Der Fremde könnte eigentlich schon bei seiner Ankunft im Eisenacher Bahnhof gewarnt sein. Schweigen wir von dem (alten) Gebäude im ganzen, das so ungeschlacht und abstoßend ist wie jener Dr. Martin Luther, den uns immer die Holzschnitte zeigen. Die hohe Eingangshalle atmet immerhin einen Zug Bauhaus, gepaart mit der hausbak-kenen, armseligen Ästhetik der verstorbenen DDR. Der offenbar gegossene melierte Steinfußboden erfreut die Füße durch einige hübsche farbig abgesetzte Jugendstil-ornamente. Die hochgelegenen Fenster sind mehr oder weniger bunt verglast. Und da man sich in einer Stadt des Automobilbaus befindet, zeigen sie nicht etwa Industrie-szenen aus der Eisenbahn-, vielmehr aus der Auto-fertigung. In Eisenach wurde der berüchtigte Wartburg gebaut. Heute türmt hier Opel blitzende Blechkisten auf Halde.

Hat man die Innenstadt erreicht, zwängen sich die breitmäuligen Geländefahrzeuge und die nicht weniger fetten Linienbusse durch Straßen, die schon für Dr. Luther zu eng gewesen waren. Luther machte nur weniger Lärm (während er auf der Wartburg die Bibel übersetzte) und stank auch nicht ganz so viel. Man könnte sich vor Gram zu Boden werfen, um in die Straßenbahnschienen zu beißen, die hier und dort noch im Asphalt oder Pflaster zu sehen sind. Die Eisenacher Straßenbahn landete 1975 auf dem Altar des Fortschritts. Das sollte man sich eigens klar machen: es geschah in einem „sozialistischen“ Land! Das haben die freiwillig gemacht!

Eisenach war einmal, vorübergehend, Residenzstadt gewesen (Herzogtum Sachsen-Eisenach), wovon am großen Marktplatz noch das Stadtschloß zeugt. Jenseits erhebt sich der Pfarrberg, den etliche wuchtige Villen aus der Gründerzeit spicken. Das war beste, freilich auch beschwerliche Wohnlage. Schon ich kam ins Keuchen. Stellt man sich Umzüge mit Fuhrwerken vor, kriegen die Gäule Asthma. Heute schwebt der Eisenacher Geldadel in den erwähnten Geländefahrzeugen zu seinen Apparte-ments empor. Die gehen nicht zu Fuß, das wäre zu zeit- und kraftraubend.

Eigentlich gab mir schon das ganz normale Einkaufs-publikum zwischen Karlsplatz und Marktplatz den Rest. Es war mir im wahrsten Sinne des Wortes peinlich, im Strom dieser süchtigen, trotz aller Eile stets auf Selbstdarstellung bedachten ZweibeinerInnen mit zu schwimmen. Diese Wesen sind krank vor Gegenwartsstolz. Bedenkt man, daß es sie schon zu Musils und Kreuders Zeiten gegeben hat, verliert man jede Hoffnung, noch einmal Anschluß an sie zu finden. Ich kam mir vor wie ein Marsmännchen. Der Kranke bin also ich.
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