Samstag, 23. Juni 2012
In den Fußstapfen Lajewskis
Eine Vorfassung („Wandervögel und Raubwürger“) erschien 1998 in der Frankfurter Rundschau



Ich schließe mein Fahrrad an einer Milchkannenbank an. Die umliegenden bewaldeten Hügel dürften mit Wohlgefallen auf dieses kleine nordhessische Dorf blicken. Pfingstrosen nicken mir durch Bohnenstangen und Staketenzäune schmatzende Küsse zu. Alte Menschen fegen die Straße oder den Hof, wo der Kettenhund, auf buckligen Basaltsteinen dösend, gleichwohl die Ohren aufstellt. Hier und dort spielen Kinder. Bei meinem Nahen werfen sie sich vielsagende, von Kichern begleitete Blicke zu, weil ich in Kniebundhosen stecke und zudem einen Wanderstock schwinge, obwohl mein Haar noch gar nicht grau ist. Mich zu hänseln wagen sie freilich nicht.

Ein Wanderstock läßt sich mit zwei kurzen Drähten an jeder Fahrradquerstange befestigen. Er hat auch noch andere Vorteile. So beugt er etwa vorzeitigem Ergrauen oder einer verkrümmten Haltung vor, sofern man sich entschlossen hat, seinem Fahrrad ein Päuschen zu gönnen. Die kleine Dorfkirche liegt hügelan. Sie wurde aus hellem Sandstein gemauert und wirkt ungewöhnlich schlicht. Ein Blick durch die weiß gestrichenen Sprossenfenster ins Innere bestätigt diesen Eindruck. An den ebenfalls weiß getünchten Wänden sehe ich kein einziges Bild. Was die Winzigkeit angeht, brächte man in dieser Kirche gerade einen Snookertisch unter, der rund zwei mal vier Meter mißt und ringsum noch anderthalb Meter Platz zum Stoßen haben sollte – das wäre dann sozusagen der Queueraum der Kirche.

Der Friedhof schlägt mir allerdings mit den üblichen polierten Granitfäusten ins Gesicht. Das nimmt mir die Lust, nach solchen interessanten Namen wie Sophie Austermühlen oder Alfons Schönknecht zu forschen. Stattdessen folge ich einem zerfurchten Fahrweg, der mich in ziemlich steilem Anstieg zum Waldrand führen wird. Für solche Besteigungen ist ein Wanderstock schon die halbe Miete. Er setzt sich automatisch als Hinterbein ein, sodaß man trotz der Überbeanspruchung Augen und Gedanken schweifen lassen kann.

Die kleine Kirche geht mir nicht aus dem Sinn. Ihr fünftes Fenster sitzt zwischen der Eingangstür und dem erfreulich schnörkellosen Dachreiter, in dem die Glocke hängt. Hinter diesem Fenster liegt eine schmale Empore, auf der ich ein Harmonium erspähte. Das könnte ich übernehmen und hätte noch immer Platz für mein Bett und ein Schreibbrett. Vielleicht ginge ich als Deutschlands erster Kirchturmschreiber in die Lexika ein.

Im Augenblick wechsele ich den Arm, der meinen Wanderstock führt. Dieser ist übrigens selbst bei ebener Strecke zur Entlastung geeignet. Er überträgt einen Teil der Körperlast von den Beinen auf die Arme, wodurch er vor allem die Beanspruchung der viel zu oft geprüften Bandscheiben mildert. Sie sind ja unser aller Kreuz. Häufig gewechselt, dient der Wanderstock zugleich der Kräftigung von Arm- und Schultermuskulatur, obwohl man „nur“ geht.

