Dienstag, 26. Juni 2012
Das Alte Testament, ein Lehrbuch für NachwuchsschriftstellerInnen
Eine Vorfassung erschien 2000 in Nr. 38 der Zeitschrift Zeichen & Wunder


Warum? Weil es auf einen Schlag zahlreiche Sünden zu bieten hat, die Sie als angehende Schriftstellerin, männ-liche Autoren eingeschlossen, tunlichst nicht begehen sollten. So wiederholt es sich gern und frönt überhaupt der Weitschweifigkeit. Hat eine Geschichte im Alten Testa-ment so etwas Ähnliches wie eine Pointe, bringt sie der Autor gern zu Beginn – um sie am Schluß noch einmal wiederholen zu können. Ständig erzählen sich zwei Personen Dinge, die sie durch Dritte längst wissen; kommen in der Geschichte nur zwei Personen vor, weiß es dafür schon der Leser oder die Leserin. Auch die einzelnen Bücher des Alten Testamentes wiederholen sich gegen-seitig oder überschneiden sich zumindest so oft, daß es weh tut. Am unerträglichsten sind naturgemäß die Bücher, in denen bloß geredet, gesungen oder gepredigt wird. Die Lamenti von Hiob und Konsorten, immerhin 42 Kapitel lang, hätte jeder Lektor (statt Luther) auf 42 Zeilen zusammengestrichen. So aber erfüllte sich Montaignes Prophezeiung: „Mancher, der es auf keine andere Weise geworden wäre, wird durch sein Unglück berühmt werden.“

Nach den Pointen wird man auch die Spannungsbögen in den alttestamentarischen Texten vergeblich suchen. Mehr noch, diese Texte besitzen überhaupt keine Form. Es sind formlose Haufen, kleinere oder größere, was stets beliebig bleibt, weil kein inhärentes Maß entwickelt wird. Sollten sie aber zumindest ein Strukturprinzip besitzen, dann das primitivste, das wir kennen: die Reihung. Und und und, geht es da. Werden dem Autor die vielen Unds selber verdächtig, greift er dreist nach dem Aber – aber nicht etwa, um einen Widerspruch oder einen Gegensatz anzuzeigen, sondern um nun der Abwechslung halber die Abers ganz im Sinne der Unds anzuhäufen. „Und die Kinder Israel kehrten um von dem Nachjagen der Philister und beraubten ihr Lager. David aber nahm des Philisters Haupt und brachte es gen Jerusalem; seine Waffen aber legte er in seine Hütte. Da aber Saul David sah ausgehen wider den Philister, sprach er zu Abner ...“

Ausgerechnet zu Abner! Hier zeigt sich zudem, daß das alte Hebräische offenbar noch nicht die Möglichkeit bot, ver-schiedene Zeiträume, ob im Rück- oder Vorgriff, gram-matisch deutlich zu machen. Zu allem Unglück soll es nach Auskunft verschiedener Theologen nahezu unübersetzbar sein. Deshalb wurde die Bibel bis heute in rund 1.300 Sprachen übersetzt. Da in etlichen dieser Sprachen noch einmal zahlreiche Übersetzungen miteinander wetteifern, dürfte sich die Bibel mehr als 2.000 Varianten oder Exegesen erfreuen. So weit es das Alte Testament betrifft, hat dabei noch kein ÜbersetzerInnenauge auch nur den Zipfel eines Urtextes erblickt. Alles beruht auf Abschriften von Abschriften oder auf Protokollen von Erzählungen – um nicht von Erdichtungen zu sprechen. Dem Göttinger evangelischen Theologieprofessor Gerd Lüdemann zufolge übersteigt der geschichtliche Wahrheitsgehalt des Alten Testamentes keine 5 Prozent; beim Neuen Testament sind es immerhin schon 15.

Da Lügen bekanntlich kurze Beine haben, fällt Hasenfüßen auch das folgende auf. Während im Alten Testament unablässig von Heldentaten oder Verbrechen die Rede ist, halten sich seine Autoren durchweg bedeckt. Sie beziehen nie Stellung. Sie erzählen nicht nur unparteiisch, sondern geradezu unbeteiligt. Ihre Feststellungen, was dem Herrn gerade gefallen und was ihm gerade nicht gefallen habe, sind wertloser als Stroh. „Und Salomo tat, was dem Herrn übel gefiel, und folgte nicht gänzlich dem Herrn wie [schon] sein Vater David.“ Das wird so hingenommen – gerade so wie die Männer und Frauen gestern in einer Gasse durchs Rote Meer ritten, heute Manna empfangen, morgen in Wolken von Heuschrecken ersticken. Es wimmelt von Widersprüchen und Aberwitzen, doch sie bleiben so unkommentiert wie unsortiert.

Diese Standpunktlosigkeit verwundert umso mehr, als ja die Erzähler der Geschichte des Volkes Israel Rückblik-kende sind; das Erzählte trug sich vor mehr oder weniger Generationen zu. Bedenken wir das sprichwörtliche Biblische Alter, das all die Noahs (950) und Jakobs (147) erreichten, war der Abstand wahrlich groß genug. Ein Rückblick, sollte man meinen, wäre ein willkommener Anlaß, das zu Erzählende zu ordnen und zu bewerten, somit Schlüsse und Lehren aus ihm zu ziehen. Puste-kuchen! Es gibt im gesamten Alten Testament höchstens zwei oder drei Dutzend Verse, denen bescheinigt werden könnte, sie enthielten so etwas Ähnliches wie eine Erkenntnis. Die Sprüche Salomos, angeblich von der Weisheit handelnd, sind ein Haufen – eine nicht ans Ende kommende Spur von Spreu. Reihung statt Durchdringung! lautet das unsichtbare Motto, das selbst noch bis zu den Ufern von Marlene Streeruwitz’ Bewußtseinsstrom drang.

So sind wir nach allem nicht verblüfft, wenn sich die grausamen und grotesken Wirren, die uns das Alte Testa-ment auftischt, bis heute wiederholen. Zur Entspannung empfiehlt die Redaktion Darius Milhauds Suite Jakobs Träume. Darin führen vier Streicher und eine Oboe vor, wie spannend und beruhigend Ordnung ist. Milhaud degradiert die Wortschwälle des Alten Testaments zur Fußnote.
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