Sonntag, 24. Juni 2012
Fixierungen
ziegen, 22:36h
Auf dem Gang einer Station, wo ich nur gelegentlich zu tun habe, halte ich vor einer Zimmertür inne, die einen Spalt breit aufsteht. Aus dem Zimmer dringt unablässiges Lallen. Als ich meinen Kopf hineinstecke, schlägt mir zudem ein etwas unangenehmer Geruch entgegen, der mich an Arznei und Urin denken läßt. Aber durch das große Zimmerfenster fällt die Sonne. Sie beleuchtet eine Greisin, die sich in einem altmodischen Sessel wiegt. Frau O. – der Name steht neben der Zimmertür auf einem Schild – trägt ein verblaßtes, kleingeblümtes Kleid. Ihr nicht eben leises Lallen strömt wie Dauerregen gegen das Zimmerfenster.
Es ist unwahrscheinlich, daß Frau O. noch Witterungen, Jahreszeiten oder gar Tage unterscheiden kann. Ihre Verwirrung ist offensichtlich. Nur von den Mahlzeiten und der hygienischen Versorgung unterbrochen, verbringt sie ihren Alltag damit, sich unablässig lallend in diesem ihr vertrauten Sessel zu wiegen, der vermutlich aus ihrer früheren Wohnung stammt. Ihre Angehörigen, die sie hin und wieder besuchen, erkennt sie nicht mehr.
Frau O. ist 84. Vorausgesetzt, sie wird weiterhin gut betreut, kann sie ihren Alltag durchaus noch etliche Jahre auf diese Weise verbringen.
Die Lehrbücher für Altenpflege warnen davor, gebrech-liche und dazu noch verwirrte alte Menschen in die Nähe kleiner Kinder zu rücken. Die BewohnerInnen unseres Altenheims, die noch einigermaßen auf den Beinen sind, wissen es besser. Sie machen gern an der ausgedehnten Flurnische Halt, wo Tag für Tag dieselben acht Greisinnen an einem großen Tisch beisammensitzen – davon sieben im Rollstuhl. Sie schauen zu, wie Frau A. ein Brötchen aufgeschnitten bekommt oder Frau B. mit Brei gefüttert wird. Sie zucken zusammen, wenn Frau C. ihre Brille im Milchtopf versenkt oder Frau D. recht unvermittelt einen raubtierähnlichen Schrei ausstößt. Sie verfolgen kopfschüttelnd, wie sich Frau E. und Frau F. an der freigeräumten Tischplatte bunte Federn zupusten, während sich Frau A. einem Haufen ungebügelter Waschlappen widmet, die sie aufreizend langsam zu glätten und zu stapeln versucht.
Für uns, die wir diese Gruppe (um 2000) aufgebaut haben, geht es darum, unsere Schützlinge nicht sich selber und damit vor allem einer furchtbaren Langweile zu über-lassen, die der ideale Nährboden für ihre Ängste ist. Unsere ZuschauerInnen aber schütteln ihre Köpfe und raunen sich zu: „Wie die kleinen Kinder!“ Da ist auch Nachsicht und Besorgnis beigemischt, ahnen sie doch durchaus, selber von diesem Stadium des Alterns nicht sonderlich weit entfernt zu sein.
Dann werden sie auch ihre Notdurft nicht mehr souverän und klammheimlich verrichten können. Haben sie Glück, werden sie von einer Pflegekraft oder einem Mitarbeiter des Sozialdienstes aufs Klo begleitet. „Toilettengang“ heißt das sehr feierlich. Die meisten ToilettengängerInnen tragen bereits Windeln; allerdings werden diese als „Einlagen“ oder „Vorlagen“ verbrämt. Sofern sie verschmutzt sind, werden sie auf der Toilette gewechselt. Bald wird das aber nur noch im Bett vorgenommen. Der feierliche Toilettengang ist eine aufwendige Veranstaltung, zu der die völlig überlasteten und von allen Hunden gehetzten Pflegekräfte kaum noch Zeit haben. Ohnehin sehen es viele TrägerInnen von Alten- und Pflegeheimen gar nicht mehr so ungern, wenn ihre Schützlinge nicht etwa gesünder, vielmehr „höhergestuft“ werden können: je höher die Pflegestufe (1 bis 3), desto mehr Geld. Auch dadurch entfällt die „Mobilisierung“ des Greises oder der Greisin in zunehmendem Maße. Jetzt sind sie endgültig zum Säugling geschrumpft.