Ein nächster Vorteil stellt sich heraus, nachdem ich den Waldrand erreicht habe. Um die Aussicht ins Tal genießen zu können, sehe ich mich nach einem Sitzplatz um. Dort unter der Kiefer scheint ein Baumstammstück oder dergleichen zu liegen. Da es von Schöllkraut und Brenn-nesseln überwuchert ist, setze ich meinen Wanderstock als Machete ein. Mein Gott – fast hätte er Funken geschlagen! Es ist ein Stück Stein. Offenbar handelt es sich um eine durchaus museumsreife Walze, die schätzungsweise zwischen den beiden Weltkriegen im Wegebau eingesetzt wurde. Es muß bereits Zugmaschinen gegeben haben, denn an die geschmiedete Deichsel hat man wohl kaum ein Pferd geschirrt: wo die Eisengabel zusammenläuft, sitzt eine Öse für einen Zapfen. Die Walze selber besteht aus rötlichem, nun stark verwitterten Sandstein, der durch zwei eiserne Reifen und mehrere sie verbindende schmale Eisenbänder eingefaßt worden ist. Auch die Reifen weisen im Durchmesser ein sie verstrebendes Band auf. Dadurch ließen sich in ihrem Mittelpunkt und den entsprechenden Löchern in der Sandsteinwalze die Zapfen anbringen, von denen die Deichsel gehalten wird. Alle Eisenteile sind stark verrostet.

Was wird wohl diese Walze wiegen? Am liebsten nähme ich sie mit nach Hause, da mir jede Vergeudung zuwider ist, doch dafür dürfte sie zu schwer sein. So begnüge ich mich damit, sie zu vermessen. Zu diesem Zweck ist der einkerbbare Wanderstock nicht unbedingt erforderlich; Handspanne reicht. Zu Hause wird sich herausstellen, die Walze mißt im Durchmesser 76, in der Länge oder Höhe 100 Zentimeter. Allerdings finde ich im Brockhaus nur die Dichte von Steinkohle (1,3), Glas (2,5) und Eisen (7,86), nicht von Stein oder gar rötlichem Sandstein. Ich belasse es deshalb bei der Vermutung, ohne Eisenteile wiege die Walze rund eine Tonne. Das hieße, nach der Formel Dichte = Masse : Volumen betrüge die von Sandstein ungefähr 2,2.*

Hart ist er auch. Die Wanderkarte als Polster benutzend, lasse ich mich auf der ziemlich kühlen Sandsteinwalze nieder, verzehre meine Stulle und betrachte dabei das hübsche Tal. Jedesmal, wenn es auf der Landstraße von einem Motorrad durchgesägt wird, kaue ich geräusch-voller, um meine Trommelfelle zu schützen. O Segen des Wegebaus! Auf einem Foto sah ich einmal eine sehr ähnliche Steinwalze, die um 1940 bei Straßenbauarbeiten in Ravensbrück eingesetzt worden war. An deren ausladende, geschmiedete Deichsel hatten sich weibliche KZ-Häftlinge zu spannen. Vielleicht war auch die am 24. Februar 1942 eingelieferte Jüdin Marie Waigner unter diesen gewesen. Die SS hatte sie und ihren Mann Emil zunächst aus der Prager Villa Waigner in der Bubentscher Straße 55 vertrieben. Zu den dortigen „Nachmietern“ zählte ab 1. Oktober 1944 das Ehepaar Hanns Martin und Waltrude Schleyer. Marie Waigner endet in der Gaskam-mer von Auschwitz. Ihr Mann ist schon vor ihr in Maut-hausen umgekommen.

Ich trenne mich von meinem makaberen Fund und folge einem Weg, der mich wieder ins Tal führen wird. Ein Bach, recht wirkungsvoll von Weiden, Erlen und glitzernden Silberpappeln gesäumt, schlängelt sich dort unten windungsreich durch die Wiesen. Doch meine Laune sinkt im Niedersteigen, weil dabei der Lärm eines Traktors anschwillt. Er steht mit laufendem Motor im Schatten eines von allen Vögeln entvölkerten Feldgehölzes. Am Traktor fallen ein großer, aufgebäumter Behälter und zwei riesige, mit zahlreichen Spritzdüsen besetzte Ausleger auf. Ein Fahrer ist nicht auszumachen. Statt nach dem Stand der giftigen Flüssigkeit zu sehen, die den kümmernden Weizen aufpäppeln soll, schlägt er vielleicht selber gerade sein Wasser ab.

