Sonntag, 1. Juli 2012
Wagners Ring ohne Kostüme
Eine Vorfassung erschien 2002 im Zweiwochenblatt Ossietzky


Er war das verkörperte Gegenteil der an Kunsthochschulen konzentrierten Opportunisten und Karrieristen, zumal in Berlin. Der gelernte Grafiker Günter Scherbarth lehrte am Einsteinufer Schrift, wobei er nicht mit verbalen und gestischen Einlagen aus den Werken Wilhelm Buschs geizte. An Schriftzügen baute er wie ein leidenschaftlicher Architekt an Häuserzeilen. Aber noch lieber zeichnete, radierte oder malte er – und zwar „nach der Natur“, was bei ihm vor allem hieß: nach der menschlichen Gestalt. Seine Aktstudien sind unzählbar. Er selber trat in altmo-dischen Kleidern auf, in denen man eher einen sogenann-ten Penner als einen sogenannten Professor erwartet hätte. Von seiner Schülerin Silke Kruse gibt es ein 1990 entstandenes Ölgemälde Günter radiert am Ring. Die dürren Beine übergeschlagen, hockt er auf einem Schemel. Seine kralligen Hände halten die Zinkplatte und die Kaltnadel. Die lächerliche Jacke wird von einem Knopf zusammengehalten, der uns ins Gesicht zu springen droht. Alles beherrschend der kantige Schädel mit dem Bürsten-schnitt. Die verstülpten Lippen ergeben einen langen Strich. Lotrecht dazu finsteres Gewölk über der Nasen-wurzel. Die eulenartigen Augen senden die Frage an uns aus: Sind etwa Sie die Krone der Schöpfung?

Es lag ihm gleich fern, den Menschen zu verherrlichen wie ihn zu verdammen. Er zeigte ihn in seiner Fehlbarkeit, die uns ja häufig immerhin zum Lachen bringen kann. Wahrscheinlich ist ihm das nie besser gelungen als in dem Zyklus über Richard Wagners Ring des Nibelungen, auf den sich Kruses Porträt bezieht. Auf 120 Blätter veran-schlagt, konnte er den Zyklus nahezu vollenden, ehe ihn 2000 Wotans Speer ins Herz traf. Da ihm das Verschwom-mene nicht lag, zog Scherbarth die Licht- und Schwarz-alben, Helden und Walküren aus den dräuenden Nebeln und betörenden Geständnissen, die sie verbreiten – und er zog sie aus. Sie handeln überwiegend als Akte. Aber er stellte sie nicht bloß. Wie immer wir uns ausstaffieren, verbrämen wir alle auf vielfältige Weise die eine uns auferlegte Vergänglichkeit. Auch Schreibpapier ist ja geduldig. Scherbarth war in einem Brief Wagners mit Genugtuung auf die Bemerkung gestoßen, am liebsten würde er die Sängerdarsteller des Ringes nackt auf die Bühne bringen. Ich konnte ihn dann mit einem Wagner-Zitat zum Parsifal erfreuen, das ich in Martin Gregor-Dellins Wagner-Biografie gefunden hatte: „Ach! Es graut mir vor allem Kostüm und Schminke-Wesen; wenn ich daran denke, daß diese Gestalten wie Kundry nun sollen gemummt werden, fallen mir gleich die ekelhaften Künstlerfeste ein, und nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen, möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden!“

Scherbarth war von der globalen Jagd nach Macht und Geld, Ruhm und Unsterblichkeit gefesselt, die uns Wagner in seinem langatmigen und – streng genommen – tautologischen Rührstück vorführt; schließlich steckt die Dramatik bereits in der Musik. Die Helden und Unholde, die sich dort stabreimend in die Brust werfen, wären in der Tat besser in den Orchestergraben gefallen. Scherbarth zeigt in seinen Blättern nur das Wesentliche. Auftrumpfen hilft nicht! Das ist seine Botschaft. Denn früher oder später müssen alle ins Gras beißen.

Als sich Scherbarth im Sommer 1983 erstmals näher mit der großangelegten Ränkeschmiede befaßte, die Wagner im Dunstkreis altgermanischer Sagen angesiedelt hat, war ihm gerade eine neue Niere eingepflanzt worden. Wahr-scheinlich hatte er sich die Krankheit bei Kriegsende zugezogen, als er im „Volkssturm“ Deutschland gegen die Russen verteidigen sollte. Der 15jährige Berliner Bengel zog es vor, sich nach Bayern durchzuschlagen. Durch die Nierentransplantation von 1983 waren ihm nun noch 17 Jahre in vergleichsweise großer Bewegungsfreiheit beschieden, sodaß er die 70 erreichte. Aber er mußte sich ständig zeit- und kräfteraubenden Kontrollen in der Klinik unterziehen und Medikamente nehmen, die andere Organe schädigten. Scherbarth zuckte die Achseln: „Der Mensch weiß hier mal wieder weniger, als er tut.“

Ein Jahr nach seinem Tod gelang es Kruse, F. W. Bernstein für eine Musterung des Scherbarthschen Ringes zu gewinnen. Deutschlands einziger Professor für Karikatur und Bildgeschichte hatte demselben Kollegium wie Scherbarth angehört, ohne von ihm zu wissen. Bernstein war gerade mit seinem Buch Richard Wagners Fahrt ins Glück. Sein Leben in Bildern & Versen befaßt, das 2002 bei Fest erschienen ist. Er zeigte sich von Scherbarths Zugriff und seinem langen Atem beeindruckt. Auf die vorherr-schenden Akte anspielend, scherzte er beim Abschied: „Wagner hatte bei allen Ring-Inszenierungen Pech mit seinen Kostümbildnern und Bühnenausstattern, was ihn immer wieder erboste. Mit Günter Scherbarth hätte er diesen Ärger nicht gehabt.“ Nur machte Scherbarth leider Wagners Traum vom Unsichtbaren Theater wahr: außer Bernstein und ein paar Getreuen kennt seinen Zyklus kein Mensch.
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