Dienstag, 3. Juli 2012
Ein Tiger auf Stelzen
Macht unsre Katze einen Buckel oder unsre Gans ihren Hals zur Lanze, wird ihnen niemand vorwerfen, sie verstellten sich. Sie spielen lediglich ihre artgemäßen Trümpfe aus. Bei Eseln und Tigern scheint die Sache mitunter anders zu liegen. In Canettis übergewichtiger Untersuchung Masse und Macht von 1960 sucht ein Tiger, der offenbar zum Vegetarismus bekehrt worden ist, die Getreidefelder verschiedener Bauern heim. Erst ein besonders mutiger Feldhüter wagt ihn mit Hilfe einer List anzugreifen. Er hüllt sich in einen grauen Mantel, sodaß er womöglich als wohlschmeckender Esel gelten und so den vegetarischen Tiger wieder auf den Pfad des richtigen Geschmacks führen kann. Doch der vermeintliche Tiger galoppiert erfreut wiehernd auf den Feldhüter zu, weil er sich eine Eselin erhofft. Dabei entgleitet ihm sein Tigerfell. Sein Besitzer hatte den Esel als Tiger verkleidet, um ihn auf Kosten seiner Nachbarn ungestört mästen zu können.

Wo diese ausgesprochen hochbeinigen Tiger heimisch waren, verrät uns Canetti nicht. Jedenfalls war die Verstel-lungskunst noch nicht perfekt. Wer sich heute ungestört mästen will, gibt sich einfach bei Volkswagen oder Siemens als ArbeitnehmervertreterIn aus. Nur die braunen Esel dürfen das Volk, statt es zu repräsentieren, treten. Während Canetti das Phänomen der Vertretung (Kapitel 2) höchstens streift, fesseln ihn Verwandlungen. Sind diese wenigstens „innovativ“?

Zuweilen beschleicht mich nämlich der Verdacht, wer ein unverwechselbares Lebenswerk zu krönen habe, müsse für alten Kaffee irgendeine neue Worthaube finden. Durfte ich mein Geld, statt in der Schneiderei, in einem Nähstudio lassen, fühle ich mich in dem geänderten Kleid schon gleich um 10 Jahre verjüngt. Friedrich Georg Jünger faßte Darstellung und Beschwörung unter „Ahmung“ zusam-men. Canettis „Verwandlung“ ist damit verwandt. Wir fühlen uns ein, schlüpfen in Rollen, spielen, verschmelzen Lebensphasen oder -arten, wachsen. Wir bereichern uns selbstbestimmt und unvermittelt. Verwandlung ist Wachstum ohne Delegierung und ohne Ausbeutung.
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