Im Grunde verkommen Freiheit und Menschenwürde in jedem Stadium der Vergreisung zu Attrappen. Auf ihren „Rollator“ gestützt, humpelt Frau K. in ihr Zimmer. Will ich ihr die Brille bringen, die sie in unserer Flurnische vergessen hat, soll ich an ihre Zimmertür klopfen. Mißachte ich dies, kann Frau K. auch nichts dagegen machen. Beschwert sie sich bei ihren Angehörigen oder bei ihrem amtsrichterlich bestellten Betreuer, werde ich Frau K. der Einbildung oder der Lüge bezichtigen. Als gesunder und eben noch nicht vergreister Mensch habe ich eine ungeheure Macht. Sollte Frau K. ihre Zimmertür von innen verriegeln, schließe ich sie mit meinem Generalschlüssel von außen auf. Ein solcher Zugang ist ja sowohl für Notfälle wie für die tägliche normale „Grundpflege“ unabdingbar. Bin ich bei Frau K. eingetreten oder eingedrungen, soll ich nichts eigenmächtig berühren oder gar verrücken, und sei es auch nur die Gardine an der Balkontür. Ich soll stets fragen: „Dürfte ich einmal dies oder das tun, Frau K.?“ Wenn das die Schwestern oder die Reinigungskräfte bei jedem Handgriff täten, wären sie nach wenigen Tagen für unser Verwirrten-Grüppchen reif.
Somit beläuft sich die Gefangenschaft gebrechlicher Greise nicht auf allerlei „Fixierungen“, die vom Amtsgericht angeordnet worden sind. Hinter diesem unverfänglichen Wort verbergen sich vor allem Bettgitter und verschließ-bare Gurte, also Fesseln. Sie sollen Stürze verhüten, vor denen verwirrte Greise selbst im Rollstuhl oder im Bett nicht sicher sind. Doch die Freiheit, die Frau K. hinter ihrem Rollator genießt, ist kaum größer. Bei sämtlichen altersschwachen Menschen liegt die Gefangenschaft unausweichlich in ihrer Hilflosigkeit. So müssen sie auf Schritt und Tritt unterstützt und bewacht werden. Nicht anders verfahren wir mit unserem zweijährigen Töch-terchen, damit es nicht vor ein Auto läuft oder alles aus den Regalen reißt, was ihm in die Finger gerät. Gelingt es ihm dennoch, das chinesische Teegeschirr abzuservieren, indem es an der Tischdecke zerrt, sollen wir das Kind – zum Glück blieb es unverletzt – nicht strafen. Denn Kleinkinder haben so wenig ein Bewußtsein von Recht und Unrecht wie unser Gruppenmitglied Frau C., die ihre Brille in den Milchtopf gleiten ließ. Sie können nichts dafür, daß sie „unreif“ sind oder an „Altersdemenz“ leiden. Und das macht auch keinen Unterschied. Beide fallen sie aus der Norm des mündigen Menschen.
Wie die KindererzieherInnen sind allerdings auch die AltenpflegerInnen beflissen darum bemüht, ihren Schützlingen das Gegenteil weiszumachen. So ist man in der Altenpflege während der letzten 10 Jahre dazu übergegangen, verwirrte Greise nicht mehr mit der „Realität“ (nämlich der unsrigen) zu konfrontieren und vielleicht wieder für sie tauglich zu machen. Das war ohnehin aussichtslos. Vielmehr erkennt man ihre mehr oder weniger wahnhafte Welt an und bestärkt sie noch eher darin. Sie sollen sich „normal“ fühlen dürfen. Bei unseren Dienstbesprechungen schmunzeln wir dann darüber, was sie sich wieder zurechtgesponnen haben.
So fördern wir auch Frau K.s Einbildung, in ihrem Zimmer die Herrin zu sein. Unsere Schützlinge sollen sich vorgau-keln, ein Toilettengang sei ein Sonntagsausflug. Ihre „Defizite“ beim Gehen, Essen, Abführen, Sprechen sind gar keine; es handelt sich um Unpäßlichkeiten oder Versehen – allenfalls um „Handicaps“. Die Behauptung, Frau B. werde gefüttert, ist deshalb streng verpönt; das Essen wird ihr angereicht. Doch die Listen, durch die unsere Schütz-linge ihr „Versagen“ zu überspielen oder zu übertünchen versuchen, deuten darauf hin, daß sie sich ihrer entwür-digenden Situation durchaus bewußt sind.