Ich ertappe ihn jedoch auf der Sonnenseite des Feldge-hölzes bei einem Nickerchen. Die Junisonne brennt, er liegt eingepennt im Gras und läßt den Motor laufen! Ich unterdrücke meinen Zorn und tippe den dösenden Landwirt mit der Spitze meines Wanderstocks ans wahrlich gut gemästete Rippenfell. Dadurch schrickt er auf. Ich weise hinters Feldgehölz: „Wollen Sie die Luft verbessern, die man zum Schlafen braucht?“ Er winkt gelangweilt ab: „Ich mache gleich weiter.“ Schon sinkt er wieder ins Gras und überläßt mich meiner Wanderlust.

Gegen solche Dickschädel, die vom Landwirtschafts-ministerium mit jährlich 15 oder 20 Milliarden Euro subventioniert werden, ist ohnehin weder ein Kraut noch ein Wanderstock gewachsen. Man kann nur hoffen, sie gehen an ihren befremdlich geschmacklosen Feldfrüchten auch selber ein. Dies sage ich mir, während ich mit Hilfe meines Wanderstocks durch einen unweit des Feldge-hölzes gelegenen Stacheldrahtzaun schlüpfe, um den Weg zum Bach abzukürzen. Die Wanderlust hat mich inzwischen verlassen. Und auch der Bach, der mir aus der Ferne durchaus reizvoll, fast betörend erschien, entpuppt sich nun als Kloake. Von seinem Bett ist nichts zu sehen. Die Ufer mit ihren Brennesselhainen sind von Plastik-säcken, Autoreifen, Wegwerfflaschen, Müll übersät. Es ist ein Müll, der sich in den prächtigen Farben des ausge-wanderten Eisvogels gefällt. Wenn sich hier etwas fischen läßt, dann Schwermut.

Eigentlich kann es doch nicht die Natur sein, die man heutzutage real vor Augen hat, die mich beim Wandern noch immer auf sehr anrührende Weise besticht. Dazu ist ihr Zustand zu jämmerlich und beklagenswert. Es dürften vielmehr die Bilder aus meinem Inneren sein, die mich „vor der Natur“ noch immer betören. Sie stammen ver-mutlich aus meiner Kindheit. Nicht die Natur bezaubert mich, sondern die Erinnerung an sie.

Und warum dann noch wandern – warum nicht gleich in literarischen Gefilden bleiben? Wem Gott will rechte Gunst erweisen, dem schickt er rechtzeitig die richtigen Bücher. Wie armselig schneidet doch die Natur ab, hält man ihr eine Novelle von D. H. Lawrence oder Anton Tschechow vor! Dort entfaltet sie ihre Aura, die wir realiter längst mit unserer größenwahnsinnigen Maschinerie zerfetzt haben. Tschechow selber schien es bereits zu ahnen. In seiner Novelle Das Duell, vor über 100 Jahren geschrieben, macht sich eine kleine Gesellschaft in Kutschen zum Picknick ins Gebirge auf. Die Schluchten wecken große Gefühle. Lediglich Lajewski murrt: „Diese beständige Naturschwärmerei ist nur ein Armutszeugnis für die eigene Phantasie. Verglichen mit den Bildern meiner Phantasie sind all die Bäche und Steine hier der pure Dreck, nichts weiter.“

* Nicht schlecht geschätzt: Wikipedia gibt 2,4 an



Zum Thema Natur siehe auch
alle vier mittleren Beiträge des sechsten Bandes
Duhm zur Barbarei: Absatz in der Beitragsmitte
>Jagd / Landwirtschaft / Pferde / Vegetarismus
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