Freitag, 29. Juni 2012
Die Witwe Couderc
Enthalten in meinem Stockraus von 2009


Seine wie am Fließband geschriebenen Romane um Kom-missar Maigret sind stets fesselnd, aber nie bezaubernd. Sie spinnen uns nicht ein. Wie könnten sie auch? Ihre Spannung wird von der Handlung ausgemacht, die sich unablässig wendet. Man kommt kaum zum Atemholen. Und sie werden vom Dialog beherrscht, der nichts anderes zum Ziel hat, als die Handlung vorwärts zu treiben. Da wird viel geredet – und nichts vertieft. Es gibt kein Verweilen. Die Jagd nach Ergebnissen duldet es nicht, einen von der Mittagssonne erleuchteten Türspalt über der ausgetretenen Sandsteinstufe zu erwähnen, die in Tatis Küche führt. „Ein Band aus schmelzendem Gold, worin man die Füße des Federviehs sich bewegen sah.“

Tati ist Die Witwe Couderc. In diesem schmalen Roman läßt sich Georges Simenon auf die Dinge ein. Dabei ist er Könner genug, um sie mit sparsamsten Strichen zu zeichnen. Man meint, er streife sie nur. Aber sie packen einen. Nur vor Dingen – wozu neben Türen oder Fenstern auch Gesichter oder Regengüsse zählen – läßt sich spürbar machen, was Vergänglichkeit bedeutet. Der Mensch ist das bedrohte Wesen. Er wandelt auf einem Band aus schmel-zendem Gold.

Im Betätigungsfeld Kommissar Maigrets kommt dieses Gefühl nie auf. Da setzt es Pistolenschüsse und Kreuzver-höre – sie gehen an uns vorbei. Sie berühren uns nicht. Die Tatsache, daß wir sie gern verfolgen, um besser einschlafen zu können, legt davon Zeugnis ab. Dagegen geschieht in diesem Simenon von 1942 zunächst wenig. Die alternde und ziemlich häßliche Witwe Couderc betreibt am Kanal einen winzigen Bauernhof. Den 28jährigen Jean hat sie an der Landstraße aufgelesen. Obwohl wir von beider Herkommen erst allmählich und nur in Streiflichtern erfahren, ahnen wir sofort das Verhängnis, das über Tati und Jean in der erquickenden Mailuft schwebt. Dabei trauen wir es eher Tati zu, etwas im Schilde zu führen. Jean hegt zunächst die Hoffnung, in diesem durchsonnten, abgeschiedenen Winkel das Gespenst seiner Vergangenheit zu bannen, das ihn ins Gefängnis führte. Er ist soeben erst entlassen worden. Das Gespenst besteht aus Unruhe und Angst. Zumindest für einige Mittage scheint es geflohen. Da sitzt er Tati nach dem gemeinsamen Essen entspannt am Küchentisch gegenüber – „immer rittlings auf seinem Stuhl, die Ellbogen auf der Lehne, während aus seiner Zigarette ein dünner Rauchfaden aufsteigt.“

Allerdings werden selbst die Gespräche von Tati beherrscht. Sie führt das Kommando. Jean erledigt all die Arbeiten und Besorgungen, die sie ihm aufträgt, mit erstaunlicher Geduld. Sie geben ihm Halt. Hin und wieder darf sich Jean sogar an seiner Herrin befriedigen; dann macht sie für ihn ihre aufgedunsenen Schenkel breit. So behält sie selbst in diesem Bereich die Aufsicht. Noch vom Krankenlager aus versteht es Tati, ihren willfährigen Knecht zu beargwöhnen und zu peinigen. Jean hält es aus. Vermutlich sieht er in dieser stämmigen Witwe, die ihm so etwas wie Heimat zu bieten scheint, seinen letzten Strohhalm.

Doch wer wollte es ihm verübeln, wenn er gleichwohl mit Felicie anbändelt? Gelegenheit macht Diebe: das etwas spröde, rothaarige Mädchen ist öfter am Kanal zu sehen. Obwohl er heimlich vorgeht, wittert Tati Jeans Absichten sofort. So mischt sich auch Eifersucht in Tatis Mißtrauen. Tati traut niemandem über den Weg. Zu allem Unglück ist Felicie die Tochter ihrer Schwester Francoise. Diese arbeitsscheue Schlampe will ihr das Bauernhäuschen abspenstig machen, das dem alten Couderc gehört. Dabei ist Francoise so dumm, daß man Lust bekommen könnte, „ihr eine Handvoll Heu zu reichen“ statt mit ihr zu sprechen! Gewiß – Tati ist schlau. Sie hält stets die Fäden in der Hand, selbst den Hosenbund ihres Knechts Jean. Doch sie verkennt das Potential langangestauter Verzweiflung. Von der Seele unterdrückter Menschen weiß sie nichts. Ein trutziger Turm, hat sie sich dem Ansturm oder den Schlichen von Neidern und Schmeichlern zu erwehren, die sie schon auf 50 Metern riecht. Jeans Angriff dagegen trifft sie völlig unerwartet. Eines Tages, da sie ihm wieder mit einem Verhör zusetzt, fällt Jeans Blick auf einen Hammer, der zufällig in Reichweite ihres Kranken-lagers liegt. Er nimmt ihn und erschlägt Tati. Dann betrinkt er sich und wartet darauf, daß sie ihn finden.

Nun mag er spontan gehandelt haben – die Tat war dennoch unausweichlich. Von Beginn an spüren wir, wie sehr die beiden Hauptpersonen in ihren Rollen gefangen sind. Der haltlose, ängstliche Jean ist ein Duckmäuser mit Selbstbestrafungsdrang. Er stammt aus gutbetuchtem Hause. Sein Vater vernachlässigt und verachtet den Sprößling, weil er nichts Zupackendes hat. Auch der Englischlehrer verachtet Jean. Er findet sein sadistisches Vergnügen darin, Jean von Zeit zu Zeit – ansonsten ignoriert er ihn – daran zu erinnern, nicht mehr zu taugen als ein in Geschenkpapier eingewickelter Haufen Scheiße. Jean vermag seine guten Anzüge nicht auszufüllen. So hat er auch Angriffen nichts entgegenzusetzen – es sei denn, Verzweiflungstaten. Ein Duckmäuser schleppt gleichsam einen Rucksack mit sich herum, in den ein Stein der Erniedrigung nach dem anderen gepackt wird. Aber irgendwann ist der Rucksack zu voll; dann platzt er.

Jean verdankte bereits seine Gefängnisstrafe dem Totschlag an einem Mann, bei dem er Spielschulden hatte. Es ist unwahrscheinlich, seine enthemmte Wut habe dieser Zufallsbekanntschaft gegolten. Der Vater, der Lehrer, die Geliebten, denen er nie genügen konnte, saßen ihm im Nacken. Damals wäre er um ein Haar zum Tode verurteilt worden. Vielleicht schafft er es jetzt, nachdem Tati in ihrem Blute liegt.
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