Wer mit verwirrten alten Menschen arbeiten will, sollte seinen Ehrgeiz zu Hause lassen und dafür Engelsgeduld mitbringen. Fortschritte werden selten erzielt. Es ist schon viel, wenn eine Fertigkeit erhalten oder ein Verfallsprozeß verzögert wird. Da die Demenz vor allem das Kurzzeit-gedächtnis erfaßt, müssen wir unsere Fragen oder Vorschläge an die greisen Damen dutzendmale am Tage wiederholen. Sie vergessen das meiste sofort – selbst daß sie vor 20 Minuten frühstückten oder vor fünf Minuten Besuch von ihrer Tochter hatten.
Frau A. stellt eine besonders große Geduldprobe dar, weil bei ihr das Schneckentempo und eine Art chronischen Weinens hinzukommen. Manchmal benötigt sie eine Minute, um die Gabel vom Teller zum Mund zu führen. Sie hockt fast durchweg eingesunken im Rollstuhl, blinzelt aus halb geschlossenen Lidern gegen die Tischkante und schlummert dabei öfter ein. Gewiß hängt dies auch mit den Medikamenten zusammen, die sie bekommt. Ohne diese nähmen Unruhe und Angst bei ihr überhand. Und damit wiederum hängt ihr häufiges Weinen zusammen. Dutzendmale am Tage treten ihr recht unvermittelt, wie es scheint, die Tränen in die Augen. Aha, jetzt kriegt Frau A. wieder ihren „Moralischen“, wie die Pflegekräfte dazu sagen. Er dürfte tiefe Ursachen haben. Wie wir im Laufe der Monate beobachten konnten, neigt Frau A. immer dann zum Weinen, wenn sie sich – und sei es aus den nichtigsten Anlässen – verlassen und verloren wähnt. Wie ein Kind! Hier sind seelische Verletzungen zu vermuten, die sich bei Erwachsenen hin und wieder erfolgreich behandeln lassen – sofern diese noch nicht verwirrt sind. Bei Frau A. ist es zu spät.
Wir trösten, obwohl wir nahezu umsonst trösten. Unsere Phrasen, es liege kein Grund zur Beunruhigung vor, sind vergeblich. Und schließlich können wir nicht rund um die Uhr Frau A.s Hand halten. Wir sorgen für eine zuver-sichtliche Stimmung. „Einen wunderschönen guten Morgen!“ ruft meine Kollegin aus. Frau A. hebt mühsam ihr Haupt und erwidert sowohl der Aussprache wie dem Inhalt nach verblüffend deutlich: „Tun Sie doch nicht so scheinheilig!“ Und auch kränken läßt sich Frau A. nicht immer ungestraft. Ich beuge mich ungehalten über den Tisch, um ihren Teller wieder an die Tischkante zu schieben: „Also mal ran mit dem Teller, Frau A., sonst fällt ja die Hälfte daneben!“ Frau A. hört zu kauen auf. Schließlich erwidert sie, ohne ihren Blick zu heben, langsam und traurig: „Wie reden Sie denn mit mir?“
Da flackert ein Aufbegehren auf, während sonst Dankbarkeit vorherrscht. Auch unsere kleinen Kinder schämen sich oft ihrer Hilfsbedürftigkeit, ihrer Versagen, ja allein schon ihrer Kleinheit. Das sind ihre wunden Punkte, an denen wir sie treffen können. Und dann wundern wir uns, wenn sie vom Gefühl ihrer Ohnmacht in Verzweiflung und Wut gestürzt werden. Wüßten sie erst, was ihnen mit zunehmender Wahrscheinlichkeit als Greisen droht!
Die Ursachen der sogenannten Altersdemenz sind bis heute umstritten. Dagegen besteht kein Zweifel an der Tatsache, daß sie erst im Zuge der Moderne und der Industrialisierung beängstigend um sich greift. Dies hängt mit der steigenden Lebenserwartung zusammen. Ein Mensch der Steinzeit kam kaum über 40 – und noch um 1700 wurde er selten älter als 65. Entsprechend wenige Menschen fielen dem Altersblödsinn anheim. Dagegen steht die statistische Lebenserwartung eines 2004 geborenen Menschen bereits auf 85 Jahren bei Männern und 90 bei Frauen.
Die beste Lösung bietet sich auch hier nach der Methode an, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben: man setze die verwirrten Greise und Greisinnen vor die Glotze. Für wache BeobachterInnen liegt ja auf der Hand, ein ohnehin so kompliziertes und anfälliges Gebilde wie das mensch-liche Gehirn sei dem modernen und insbesondere postmodernen Trommelfeuer der Eindrücke nicht mehr gewachsen. Da die Eindrücke unverarbeitet bleiben, müssen sie zur Überreizung führen. Das Gehirn spielt verrückt.
Man darf allerdings nie vergessen, daß wir solche Urteile stets mit just dem Gehirn fällen. Uns in unumgänglicher Befangenheit nur selbst beurteilen zu können, stellt die größte Hürde auf dem Weg zu Wahrheit, Gerechtigkeit und Gelassenheit dar. Es war noch einfacher, als wir uns von Gott sowie seinen Grundherren und Beichtvätern beurteilt wissen konnten. Unter dem Auge des Großen Manitu und seinen Zauber- oder Geheimnismännern bestanden zudem gute Aussichten, noch um 1900 die Schwelle von 100 Jahren zu überschreiten ohne zu verblöden. So geht es jedenfalls aus Welskopf-Henrichs Indianerromanen hervor. Die Frau war Althistorikerin.
Der Biochemiker und Essayist Erwin Chargaff, 2002 (mit 96) in New York gestorben, entging dem Lynchmord wegen „Kulturpessimismus“ sowie der „Altersdemenz“ nur knapp. Er litt zuletzt an Parkinson. Auf seine Berliner Zeit um 1930 bezogen, versichert er uns in seinen Erinne-rungen Das Feuer des Heraklit (1979), damals habe ihn zuerst die Ahnung ergriffen, die Welt sei für menschliche Wesen inzwischen zu kompliziert geworden – das Hauptmotiv unserer Zeit werde deshalb die Flucht sein; „das blinde Wegrennen vor einem unerträglichen Alltag, in Wahnsinn hinein, in Gewalttätigkeit, Zerstörung.“ Damit lag er wohl nicht so schief.
Unser Gruppenmitglied Frau F. ist 88. Ein Besucher könnte von weitem denken, in ihrem Rollstuhl säße ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen, aber dann erblickt er die schönen weißen Haare und die ausdrucksvollen grauen Augen von Frau F. Es hat etwas Groteskes, einem solchen schmächtigen und zerbrechlichen Wesen einen mehr als handhohen Bauchgurt anzulegen. Doch es geht nicht anders, Frau F. ist sturzgefährdet. Ein Schlaganfall verwirrte sie und machte ihre Zunge schwer. Auf der einen Seite lebt sie durch unsere tägliche Gruppe sichtlich auf. So kann sie ihren Brei wieder selbst löffeln, wenn auch ein Viertel auf den Latz tropft. Sie lacht jetzt öfter, versucht sich ihrerseits an scherzhaften Gesten, murmelt bei Volksliedern zumindest streckenweise mit.
Auf der anderen Seite ist sie nie vor Anfällen der Verzweiflung und Wut sicher, wie bereits angedeutet. Das Volkslied Und in dem Schneegebirge hat Kindheits-erinnerungen in Frau F. geweckt. Mit leuchtenden Augen, doch leider nur radbrechend, versucht sie vom Schulhof und vielleicht einer Schneeballschlacht zu erzählen; sie ist schwer zu verstehen. Und eben das weiß oder spürt sie. Deshalb bricht sie ihren mühsamen Erklärungsversuch jäh ab, indem sie nach Luft schnappt, ihre steifen Hände wegwirft und in sich zusammenfällt wie unter einer Schneelawine. Und während ihr die Tränen in die Augen treten, ermahne ich mich, nur Mitgefühl zu haben – nicht etwa mitzuleiden. Die Lehrbücher wollen es so, um meiner Gesundheit und meiner ungebrochenen Pflegekraft willen. Trotzdem sind wir AltenpflegerInnen in der Fluktuation Spitze; laut Statistik arbeitet jeder von uns lediglich fünf Jahre im Beruf.
Was Frau F. betrifft, hindert sie nur ihr Bauchgurt daran, sich vor Zorn und Scham auf der Stelle aufzulösen. Habe ich sie in ihr Zimmer zurückgefahren, zerrt sie am Gurt und fleht: „Helfen Sie mir aussteigen!“ Vielleicht wähnt sie sich in der Straßenbahn und möchte jetzt ihren Kindern das Essen kochen. „Ich will heim!“ ruft sie manchmal unvermittelt in unserer Gruppe aus. Ob Gruppe, Zimmer, das ganze schöne Altenheim – die Heimat war und bleibt etwas anderes. Machen wir uns nichts vor: Frau F. unter-liegt einer Abschiebehaft, aus der es kein Zurück gibt.
Es ist richtig, daß sich verwirrte alte Menschen verhältnis-mäßig leicht über ihr Langzeitgedächtnis ansprechen und aufmuntern lassen. Sie haben darin manche schöne Erinnerung an Schneeballschlachten oder Eisenbahn-fahrten mit Kind und Kegel aufbewahrt. Ob sie daraus allerdings ihr Heimat- und Persönlichkeitsgefühl und ihre Menschenwürde schöpfen können, halte ich für unwahrscheinlich. Denn der Fahrplan fehlt. Alles purzelt bruchstückhaft durcheinander. Und falls einmal Regie kommt, dann von außen – also von Zufällen oder fremden Machthabern bestimmt. Unter diesen Umständen dürfte sich das entscheidende Gefühl „dies ist mein Leben, das bin ich“ schwerlich einstellen können. Dazu bedürfte es der Vergegenwärtigungs- und Ordnungskraft, die just der Altersdemenz zum Opfer und zum Fraß gefallen ist. Trifft dies zu, bietet es immerhin einen gewissen Trost. Denn dadurch wären unsere Schützlinge gleichsam von einem dickwattierten Mantel umgeben, der die täglichen Dolchstöße zu Nadelstichen abmildert.
Den Löwenanteil an der Altersdemenz stellen Alzheimer-kranke. Von ihnen gibt es gegenwärtig (2007) in Deutsch-land rund eine Million, weltweit 29 Millionen. Die Dunkel-ziffer ist hoch. Für 2050 befürchten UN-Prognosen eine Steigerung auf 106 Millionen. Wer diese Massen sorgsam betreuen soll, steht in den Sternen.
Bei dieser tückischen Krankheit, die in der Regel schlei-chend mit scheinbar harmlosen Vergeßlichkeiten und Verwechslungen beginnt, läßt ein gestörter Stoffwechsel, der für unerwünschte Ablagerungen sorgt, fortschreitend Nervenzellen im Gehirn absterben. Um 1900 von dem Neurologen und Psychiater Alois Alzheimer von der Progressiven Paralyse und anderen Schwächungen des Geistes abgegrenzt, gibt es auch 100 Jahre später noch keine Aussicht sie zu heilen. Dafür sind ihre Ursachen zu unklar. Neben der Stoffwechselstörung sind ohne Zweifel auch soziale und seelische Dispositionen am Ausbruch und Verlauf der Alzheimer-Krankheit beteiligt, doch Genaueres weiß man nicht. Die Medizin tappt hier ähnlich im dunkeln wie bei den Krebserkrankungen oder den rapide um sich greifenden Allergien.
Bei umfassender Betrachtungsweise darf wohl geargwöhnt werden, der Mensch habe sich mit der von ihm selbst geschaffenen Lebensweise schlicht übernommen – die mehr oder weniger künstliche Verlängerung seines Lebens eingeschlossen. Streng übersetzt meint Demenz ja Verblödung. So könnte sich die unübersehbare Infantili-sierung der spätkapitalistischen Gesellschaft im Phänomen ausufernder Altersdemenz vollenden.
Obwohl mit 97 unsere Gruppenälteste, glänzt Frau G. zuweilen mit umwerfenden Bemerkungen. Ansonsten liegt sie in einer Art stoischen Vergnügens in ihrem Rollstuhl und blättert mit langen Armen und angefeuchteten Fingerkuppen in rasender Geschwindigkeit die Illustrierte durch, die wir stets für sie bereithalten müssen. Das kann sie stundenlang betreiben. Ist sie nach einer knappen Minuten hinten angekommen, kehrt sie die Illustrierte auf der Tischplatte um und fängt wieder von vorne an. Zwischendurch beteiligt sie sich ein bißchen am Singen oder Ballspielen, um uns das Erfolgserlebnis der Gruppenarbeit nicht zu rauben.
Da einfache Verhältnisse, klare Anweisungen und feste Strukturen das A & O unserer Arbeit sind, gibt es auch Stammplätze. So sitzen sich normalerweise Frau G. und Frau A. gegenüber. Vor rund vier Monaten waren Frau A. im Rahmen ihres chronischen „Moralischen“ gerade wieder die Tränen gekommen. Frau G. faßte sie nach-denklich ins Auge, unterbrach sich im Blättern und sagte, während sie mit ihrer Knochenhand abwinkte: „Du brauchst nicht zu weinen; deine Zeit ist noch nicht da.“ Worauf sie ihr Blättern wieder aufnahm.
Heute morgen fehlt Frau A. an unserem Tisch. Ihr Platz bleibt leer. Später teilt uns die Leiterin des Pflegedienstes mit, die Nachtwache habe Frau A. bei ihrem Kontrollgang friedlich lächelnd auf dem Rücken liegend vorgefunden – tot. Und da unsere Heuchelei ihre Grenzen hat, sagen wir alle spontan: „Glückwunsch!“ Etwas Besseres konnte Frau A. wohl kaum geschehen.
siehe auch Zwerglied
°
°